Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Osteuropa Migration: im Mittelpunkt des Wahlkampfs in Polen

Wie die Konservativen ihre zynische Politik auf dem Rücken Schutzsuchender austragen

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Vorpremiere des Films «Zielona Granica» («Die Grüne Grenze») am 21. September 2023 in Krakau, Polen.
Der Film «The Green Border» der Regisseurin Agnieszka Holland zeigt die Situation der Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze mit all ihrer Brutalität. Regierungsvertreter*innen empörten sich und vergleichen das humanitäre Meisterwerk mit der antipolnischen Propaganda der deutschen Nazis während des Zweiten Weltkriegs. Vorpremiere des Films «Zielona Granica» («Die Grüne Grenze») am 21. September 2023 in Krakau, Polen., Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Seit der Neugründung im Jahr 1945 ist Polen einer der monoethnischsten und monokulturellsten Staaten Europas. Zwar gab es seit 1989 einige Einwanderungswellen nach Polen, aber entweder war die Zahl der Migrant*innen zu gering, um einen wahrnehmbaren sozialen Faktor darzustellen, oder Polen war nur eine Zwischenstation auf dem Weg in andere Länder. Deshalb war Migration lange Zeit kein prägendes Thema in der polnischen Politik.

2015: Wendepunkt der polnischen Migrationspolitik

Dies änderte sich 2015, als die Flucht zahlreicher Menschen aus Syrien mit der polnischen Parlamentswahl zusammenfiel. Die nationalkonservative Partei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) instrumentalisierte diese Situation, indem sie eine Anti-Flüchtlingskampagne begann und die Migrationspolitik der EU scharf ablehnte. Der Parteivorsitzende der PiS, Jarosław Kaczyński, schürte auf populistische Weise Voruteile, indem er beispielsweise behauptete, Migrant*innen würden exotische Viren und Krankheiten nach Polen bringen. Es ist schwer zu beurteilen, inwieweit diese Stimmungsmache gegen Geflüchtete dazu beigetragen hat, jedenfalls gewann die PiS diese Wahl und ist seitdem an der Macht. Angesichts der nach wie vor hohen Zahl von Menschen, die in der EU vor Krieg, Hunger und Verfolgung Schutz suchen und seit 2021 auch über die polnisch-belarussiche Grenze in die EU fliehen, hat sich die PiS entschlossen, das Thema Migration auch in diesem Wahlkampf wieder auf rechtspopulistische Weise zu instrumentalisieren.

Achim Kessler leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.

Piotr Janiszewski ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Regionalbüros.

Humanitäre Katastrophe ans der Grenze zu Belarus

Seit Herbst 2021 versuchten Tausende Geflüchtete, vor allem aus dem Nahen Osten und Afrika, über die polnisch-belarussische Grenze in die EU zu gelangen. Dabei haben belarussische Behörden, zumeist vermittelt über Reisebüros, Desinformationen verbreitet, um die Fluchtroute über Belarus in die EU bekannt zu machen. Polen und die EU sehen darin eine Strategie des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko zur Destabilisierung der Region.

Die polnische Regierung reagierte auf die Situation, indem sie die Zahl der Grenzschutz-, Polizei- und Militäreinheiten an der Grenze verstärkte und eine Mauer errichtete, um den Grenzübertritt zu erschweren. Menschenrechtsaktivist*innen, die versuchen, den Geflüchteten an der Grenze zu helfen, werfen den polnischen Behörden vor, Geflüchtete, unabhängig von Alter, Gesundheitszustand oder gestellten Asylanträgen nicht über die Grenze zu lassen oder sie sogar gegen ihren Willen zurückzuschicken. Polnischen Medien zufolge wurden bis August 2023 als Folge davon 50 Menschen in den Wäldern des Grenzgebietes tot aufgefunden.

Instrumentalisierung von Migration für den PiS-Parlamentswahlkampf

Von dieser humanitären Katastrophe zeigt sich die polnische Regierung gänzlich unbeeindruckt. Nach wie vor behaupten die polnische Regierung und die sie tragende Partei PiS, die Bevölkerung vor einem russisch-belarussischen Hybridkrieg in Form einer «Flut illegaler Einwanderer» schützen zu müssen. Die menschenverachtende Rhetorik hat sich noch verstärkt, seit Polen in der heißen Phase des Wahlkampfs für die Parlamentswahlen am 15. Oktober ist. Seither betreibt die PiS eine aggressive Anti-Migrations-Kampagne, die die Ängste und Unsicherheit vieler Pol*innen instrumentalisiert, die in Zeiten der sozialen und wirtschaftlichen Krise immer größer werden.

Mittelbar zielt die Kampagne gegen Migrant*innen jedoch einerseits auf die «demokratischen Oppositionsparteien» (Mitte- und Linksparteien, insbesondere die liberale Bürgerkoalition unter Donald Tusk), denen die PiS unterstellt, Hunderttausende Migrant*innen insbesondere aus muslimischen Ländern aufnehmen zu wollen und dadurch Polen sozial und kulturell zu ruinieren. Auf der anderen Seite versucht die PiS mit ihrer Anti-Migrations-Kampagne, ihrer noch weiter rechts stehenden Konkurenz, der extrem nationalistischen und neoliberalen «Konföderation» (Konfederacja) Stimmen abzujagen, die in den Umfragen deutlich zugelegt hat.

Aus denselben Gründen greift die PiS auch die ohnehin schon sehr restriktive Asylpolitik der EU an, die ihr noch zu wenig hart gegenüber den Geflüchteten ist, die in der EU Schutz suchen. Sie wirft der EU vor, Polen zur Aufnahme von zahllosen Geflüchteten zwingen zu wollen, und verschweigt dabei geflissentlich, dass für Polen aufgrund der großen Zahl ukrainischer Geflüchteter eine Ausnahme von dem Mechanismus besteht, mit dem Geflüchtete innerhalb der EU auf die einzelnen Länder verteilt werden sollen.

Referendum gegen Migration am Tag der Parlamentswahl

Um das Migrationsthema noch mehr zum bestimmenden Thema des Wahlkampfs zu machen, setzte das von der PiS dominierte Parlament für denselben Tag, an dem die Parlamentswahlen stattfinden, ein landesweites Referendum durch. Das Referendum umfasst vier Fragen, von denen sich zwei auf Migration beziehen:

  • «Unterstützen Sie die Beseitigung der Barriere an der Grenze zwischen der Republik Polen und der Republik Belarus?»
  • «Unterstützen Sie die Aufnahme Tausender illegaler Einwanderer aus dem Nahen Osten und Afrika im Rahmen des von der europäischen Bürokratie auferlegten Zwangsumsiedlungsmechanismus?»

Die suggestive Formulierung der Fragen legt nahe, dass es bei dem Referendum nicht etwas darum geht, mit dem Referendum eine sachliche Debatte über das Thema Migration zu befördern, sondern Vorbehalte gegen Migrant*innen anzuheizen und in Stimmen für die PiS umzumünzen.

Visa-Skandal und «Die Grüne Grenze»

Am 31. August kam es zu einer überraschenden Wende, als Beamte der Zentralen Antikorruptionsbehörde das Büro des polnischen Außenministeriums durchsuchten und Premierminister Mateusz Morawiecki den stellvertretenden Außenminister Piotr Wawrzyk wegen «nicht zufriedenstellender Zusammenarbeit» entließ. Danach berichteten polnische Medien, dass Wawrzyk daran beteiligt gewesen sei, Möglichkeiten zur Einwanderung aus Asien und Afrika über Europa in die Vereinigten Staaten zu schaffen. Nach Angaben des Nachrichtenportals Onet.pl soll der stellvertretende Außenminister polnische Diplomaten gezwungen haben, von ihm genannten Einwanderern Visa auszustellen. Konsulate sollen Listen erhalten haben, die Hunderte von Namen enthielten. Berichten zufolge zahlte ein in Warschau lebender indischer Geschäftsmann Bestechungsgelder an polnische Beamte für die Ausstellung von Visa für indische Staatsbürger*innen. Oppositionsabgeordnete gehen davon aus, dass in den letzten 30 Monaten auf diese Weise 250.000 Menschen aus afrikanischen und asiatischen Ländern Visa erhalten haben.

Die Regierung bestritt das Ausmaß des Skandals und stellte dar, dass es sich nur um mehrere Hundert Visa handele. Die von der Regierung kontrollierten öffentlichen Medien berichten überhaupt nicht über den Visa-Skandal, ihre Moderator*innen unterbrachen Vertreter*innen der Oppositionsparteien, wenn sie den Skandal in Interviews oder Debatten im öffentlichen Fernsehen oder Radio erwähnten.

Während dieser hitzigen politischen Auseinandersetzung kam der neue Film «The Green Border» der Regisseurin Agnieszka Holland in die Kinos. Der Film zeigt die Situation der Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze mit all ihrer Brutalität. Während der Film von vielen als «humanitäres Meisterwerk» gelobt wurde, empörten sich Regierungsvertreter*innen, indem sie ihn mit der antipolnischen Propaganda der deutschen Nazis während des Zweiten Weltkriegs verglichen.

Reaktionen der Oppositionsparteien

Während alle Oppositionsparteien die Regierung wegen des Visa-Skandals scharf kritisieren, variieren ihre Reaktionen auf die Anti-Migrations-Kampagne der PiS.

Die liberale Bürgerkoalition kritisiert einerseits die PiS für die Dämonisierung Geflüchteter. Andererseits vermeidet sie, viele Aspekte der Grenzpolitik der Regierung in Frage zu stellen, aus Angst, die Unterstützung der Wähler*innen zu verlieren. Im Rahmen der Wahlkampagne veröffentlichte sie sogar einen Beitrag, der Bilder von Migrant*innen beim Grenzübertritt mit einer potenziellen Bedrohung der öffentlichen Sicherheit in Verbindung brachte. Sogar Politiker der linken Parteien, die den Bau der Grenzmauer konsequent abgelehnt hatten, vermeiden es, klare Antworten zu geben, wenn Reporter*innen sie fragen, ob sie für den Abbau der Grenzmauer zu Belarus sind.

Natürlich greift die rechtsradikale Konföderation die Regierung aus einem anderen Blickwinkel an und stellt die «Aufrichtigkeit» der migrationsfeindlichen Rhetorik von Jarosław Kaczyńskis Partei in Frage.

Geflüchtete aus der Ukraine

Diese migrationsfeindliche Atmosphäre hatte bislang noch keinen großen Einfluss auf die Situation der in Polen lebenden Ukrainer*innen. Nach der ersten Phase des Krieges Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2014 kam es zu einer erheblichen Arbeitsmigration aus der Ukraine nach Polen, die positive Reaktionen hervorrief. Seit Februar 2022 ist die Zahl der Ukrainer*innen in Polen sehr stark gestiegen. Während Vorbehalte gegenüber der Ukraine, die in Polen schon immer vor allem aus historischen Gründen bestanden, etwas zugenommen haben – vor allem mit der Dauer des Krieges und aufgrund des Konflikts um den Import ukrainischen Getreides – sind die meisten Pol*innen immer noch dafür, die Ukrainer*innen in Polen durch den Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung und zum Kindergeld zu unterstützen. Allerdings wachsen in Teilen der polnischen Gesellschaft Vorbehalte gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine, was zunehmend von der äußerst rechten Konföderation aufgegriffen wird. Die PiS reagiert darauf neuerdings mit einem Wechsel ihrer Politik gegenüber der Ukraine, etwa der Einstellung von Waffenlieferungen oder das Verbot des Imports von Getreide aus der Ukraine.

Inwieweit es der PiS-Regierung gelingen wird, mit ihrer massiven Stimmungsmache gegen Migrant*innen von der sozialen Krise abzulenken, die in Polen das Leben vieler Menschen immer mehr erschwert, bleibt abzuwarten. Gefährlich ist diese Strategie allemal, weil sie zu einer Entsolidarisierung der Gesellschaft führt und die politische Debatte immer weiter nach rechts verschiebt.