Interview | Soziale Bewegungen / Organisierung - Geschlechterverhältnisse - Queer-Trans «Queer ist eine Form des Schauens aus der marginalisierten Position»

Atlanta Beyer über queere Identität, queere Theorie und queere Kämpfe heute

Information

Atlanta Beyer arbeitet bei der Antidiskriminierungsstelle der Schwulenberatung Berlin in einem Projekt, das die Anti-Diskriminierungs-Beratungsstrukturen bundesweit stärken möchte, sodass LGBTQI Personen oder queere Menschen in bislang unterversorgten Regionen stärkeren Zugang zu solchen Angeboten haben. Sie hat in kulturwissenschaftlicher Geschlechterforschung zum Thema «Queer» promoviert.

Was heißt «queer» heute?

Details

Atlanta Ina Beyer ist Queerforscher*in und Mitarbeiter*in der Schwulenberatung Berlin. Sie hat eine Dissertation zu queerem Punk, queeren Utopien und queerer Ästhetik geschrieben. Darin kehrt sie bis in die frühen 1990er Jahre zurück, um eine neue Perspektive auf das kritisch-emanzipatorische Potenzial von queer heute zu entwickeln.

Im Interview erklärt Atlanta, woher der Begriff queer eigentlich kommt und welche Kraft er als politisches Theoriekonzept hat.

Weitere Informationen:

- BlackYouthProject100
- Cathy J. Cohen
- Dossier «Bite Back!»

RLS: Atlanta, was heißt queer eigentlich heute?

Atlanta: Zum einen ist mit queer eine Reihe von Identitäten oder gesellschaftlichen Minderheitengruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung diskriminiert werden. Zum anderen meint queer aber auch eine bestimmte politische Praxis, und zwar im Sinne eines Durchquerens und Durchkreuzens und Neu-Verknüpfens von politischen Identitäten.

Diese Bedeutung hat sich historisch ergeben: Der Begriff queer entstand vor allem Ende der 80er Jahre, Anfang der 90er Jahre aus dem Aids-Aktivismus in den USA. In einer Zeit, in der verschiedene gesellschaftliche Gruppen, meist Randgruppen, besonders stark von der Aids-Politik der damaligen US-Regierung betroffen waren.

Das betraf zum einen Homosexuelle, aber auch Schwarze Menschen, Sexarbeiter*innen, Leute die Drogen nehmen und Nadeln mit anderen Menschen tauschen. Und diese gesellschaftlichen Gruppen wurden aufgrund eines vermeintlich riskanten Verhaltens als stärker anfällig für eine HIV-Infektion betrachtet. Und die damalige Reagan-Regierung hat lange Zeit eigentlich gar nicht auf Aids als gesellschaftliches Problem reagiert, so dass dadurch plötzlich sehr unterschiedliche Gruppen zusammenkamen, die vernachlässigt wurden mit ihren Folgeproblemen von HIV und Aids und eine sogenannte Regenbogenkoalition gebildet haben.

Und da wurde der Begriff queer angeeignet für eine Form des Aktivismus, durch den letztlich eine Form von Koalitionspolitiken entstanden sind. Dadurch wurden bisherige politische Identitäten durchkreuzt und unter dem Begriff queer  neu zusammengeführt. Und diese Bedeutung hat sich bis heute auch auf eine Weise gehalten. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass, wenn von queer die Rede ist, oft ganz unterschiedliche Lebenslagen oder Situationen von queeren Menschen zusammenkommen: trans* Menschen, Geflüchtete, Queers - es geht zwar nicht mehr um Aids, aber es geht immer noch um eine Verknüpfungsperspektive.

Welche Bedeutung haben queere Kämpfe für linke Kämpfe heute?

Ich habe ja schon den Aspekt der Koalitionspolitiken angesprochen und ich möchte mal ein aktuelles Beispiel herausheben, an dem man das gut erklären kann. Und das ist die Black Lives Matter-Bewegung. Diese Bewegung wird von Schwarzen Feminist*innen, von Frauen, von queeren Aktivist*innen angeführt. Und die machen das anhand einer Analyse, die aus dem Schwarzen Feminismus kommt. Diese Analyse geht davon aus, dass man eine Form des Handelns finden kann, die für alle Menschen Verbesserungen schafft, wenn man die am stärksten marginalisierten Gruppen in den Mittelpunkt einer Analyse der Machtverhältnisse rückt.

Und ich hatte ja gesagt, dass queer auch die Bedeutung eines Querens und Durchkreuzens von Identitäten hat. Und das finde ich besonders interessant. Diesen Ansatz könnte man auch mit dem Begriff Intersektionalität beschreiben. Das heißt, dass es in der Black Lives Matter-Bewegung  Projekte gibt, die versuchen, Schwarze Politiken von den marginalisierten Positionen aus zu denken, wie zum Beispiel von Schwarzen Frauen oder schwarzen Queer und trans* Personen. Interessant finde ich beispielsweise das Projekt BlackYouth100 oder auch die Theoretikerin Carrie Cohen, die viel zu «Queer als Allianzpolitik» geschrieben hat.

Cohen bezeichnet sozusagen queer als eine Form der Linse, eine Form des Schauens auf politische Identitäten aus der marginalisierten Position. Und das finde ich wichtig, gerade vor dem Hintergrund der derzeitigen Auseinandersetzungen, wo viel Kritik an Identitätspolitik geäußert wird und es eine Spaltung gibt, zwischen Identitätspolitiken, die als nicht so wichtig abgetan werden und vermeintlich universalen Politiken, die alle betreffen.  (…) Ich finde diese Trennung gefährlich. Ich finde, da fehlt auch etwas in einer Machtanalyse und ich finde, dass queer da einen produktiven Ansatz bietet, das Universale von den Rändern her anders und komplexer zu denken.

Was bedeutet das konkret? 

Meine These ist, dass queer das Potenzial hat, verschiedene Kämpfe zusammenzuführen anstatt zu spalten. Das ist gerade angesichts des Aufstiegs der globalen Rechten eine der zentralen Herausforderungen für linke Bewegungen. Die Frage ist: wie kommen wir zusammen? Dazu ist es eben wichtig, die Bedarfe verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu sehen und: sie verbunden zu sehen.

Ein Beispiel: Alle Menschen brauchen Zugang zu einem bezahlbaren, an ihren Bedürfnissen orientierten Gesundheitssystem. Dafür lohnt es sich, gemeinsam zu streiten. Das heißt auch, die spezifischen Bedarfe von trans* Menschen darin zu sehen. Ein anderes Beispiel: Alle Menschen brauchen Zugang zu bezahlbarem Wohnraum. Das heißt auch, die spezifischen Bedarfe von Menschen, die auf dem Wohnungsmarkt besonders stark zu kämpfen haben, beispielsweise Queers ohne Wohnungen oder geflüchtete Queers, die evtl. kein Aufenthaltsrecht haben, zu sehen und besonders zu berücksichtigen.

Welche gesesellschaftlichen Auseinandersetzungen um queere Lebensweisen sind zur Zeit von besonderer Bedeutung?

Es gibt aktuell sehr unterschiedliche Kämpfe, die um queere Lebensweisen geführt werden, weil die Situation von queeren Menschen global sehr unterschiedlich ist. Es gibt ja immer noch viele Länder, in denen beispielsweise Homosexualität unter Strafe steht und auch mit der Todesstrafe verfolgt wird. Im globalen Norden hingegen sind viele Rechte bereits errungen worden und da sehen die Kämpfe anders aus.

Kämpfe, die ich aktuell wichtig finde, sind beispielsweise der Zugang zu einer adäquaten Gesundheitsversorgung für trans* Menschen, ohne Pathologisierung.

Ein anderes Beispiel ist das Thema Flucht und LSBTQI, beispielsweise durch den Krieg in Syrien, durch den Krieg in der Ukraine. Immer wieder gibt es größere Wellen von geflüchteten Menschen, unter denen natürlich auch queere Menschen sind, die auch nach Deutschland kommen und die es hier besonders schwer haben.

Die andere Seite von Kämpfen, die ich sehr gefährlich finde, sind die Angriffe auf alles was nicht der heterosexuellen Norm entspricht. «Gender Gaga»,«Transgender-Lobby», «Genderideologie» - wir kennen diese Kampfbegriffe der globalen Rechten. Das gilt von Brasilien über Polen, aber eben auch bis Deutschland, wo die AfD versucht, die heterosexuelle Kleinfamilie aus Vater, Mutter und möglichst mehreren Kindern als Keimzelle der Nation zu etablieren, verbunden mit gezielten Angriffen auf geschlechtliche Minderheiten.

Und es gibt Debatten, die sich bis in den Feminismus hineinziehen. Das sehen wir bei den Diskussionen um das Selbstbestimmungsrecht, wo ja ein Teil sogenannter trans-exklusiver radikaler Feministinnen versucht, den Zugang für trans* Frauen zu bestimmten Frauenrollen zu beschränken. Der Begriff Gender selbst wird auch manchmal als eine Art Kitt beschrieben, der verschiedene Akteure von der extrem Rechten über eine christlich motivierte Rechte bis zur bürgerlichen Mitte zusammenführt.

Ein anderes Beispiel, was gar nicht so stark rechts ist aber vielleicht verdeutlicht, was das für ein Konglomerat ist, ist der Angriff auf die Gender Studies. Der kommt zum Teil aus den Universitäten selbst und da braut sich einiges zusammen. Und gerade aus diesem Grund finde ich es noch gefährlicher, Identitätspolitik als ein eigenes Politikfeld zu beschreiben, das nicht wichtig ist. Ich finde, auf dem Feld von Geschlechterpolitiken findet gerade eine große Auseinandersetzung statt, die im Zusammenhang mit einer Gesamtverschiebung steht.