Hintergrund | Geschichte - Partizipation / Bürgerrechte - Krieg / Frieden - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina 30 Jahre Oslo: Die Zeit steht still – und schreit laut

Palästinensische Künstler*innen reflektieren den gescheiterten Friedensprozess in Videoclips

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Autorin

Katja Hermann,

Der palästinensische Präsident Yasser Arafat bei seinem historischen Händedruck mit dem israelischen Premierminister Yitzhak Rabin 1993 vor dem Weißen Haus, zusammengebracht von US-Präsident Bill Clinton.
Der palästinensische Präsident Yasser Arafat bei seinem historischen Händedruck mit dem israelischen Premierminister Yitzhak Rabin 1993 vor dem Weißen Haus, zusammengebracht von US-Präsident Bill Clinton. Foto: picture-alliance / dpa | Avi_Ohayon-Israeli_Government_Pr

Im September 2023 jährt sich die Verabschiedung der israelisch-palästinensischen Prinzipienerklärung zum 30. Mal. In der Erklärung von September 1993, die als Oslo-I-Abkommen bekannt wurde, bestätigte Israel die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als Vertreterin der Palästinenser*innen, während die PLO ihrerseits den Staat Israel anerkannte. Man verständigte sich auf den Aufbau einer palästinensischen Selbstverwaltung sowie auf den schrittweisen Abzug Israels aus den besetzten palästinensischen Gebieten, Westjordanland und Gazastreifen, innerhalb von fünf Jahren. Während dieser Übergangszeit sollten die besonders umstrittenen Themen wie die Grenzziehung zwischen Israel und dem palästinensischen Gemeinwesen, die Flüchtlingsfrage, der Status Jerusalems, die Zukunft der Siedlungen sowie Fragen der Sicherheit geklärt und ein abschließender Status auf der Grundlage der UN-Resolutionen 242 und 338 festgelegt werden.[1] Es waren hoffnungsvolle Zeiten, trotz aller Skepsis: Das Ende der seit 1967 währenden völkerrechtswidrigen Militärbesatzung und ein freies Palästina, schienen damals zum Greifen nahe.

Bekanntlich verstrich die fünfjährige Übergangsperiode, ohne dass die sogenannten Endstatusthemen geklärt wurden und spätestens mit der erfolglosen Verhandlungsrunde von Camp David im Jahr 2000 musste der Oslo-Prozess als gescheitert gelten. Verschiedene Gründe auf Seiten der Beteiligten haben zum Scheitern beigetragen und einige Aspekte wogen so schwer, dass sie den Prozess und auch alle anschließenden Versuche, die Verhandlungen wiederaufzunehmen bzw. andere Konfliktlösungsansätze zu finden, ad absurdum führten:  Ungeachtet der Abkommen hat Israel über Jahre hinweg Vereinbarungen und Zeitpläne blockiert und ignoriert. Es hat stattdessen systematisch den Bau von Siedlungen, Straßennetzen und Sperranlagen auf palästinensischem Gebiet fortgesetzt und ausgebaut. Damit wurden von Anfang an zentrale Grundlagen der Oslo-Abkommen, die besagen, dass während des Verhandlungsprozesses der Status des Verhandlungsgegenstandes nicht verändert werden dürfe, verletzt.[2] Es wurden Fakten geschaffen, die die Entwicklung eines palästinensischen Gemeinwesens verunmöglichte und das Szenario einer Zwei-Staaten-Lösung zunehmend unrealistisch werden ließ. Ein Konstruktionsfehler von Oslo war darüber hinaus, dass das Macht- und Kräfteverhältnis des Besatzungskontextes nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Es gab weder Monitoring- noch valide Sanktionsmechanismen für den Fall, dass Zeitpläne nicht eingehalten oder Vereinbarungen torpediert werden. Damit ignorierte man aktiv den Umstand, dass Verhandlungen in asymmetrischen Konfliktverhältnissen, wie hier zwischen einer Besatzungsmacht und einer Bevölkerung, die unter militärischer Besatzung lebt, ohne solche Mechanismen nicht funktionieren können.   

30 Jahre später dauert die Besatzung an und die Palästinenser*innen leben immer noch in einer völlig prekären Situation. Auch Millionen palästinensischer Geflüchteter und ihren Familien in der Diaspora fehlen jegliche Zukunftsperspektiven. Mehr noch: Die völker- und menschenrechtlich legitimen Ansprüche der Palästinenser*innen sind international weitgehend marginalisiert. In einigen Kontexten, vor allem in Deutschland, sind Palästinenser*innen mit einem gruppenbezogenen Rassismus konfrontiert, der ihre soziale und politische Teilhabe, ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten sowie ihr Alltagsleben massiv behindert.

Die Entwicklungen in Palästina nach dem Scheitern von Oslo sind ausführlich analysiert worden. Zusammenfassend stellt sich die heutige Situation in den besetzten Gebieten wie folgt dar:

Völkerrechtswidrige Besatzung * Fragmentierung der palästinensischen Gebiete und Gesellschaft * System der Apartheit [3] * Missachtung der Menschenrechte * Annexion von Land * Zerstörung und Enteignung von Häusern und Infrastruktur * Gewalt militanter Siedler*innen * Entfremdung zwischen palästinensischer Führung und Bevölkerung * Spirale von Gewalt und Gegengewalt * De-Legitimierung und Kriminalisierung kritischer Zivilgesellschaft * Doppelstandards in der internationalen politischen Bewertung der Situation * Keine Selbstbestimmung * Keine Gerechtigkeit * Kein Frieden *

Die Zukunftsaussichten sind dystopisch – mit einem hohen Risiko einer weiteren Gewalteskalation.

Das «System Oslo» wirkt bis in die Gegenwart hinein und hat Palästina soziopolitisch und wirtschaftlich stark verändert. Als Folge der Abkommen wurden die palästinensischen Gebiete in verschiedene Zonen unterteilt, von denen nur ein kleiner Teil – vor allem die größeren Städte im Westjordanland – ganz der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) untersteht, und trotzdem gehören auch hier Übergriffe des israelischen Militärs und der Sicherheitskräfte zum Alltag. Die übrigen Gebiete unterstehen weitgehend oder vollständig der Besatzungsmacht. Die palästinensische Selbstverwaltung, die PA in Ramallah, ist in den allermeisten Belangen vollständig von Israel und von internationalen Geber*innen abhängig, ihre eigene Autorität ist mehr oder minder auf Verwaltungsaspekte beschränkt. Sie kann weder die Sicherheit ihrer Bürger*innen gewährleisten, noch ihren Staatshaushalt selbständig gestalten, geschweige denn ihre Außengrenzen kontrollieren. Ihre seit Jahren fehlende demokratische Legitimation sowie ihr immer stärker autoritäres Auftreten gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung, und insbesondere gegenüber kritischen Stimmen, ist eine weitere Belastung.

Seit Oslo ist ein komplexes System von Fragmentierungen und Abhängigkeiten geschaffen worden, das kleine Fenster von Normalität zulässt und bestimmten Gruppen Zugänge zu Ressourcen und Privilegien erlaubt. Das gilt zum einen für diejenigen, die zum Netzwerk der PA gehören, also Tausende Familien im Westjordanland, die direkt oder indirekt von der palästinensischen Autonomiebehörde profitieren. Die PA ist zudem durch die Oslo-Abkommen zu einer engen Sicherheitskooperation mit Israel verpflichtet, was ihr, unabhängig von ihrer Performance, eine tragende Rolle zukommen lässt. Zum anderen hängt das Fragmentierungs- und Abhängigkeitssystem mit dem riesigen Hilfe-Sektor zusammen, der seit Anfang der 1990er Jahre mit Milliardenbeträgen der internationalen Zusammenarbeit und Entwicklungszusammenarbeit den Aufbau eines palästinensischen Gemeinwesens unterstützt. Mit der Hilfe veränderte sich die sozioökonomische Struktur der palästinensischen Bevölkerung, es entstand eine neue Klasse, die als Teil der internationalen Szene von neuen Ressourcen und Möglichkeiten profitiert. Gleichzeitig ist die Abhängigkeit von internationalen Geldern dermaßen hoch, dass lokale Aktivitäten und Ansätze den Vorgaben und Interessen der ausländischen Geberorganisationen untergeordnet werden. Ohne diese Zahlungen würde ein Großteil palästinensischer zivilgesellschaftlicher Aktivitäten zum Erliegen kommen. Den allermeisten Menschen aber bietet Post-Oslo-Palästina keine Perspektive.   

Bereits anlässlich des 20. Jahrestages des Oslo-I-Abkommens im Jahr 2013 hat das Palästina-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah Künstler*innen und Filmemacher*innen aus Palästina und der palästinensischen Diaspora gefragt, was «Oslo» für sie bedeute und ob sie ihre Assoziationen in kurzen Videoclips festhalten könnten. Wie kann diese verstörende Situation in Bildern ausgedrückt werden? Das Vergehen der Zeit. Die Träume und Hoffnungen. Die Ausweglosigkeit. Wie können Bilder geschaffen werden, die als historische Referenz an den Oslo-Prozess gelten können? Herausgekommen ist das von Idioms Film produzierte Filmprojekt «Suspended Time» (arab. Zaman Muallaq), was auf Deutsch in etwa «schwebende Zeit» oder auch «stillstehende Zeit» bedeutet. Eine Zeit, in der Dinge passieren und die gleichzeitig stillzustehen scheint. Neun Kurzfilme, eine Montage sehr verschiedener Eindrücke, Reflektionen und Imaginationen:

Historische Aufnahmen und Interviews in Dauerschleifen (Twenty Handshakes for Peace, Mahdi Fleifel), endlose Wiederholungen, die Bilder schließlich bis zur Unkenntlichkeit verpixelt (Long War, Asma Ghanem). Persönliche Erinnerungen, festgehalten in Briefen, spiegeln die Hoffnungen, aber auch die Enttäuschungen über Oslo wider (Oslo Syndrome, Ayman Azraq), Geschichten vom Weggehen und Ankommen, von Rückkehr und erneutem Aufbruch (Leaving Oslo, Yazan Khalili). Phantasien von Geschenken, die die Freundin zum Geburtstag bringen wird, dann aber wird sie am Checkpoint festgehalten (Appartment 10/14, Tarazan und Arab Nasser), Bilder vom Eingesperrtsein in Wohnungen und Situationen (Interferences, Amin Nayfeh), die Wut der Kinder, die den amerikanischen Präsidenten auf Facebook über ihre Lage informieren möchten (Message to Obama, Muhannad Salahat). Geschrei aus Ramallah (From Ramallah, Assem Nasser) und ein Sofa, das mit viel Kraft und Aufwand durch die engen Gassen eines Flüchtlingslagers getragen wird, nur damit sich am Ende herausstellt, dass es das falsche Sofa ist - bestellt war ein anderes (Journey of a Sofa, Alaa Al Ali).

Jetzt, im September 2023 und mittlerweile 30 Jahre nach Oslo, zeigen wir diese Video-Clips noch einmal. Sie haben nichts von ihrer Bedeutung verloren. Im Gegenteil, die Zeit steht weiter still, aber das Schreien wird lauter.


[1] UN-Resolution 242: Rückzug Israels aus den im Krieg von 1967 besetzten Gebieten; UN-Resolution 338: Waffenstillstand nach Jom Kippur Krieg, Umsetzung der UN-Resolution 242, Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ziel, einen gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten herzustellen.

[2] Art. 1 des Gaza-Jericho-Abkommens von 1994.

[3] Siehe z.B. Goldberg, Amos: Apartheid ist unsere Realität in Israel. Israel wurde lange Zeit in Schutz genommen. Warum meine Heimat den Vorwurf aushalten muss, ein Apartheid-Regime zu sein. Ein Gastbeitrag, in: Frankfurter Allgemeine, 22.8.2023 (kostenpflichtiger Beitrag).

Suspended Time – Stillstehende Zeit

Kurzfilme und Videoclips zum Oslo-Abkommen aus Sicht der Palästinenser*innen.

Produziert von Idioms Film in Kooperation mit dem Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah.

Alle in diesem Filmprogramm geäußerten Ansichten sind ausschließlich die Meinungen der einzelnen Filmemacher*innen und nicht notwendigerweise die der Produzent*innen oder ihrer Förderer und Partner. Alle Rechte vorbehalten, 2014

Lesen Sie auch: 30 Jahre Oslo: Die Zeit steht still – und schreit laut

Long War - Asma Ghanem

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Aus: «Suspended Time», Kurzfilme und Videoclips zum Oslo-Abkommen aus Sicht der Palästinenser*innen.

Produziert von Idioms Film in Kooperation mit dem Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah (2014).

20 Handshakes for Peace - Mahdi Fleifel

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Aus: «Suspended Time», Kurzfilme und Videoclips zum Oslo-Abkommen aus Sicht der Palästinenser*innen.

Ton: «Edward Said: The Last Interview». Produziert von Idioms Film in Kooperation mit dem Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah (2014).

Oslo Syndrome - Ayman Azraq

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Aus: «Suspended Time», Kurzfilme und Videoclips zum Oslo-Abkommen aus Sicht der Palästinenser*innen.

Produziert von Idioms Film in Kooperation mit dem Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah (2014).

Apartment 10/14 - Arab and Tarzan Nasser

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Aus: «Suspended Time», Kurzfilme und Videoclips zum Oslo-Abkommen aus Sicht der Palästinenser*innen.

Produziert von Idioms Film in Kooperation mit dem Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah (2014).

Interference - Ameen Nayfeh

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Aus: «Suspended Time», Kurzfilme und Videoclips zum Oslo-Abkommen aus Sicht der Palästinenser*innen.

Produziert von Idioms Film in Kooperation mit dem Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah (2014).

Journey of a Sofa - Alaa Al Ali

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Aus: «Suspended Time», Kurzfilme und Videoclips zum Oslo-Abkommen aus Sicht der Palästinenser*innen.

Produziert von Idioms Film in Kooperation mit dem Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah (2014).

Letter to Obama - Mohanad Salahat

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Aus: «Suspended Time», Kurzfilme und Videoclips zum Oslo-Abkommen aus Sicht der Palästinenser*innen.

Produziert von Idioms Film in Kooperation mit dem Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah (2014).

From Ramallah - Asem Nasser

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Aus: «Suspended Time», Kurzfilme und Videoclips zum Oslo-Abkommen aus Sicht der Palästinenser*innen.

Produziert von Idioms Film in Kooperation mit dem Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah (2014).

Leaving Oslo - Yazan Khalili

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Aus: «Suspended Time», Kurzfilme und Videoclips zum Oslo-Abkommen aus Sicht der Palästinenser*innen.

Produziert von Idioms Film in Kooperation mit dem Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah (2014).