Das Unglück Ecuadors hat zwei Gesichter: Einerseits hält der Sturm aus organisiertem Verbrechen und alltäglicher Kriminalität die Küstenregion des Landes in Atem. Andererseits verschlechtert sich die Krise politischer Repräsentation und staatlicher Organisation rapide angesichts der desaströsen Wirtschaftslage und des wechselnden Wahlverhaltens. Selbstverständlich sind beide Faktoren eng miteinander verknüpft. Dies zeigt eine nähere Betrachtung des ersten Wahlgangs der außerplanmäßigen Präsidentschaftswahlen am 20. August 2023.
Der Wahlkampf und seine Ergebnisse
Am 23. Juli 2023 wurde in der Hafenstadt Manta, einer der größten Städte des Landes, zum ersten Mal in der Geschichte Ecuadors ein amtierender Bürgermeister ermordet. Kurz danach, am 9. August 2023, wurde – ebenfalls erstmalig – ein ecuadorianischer Präsidentschaftskandidat, Fernando Villavicencio, von Kugeln durchlöchert, als er eine Wahlkampfveranstaltung in Quito verließ.[1] Beide Opfer dieses neuen Extrems politischer Gewalt können als Anti-Correístas bezeichnet werden, da ihre politische Laufbahn von heftigen Auseinandersetzungen mit der politischen Strömung des Ex-Präsidenten Raffael Correa geprägt waren.
Angesichts dieser Sicherheitskrise hätte man erwarten können, dass die Angst in der Bevölkerung die Wahlbeteiligung senken würde. Stattdessen aber war die Enthaltung bei den Wahlen am 20. August mit 17 Prozent so niedrig wie zuletzt 1978. Auch die Anzahl ungültiger oder leer abgegebener Stimmzettel, mit denen in vorherigen Wahlen häufig die Ablehnung des politischen Systems zum Ausdruck gebracht wurde, waren dieses Mal auffallend niedrig (8,8 Prozent). Der kurze Wahlkampf kam den Kandidat*innen mit mehr Geld und einer besseren Organisationsstruktur zugute. Erwähnenswert ist, dass die beiden Gewinner*innen der ersten Wahlrunde, Luisa González und Daniel Noboa, sich in ihrer Wahlkampfstrategie beide nicht auf das Thema der öffentlichen Sicherheit konzentrierten, sondern stattdessen ein breites soziales und wirtschaftliches Programm präsentierten.
Die Strömung des Correismus erhielt mit der Kandidatin Luisa González ungefähr dieselbe Anzahl an Stimmen wie in der ersten Wahlrunde 2021: 33,6 Prozent der gültigen Stimmen. Bei der Wahl der Repräsentant*innen für die Nationalversammlung gewann sie etwas mehr Abgeordnete dazu, bei einem ähnlichen Stimmenverhältnis wie bei der Präsidentschaftswahl. Auffällig ist die Konsistenz und Regelmäßigkeit der Wähler*innen des Correismus. Wenn man bedenkt, dass die Stimmen für diese Strömung seit 2013 gesunken sind, ist das Ergebnis ein Erfolg. Eine Erklärung dafür liefert ein Blick auf die Wahlkampagne. Diese enthielt die Botschaften «Mit Correa ging es uns besser» und «Das kann uns noch einmal gelingen». Die Correisten zielten darauf ab, dass es angesichts des Verschleißes an unfähigen und lustlosen Regierungen in den letzten Jahren ausreiche, wenn man romantisierte Erinnerungen an eine glänzende Vergangenheit hervorholt, um die Wahl zu gewinnen. An der Küste ging diese Strategie allerdings nicht auf. In seiner treusten Provinz, der Küstenregion Manabí, fuhr der Correismus mit der zuvor unbekannten, konservativen Kandidatin Luisa González das schlechteste Ergebnis seit 2013 ein.
Die große Überraschung der ersten Wahlrunde waren Daniel Noboa und der Nachfolger des ermordeten Fernando Villavicencio, der Journalist Christian Zurita, die 23,4 Prozent beziehungsweise 16,3 Prozent der gültigen Stimmen erhielten. Villavicencio gewann zuvor in den Umfragen fortwährend an Stimmen und kündigte sich als mögliche Überraschung im Wahlkampf an. Hierfür gibt es zwei mögliche Gründe. Zum einen verstärkte die Fokussierung des Correismus-Wahlkampfes auf die Erfolge der Regierung Rafael Correas den Eindruck, dass im Falle eines Siegs von González eigentlich Rafael Correa regieren würde. Der Expräsident war in allen Werbematerialien omnipräsent, mehr noch als im Wahlkampf 2021. Diese Strategie rief die Gegner*innen des Correismus auf den Plan. Villavicencio profitierte besonders von diesem Wiedererwachen des Anti-Correismus. Zum anderen war sein Diskurs von der Zerschlagung der Mafias, der Korruption und dem organisierten Verbrechen geprägt, das die Kontrolle über staatliche Strukturen gewinne. Er sprach von der «Notwendigkeit einer harten Hand» und versuchte, das Bild eines unbestechlichen Säuberers des Augiasstalls auszustrahlen. Seine Anschuldigungen waren konkret, er nannte Vor- und Nachnamen und forderte seine Gegner*innen offen heraus. Sein tragischer Tod und die Welle der Sympathie, die darauf folgte, brachten seinem Nachfolger Christian Zurita 16 Prozent der Stimmen ein.
Eine Überraschung, die etwas schwieriger zu erklären ist, ist Daniel Noboa, Sohn des Bananenunternehmers Álvaro Noboa. Álvaro Noboa war in den letzten 25 Jahren fünfmal Präsidentschaftskandidat. Sein Sohn Daniel Noboa stach im Wahlkampf heraus, weil er sich präziser und thematisch breiter aufgestellt zeigte als alle anderen Kandidat*innen. Sein sachlich vorgestelltes Wahlprogramm konzentrierte sich auf die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und sozialpolitische Maßnahmen. So gelang es ihm, ein Bild eines effizienten Verwalters zu zeichnen, obwohl seine Vizepräsidentin eine radikale Neoliberale und Abtreibungsgegnerin ist. Noboa verfügte in seiner Wahlkampagne über scheinbar unendliche eigene finanzielle Mittel und verteilte bei seiner Reise durchs Land Medizin, Lebensmittel, Pflanzensamen und nutzbare Wahlkampfmaterialen wie Kleidung. Neben den traditionellen Unterstützer*innen seines Vater gelang es ihm bei den diesjährigen Wahlen, auch indigene Stimmen aus dem Hochland und dem Amazonasgebiet für sich zu gewinnen, die seinem Vater wie auch Raffael Correa zuvor weitgehend verwehrt geblieben waren.
Im Vergleich zu den Wahlen von 2021, haben Daniel Noboa und Fernando Villavicencio, beziehungsweise dessen Nachfolger Christian Zurita, massiv von einer Stimmenabwanderung von den Mitte-Links-Kandidaten Yaku Pérez und Xavier Hervas profitiert, beide Gegner des Correismus. Yaku Pérez war 2021 Kandidat der indigenen Bewegung, während Xavier Hervas die sozialdemokratische Partei Izquierda Democrática (Demokratische Linke) repräsentierte. 2021 konnten beide ihre Stimmen im Hochland gewinnen, das traditionell mitte-links wählt, den Correismus ablehnt und damals nach einer Alternative zur Polarisierung zwischen dem Correismus und der unternehmerischen Rechten suchte.
Pérez und Hervas gingen fälschlicherweise davon aus, dass ihre Erfolge von 2021 auf ihre jeweiligen Persönlichkeiten zurückzuführen waren. Darauf berief sich Yaku Pérez, als er im Mai 2021 die politische Partei der indigenen Bewegung Pachakutik und den indigenen Dachverband CONAIE verließ und seine eigene Partei gründete. Für einen kurzen Moment erschien es 2023 tatsächlich so, als könne Pérez als einziger Mitte-Links-Kandidat an seinen Erfolg von 2021 anknüpfen. Jedoch vergaß er den Hauptgrund, der ihm 2021 dazu verholfen hatte, die Stimmen der ärmsten Bevölkerungsschichten des Hochlands und der Amazonasregion zu gewinnen: die Wut und Enttäuschung derjenigen, die unter einem gnadenlosen Wirtschaftssystem wie Abschaum behandelt und von der Politik bisher außer Acht gelassen wurden. Diese Wut war in den sozialen Massenprotesten vom Oktober 2019 explodiert. 2021 traf Pérez mit seinem spirituellen Diskurs von Harmonie und Einklang einen Nerv und konnte die Enttäuschung, die in den Protesten eineinhalb Jahre zuvor zum Ausdruck kam, kanalisieren. 2023 hingegen, abgekoppelt von dieser Bewegung, auf die er während des gesamten Wahlkampfes keinen Bezug nahm, schien sein Diskurs von Einklang und Frieden nicht zu der Zeit passen zu wollen. Diese Zeit ist geprägt von einer Suche nach Tatkraft und wilder Entschlossenheit, um sich einer sozial und wirtschaftlich aussichtlos erscheinenden Situation entgegenstellen zu können.
Perspektiven des Unglücks
Die intensive Suche der ecuadorianischen Wähler*innen – vor allem der Gegner*innen Rafael Correas – nach einer dritten Option, einem Ausweg aus der bisher unvermeidlichen Polarisierung zwischen dem Correismus und der traditionellen unternehmerischen Rechten, mündete dieses Mal in der Wahl unweigerlich konservativer Kandidat*innen. Das ist eine Tragödie für die Basiskräfte des Landes, bisher angeführt von der starken indigenen Bewegung. Hinter dieser schmerzhaften Wendung steckt natürlich der Umstand, dass sich die wirtschaftliche Aussichtslosigkeit der letzten Jahre in eine noch nie dagewesenen Krise der öffentlichen Sicherheit gewandelt hat. Aber die Verantwortung liegt auch bei den Führungspersönlichkeiten der indigenen Bewegung, die in Mitten einer undurchsichtigen Krisenlage Zerwürfnisse und persönliche Machtinteressen zur Schau stellten und dafür zwangsläufig eine saftige politische Rechnung kassieren mussten.
Anlass für Hoffnung auf linke politische Alternativen geben die bemerkenswerten und historischen Ergebnisse der Volksentscheide über den Schutz des Yasuní-Nationalparks und der Region Chocó Andino vor der Erdölförderung und dem Bergbau. Es handelt sich um die ersten beiden offiziellen Volksentscheide, die durch das Engagement von Bürger*innen und Basisorganisationen, das Sammeln von Unterschriften und unendliche juristische Kämpfe herbeigeführt wurden. Die Ergebnisse zeugen von einem gesellschaftlichen Selbstvertrauen, einem ökologischen Bewusstsein und dem Willen, das wirtschaftliche Modell zu verändern, obwohl die Eliten versucht hatten, der Bevölkerung Angst zu machen, um das positive Ergebnis der Volksentscheide zu verhindern. Das zeigt, dass es immer noch Fäden gibt, an denen wir uns festhalten können, um für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen. Die Gegensätzlichkeit zwischen dem umweltbewussten Abstimmungsverhalten einerseits und dem Wählen von Parteien, die diese Überzeugungen ablehnen, andererseits, ist aber ein Elend, das in den kommenden Jahren angegangen werden muss.
In der zweiten Wahlrunde am 15. Oktober sind die Ausgangsbedingungen für Daniel Noboa zunächst besser als für Luisa González, die Kandidatin des Correismus. Aber der Wahlkampf wird lang und womöglich stürmisch. Wenn sich die Menschen in der ersten Wahlrunde ohne Überzeugung für das geringere Übel entschieden haben, werden in der zweiten Runde Angst und Unbehagen im Vordergrund stehen. Das Dagegen-Sein überwiegt. Die Strategie der Correisten, Rafael Correa voranzustellen, hat seinen Gegner*innen zu neuen Kräften verholfen. Der häufigste Grund für die Ablehnung Daniel Noboas ist das Erbe seines Vaters. Obwohl beide Kandidat*innen politische Newcomer sind, ist Luisa González viel mehr auf ihren Chef angewiesen, als Noboa auf seinen Vater.
In den verbleibenden eineinhalb Jahren der Legislaturperiode wird die Zeit nicht für strukturelle Veränderungen ausreichen; sondern es wird darum gehen, stabile Mehrheiten zu bilden. Die neue Regierung wird sich darauf konzentrieren, den politischen Zerfall und das fehlende Vertrauen in der Bevölkerung für sich zu nutzen. Wer auch immer gewinnt, sollte sich auf Investitionen in die Infrastruktur, öffentliche Bauvorhaben und das Sozialsystem konzentrieren. Nur so kann es möglich sein, eigene parlamentarische Mehrheiten zu bilden und diese Zeit durchzustehen, in der neue Parteien und Kandidat*innen genauso schnell auftauchen, wie sie zwischen politischen Sparmaßnahmen wieder verschwinden. Nur mit einer solchen Agenda können erste Schritte hin zu einer erfolgreichen, dringend notwendigen Bekämpfung der Gewalt und der organisierten Kriminalität gemacht werden. Angesichts dieses kurzfristig angelegten Versuchs, der besonders von einer effizienten Verwaltung der öffentlichen Mittel abhängt, werden die sozialen Bewegungen darum kämpfen müssen, ihren Verstand zurückzugewinnen und ein Mindestmaß an Einheit zu bilden.
[1] Über die Ermordung von Fernando Villavicencio sind bisher keine Details bekannt. Seine nächsten Angehörigen und er selbst, nannten wenige Tage vor Villavicencios Ermordung den Namen von „alias Fito“, dem Chef der kriminellen Vereinigung der Choneros, der Villavicencio bedroht haben soll. Die Choneros stehen mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell in Verbindung.