Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Osteuropa Polen vor den Sejm-Wahlen

Im Vorfeld der Wahlen greift die Regierung zu scharfen Mitteln.

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Teilnehmer des Großen Marsches gegen die Regierung gehen am 4. Juni 2023 in Warschau, Polen, durch die Straßen der Hauptstadt.
Am 4. Juni gingen in Warschau eine halbe Million Menschen auf die Straße, um gegen die Politik der Regierungspartei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) zu protestieren. Foto: IMAGO / NurPhoto

Die Wahlen zum polnischen Sejm finden voraussichtlich am 15. Oktober statt. Im Vorfeld verschärft die Regierung bereits seit Monaten den Ton. Nun, da die Umfragen ein Patt zwischen Regierung und Opposition vorhersagen, die Regierung also um ihre Mehrheit fürchten muss, greift diese zu scharfen Mitteln.

Am 4. Juni gingen in Warschau eine halbe Million Menschen auf die Straße, um gegen die Politik der Regierungspartei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) zu protestieren. Die Demonstration waren ursprünglich nur von der größten Oppositionspartei, der liberalen «Bürgerplattform» (PO), geplant worden. Dies änderte sich, als das von der PiS dominierte Parlament eine Woche vor der geplanten Demonstration eine parlamentarische Kommission mit Sonderbefugnissen einsetzte.

Diese Kommission hat zugleich die Funktionen von Anklage und Gericht, was jedem demokratischen Rechtsverständnis widerspricht. Sie soll untersuchen, ob politische Entscheidungen in der Vergangenheit unter «russischem Einfluss» getroffen worden sind. Es ist offensichtlich, dass das Hauptziel dieser Kommission die Diffamierung des PO-Vorsitzenden, Donald Tusk, sein soll, der von 2007 bis 2014 Ministerpräsident Polens war und heute die Opposition anführt. Die Kommission besitzt sogar die Befugnis, Personen von öffentlichen Ämtern auszuschließen. Die meisten unabhängigen Medien und Politiker*innen der Opposition bezeichnen das Gesetz zur Einrichtung der Kommission deshalb als «Lex Tusk». Und in der Tat liegt der Verdacht nahe, dass die Ergebnisse der Untersuchung bereits feststehen und als Kampfmittel im Wahlkampf genutzt werden sollen.

Dr. Achim Kessler ist Leiter des Warschauer Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dr. Piotr Janiszewski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Warschauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Die Verabschiedung des Gesetzes hat die Gegner der PiS-Politik mobilisiert und zusammengeführt; die Rekordzahl der Demonstrationsteilnehmer*innen unterstreicht dies. Nach dem Beschluss des Gesetzes hatten die Vorsitzenden der meisten anderen Oppositionsparteien gar keine andere Wahl, als zu dieser Demonstration aufzurufen und selbst an ihr teilzunehmen, um ihre Solidarität gegen diesen antidemokratischen Akt der Regierung zu bekunden.

Sparpolitik führte zum Wahlsieg der PiS

Seit 2005 wird die polnische Politik von zwei Parteien dominiert, der nationalkonservativen PiS und der liberalkonservativen PO. Die Vorsitzenden beider Parteien, Jarosław Kaczyński und Donald Tusk, sind erbitterte Rivalen, die von den meisten ihrer Anhänger*innen verehrt werden und bei den Wähler*innen der rivalisierenden Partei verhasst sind. Die PiS übernahm 2015 die Macht von der PO, bei den Wahlen 2019 wurde ihre Mehrheit bestätigt.

Der Wahlerfolg der PiS lässt sich auf zwei Hauptfaktoren zurückführen. Der eng mit dem Katholizismus verbundene, soziale und kulturelle Konservatismus genießt in Polen seit jeher großen Rückhalt, insbesondere außerhalb der städtischen Gebiete. Deshalb hat die Unterstützung der katholischen Kirche der Regierungspartei sehr genützt. Das allein würde jedoch nicht ausreichen, um mehrere Wahlen nacheinander zu gewinnen.

Im Wahlkampf 2015 machte die PiS zahlreiche sozialpolitische Versprechen, die sich an wirtschaftlich bedrohte Familien und Berufstätige richteten. Für die bedrohliche soziale Situation vieler Menschen verantwortlich war die Kürzungspolitik der PO-Regierung und in früheren Wahlperioden auch der sozialdemokratischen Partei «Bund der Demokratischen Linken» (SLD), der Nachfolgepartei der kommunistischen Partei («Polnische Vereinigte Arbeiterpartei») und Vorgängerpartei der 2021 gegründeten «Neuen Linken».

Die PiS erreichte viele Wähler*innen vor allem durch das Versprechen eines Kindergeldprogramms «500+» (500 polnische Zloty, mehr als 100 Euro, monatlich für jedes Kind) und die Ankündigung der Rücknahme des Gesetzes zur Anhebung des Rentenalters auf 65 Jahre, das die Regierung Tusk 2012 eingeführt hatte. Indem sie ihre Versprechen nach den Wahlen 2015 tatsächlich einhielt und ihren Schwerpunkt auch auf einige andere soziale Themen legte, konnte die PiS ihre Wählerschaft dauerhaft an sich binden, denn die soziale Situation vieler Menschen, vor allem in ländlichen Regionen, verbesserte sich dadurch tatsächlich.

Kampf um soziale und Menschenrechte

Dies hat jedoch an der weit verbreiteten Kritik an der PiS innerhalb und außerhalb Polens nichts geändert. Denn die «Sozialpolitik» der PiS galt immer nur einem Teil der Bevölkerung und hielt sie nicht davon ab, die öffentliche Daseinsvorsorge zu privatisieren und zu schwächen. Harsche Kritik gibt es aber auch an den zunehmenden autoritären Tendenzen sowie an einer diskriminierenden Politik gegenüber Frauen, queeren Menschen und Migrant*innen. Das polnische Antiabtreibungsgesetz, das durch ein Urteil des von der PiS dominierten Verfassungsgerichts noch drakonischer wurde, war die Ursache für den Tod von Frauen, die in Krankenhäusern starben, weil Ärztinnen und Ärzte Angst davor hatten, vor Gericht gestellt zu werden, sollten sie einen Schwangerschaftsabbruch ermöglichen.

Angesichts der Wirtschaftskrise und der Inflation von fast 20 Prozent fällt es der PiS-Regierung immer schwerer, ihr Image aufrechtzuerhalten, dass sie in der Lage ist, die Wirtschaft effizient zu fördern und gleichzeitig neue Sozialleistungen einzuführen. Und auch der Konflikt der PiS-Regierung mit der EU über das polnische Justizsystem, dessen Autonomie die PiS seit acht Jahren untergräbt, ist kostspielig: 35,4 Milliarden Euro an Zuschüssen und Darlehen aus dem EU-Konjunkturprogramm wurden von der EU wegen des Konflikts nicht ausgezahlt – Geld, dass dringend erforderlich wäre, um die sozialen Folgen der Wirtschaftskrise durch Pandemie und Ukraine-Krieg anzugehen. Hinzu kommt, dass der Plan der PiS-Regierung, Polen zur größten militärischen Macht Europas zu machen, allein in diesem Jahr 27,5 Milliarden Euro verschlingt, das sind rund vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Durch diese enormen finanziellen Belastungen sind die Möglichkeiten der Regierung, weitere soziale Maßnahmen einzuführen, stark eingeschränkt. Sie hatte allerdings angekündigt, die Kreditaufnahme für das laufende Jahr deutlich zu erhöhen.

Alternativen zur PiS

Kaczyński und seine Partei stehen vor der konkreten Gefahr, die kommenden Wahlen zu verlieren. Vieles hängt jedoch von der politischen Opposition ab. Seit Donald Tusk 2021 in die polnische Politik zurückkehrte (er übernahm 2014 das Amt des EU-Präsidenten), konnte die PO einen Aufschwung verzeichnen und sich die Position als wichtigste Oppositionspartei sichern. Falls die PiS in diesem Jahr die Macht verlieren sollte, wird eine neue Regierungsmehrheit wahrscheinlich aus drei politischen Kräften bestehen: Neben der PO wären dies die «Koalition des Dritten Weges» und die «Linke».

Der «Dritte Weg» ist ein neu gebildetes Bündnis aus der christdemokratischen «Polnischen Volkspartei» (PSL) und «Polen 2050». Die PSL gilt traditionell als Vertreterin der polnischen Bauernschaft und ist fest im politischen System verankert. Sie war seit den 1990er Jahren in vielen Regierungskoalitionen vertreten und ist in den Regionen und Kommunen traditionell sehr stark. «Polen 2050» ist eine neue liberale Partei, die vom bekannten Journalisten, Schriftsteller und Fernsehmoderator Szymon Hołownia gegründet wurde, nachdem er bei der Präsidentschaftswahl 2020 fast 14 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Diese «Vernunftehe» erklärt einerseits, die PiS-Regierung beenden zu wollen; sie will aber andererseits eine Mitte-Rechts-Alternative für vormalige PiS-Wähler*innen sein, die von der Partei enttäuscht sind, aber nicht für Tusk stimmen wollen, dessen Image wegen seiner Sozialkürzungen bei vielen Menschen weiterhin schlecht ist.

Die politische Linke in Polen besteht hauptsächlich aus zwei Parteien: der sozialdemokratischen «Neuen Linken» und ihrem weiter links stehenden Juniorpartner, der «Vereinigten Linken» (Razem). Beide Parteien hatten bei der letzten Wahl auf einer gemeinsamen Liste kandidiert und bilden im Sejm die gemeinsame Fraktion «Lewica» (Linke). In den letzten Jahren hat die Linke darum gekämpft, sich als eigenständige Oppositionsstimme gegen die PiS zu positionieren, indem sie der Regierung sozialpolitische Versäumnisse vorwarf, beispielsweise die Unterfinanzierung und anschließende Aushöhlung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Gleichzeitig ist die Linke die stärkste Stimme für die Rechte von Frauen, queeren Menschen und Migrant*innen sowie gegen die enge Verbindung zwischen Staat und katholischer Kirche.

In den vergangenen Monaten gab es intensive Diskussionen über die Aufstellung einer gemeinsamen Wahlliste aller Oppositionsparteien, ähnlich wie bei den Parlamentswahlen in Ungarn im vergangenen Jahr oder in der Türkei in diesem Jahr. Ende Mai hatte es den Anschein, dass diese Debatten ohne Ergebnis beendet seien. Während die PO ihre Bereitschaft erklärte, eine gemeinsame Liste zu bilden, befürchteten die kleineren Parteien, durch die Kandidatur auf einer gemeinsamen Liste von Tusks PO marginalisiert zu werden. Es bestand auch die Sorge, dass eine solch breite gemeinsame Liste für viele Wähler*innen, sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite, inakzeptabel sein könnte.

Doch die starke Polarisierung der polnischen Politik, die durch undemokratische Maßnahmen wie die «Lex Tusk» noch verstärkt wird, begünstigt die PO als größte Oppositionspartei. Während der Kundgebung am 4. Juni skandierten viele Menschen den Slogan «Vereinte Opposition!». Die ersten Umfragen, die nach den Protesten veröffentlicht wurden, zeigen, dass die PO zwar an Unterstützung gewinnt, allerdings auf Kosten ihrer potenziellen Regierungspartner, so dass das Oppositionslager insgesamt gegenüber der Regierung nicht zulegen konnte. Sollten ihre Umfragewerte weiter sinken, werden «Dritter Weg» und «Lewica» kaum eine Alternative zur Kandidatur auf einer gemeinsamen Liste mit der PO haben . Die Frage ist jedoch, inwieweit sie ihre Forderungen dann noch prominent im Wahlkampf vertreten und, im Falle einer gemeinsamen Regierungsbildung, gegen Tusk durchsetzen können.

Bei all dem gibt es noch einen weiteren politischen Akteur, der die Dinge erheblich kompliziert: die «Konfederacja», ein Konglomerat aus nationalistischen, rechtsradikalen und libertären Parteien, das es vor vier Jahren nur knapp ins Parlament geschafft hat. Jetzt wächst ihre Unterstützung und sie erreicht in manchen Umfragen über zehn Prozent. Dies ist in erster Linie auf ihre Forderung nach Steuersenkungen und ihre lautstarke Ablehnung der «westlichen political correctness» zurückzuführen. «Konfederacja» scheint jedoch auch davon zu profitieren, dass sie die einzige Kraft im Parlament ist, die Vorbehalte gegenüber Polens politischer und militärischer Unterstützung für die Ukraine und der Politik der «offenen Türen» gegenüber ukrainischen Flüchtlingen äußert. Viele glauben, dass die «Konfederacja» der PiS letztlich die Stimmen verschaffen könnte, die sie für eine parlamentarische Mehrheit benötigt. Als Ergebnis stünde eine weitere Rechtsentwicklung der Regierungspolitik zu befürchten.

Wie weiter?

Wie die Wahlen im Oktober ausgehen werden, bleibt spannend. Die Umfragewerte beider Lager liegen dicht beieinander. Klar ist jedoch, dass die Polarisierung in den nächsten Monaten stark zunehmen wird – zum Schaden derjenigen, die von der Regierung ohnehin bereits ausgegrenzt werden.

Fest steht außerdem, dass der Wahlausgang großen Einfluss auf die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni nächsten Jahres haben wird. Denn infolge des russischen Krieges gegen die Ukraine ist das Gewicht Polens in Europa deutlich gewachsen – und die PiS-Regierung nutzt dieses Gewicht, um ihre Themen auf die europäische Agenda zu setzen. Sie dürfte dies nach einem Wahlerfolg in Polen im Europawahlkampf mit noch größerer Energie tun. Für Polen und Europa hängt also sehr viel ab vom kommenden Urnengang.