Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Nordafrika Ägyptens anstehende Wahlfarce

Die Ägypter gehen nächsten Monat wählen, aber der Gewinner steht schon fest

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Der ägyptische Präsident Abdel Fattah El-Sisi beim Besuch der ägyptischen Militärakademie.
Der ägyptische Präsident Abdel Fattah El-Sisi beim Besuch der ägyptischen Militärakademie, 10.06.2023. Foto: IMAGO / APAimages

Im bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt stehen demnächst Präsidentschaftswahlen an. Über neun Millionen im Ausland lebende ägyptische Bürger*innen können vom 1. bis 3. Dezember ihre Stimme abgeben, in Ägypten selbst wird vom 10. bis 12. Dezember gewählt. Der Wahlausgang steht allerdings von vornherein fest: Abdel Fattah al-Sisi, der Militärdiktator, der das Land seit seiner Machtübernahme vor mehr als einem Jahrzehnt mit eiserner Faust regiert, wird eine dritte Amtszeit gewinnen.

Diese Art von inszenierten Wahlen hat in Ägypten eine lange Tradition. Die aufeinanderfolgenden autokratischen Regime waren durchweg auf die Errichtung einer legalen Fassade bedacht – so sehr sie eine rechtsstaatliche Herrschaft des Gesetzes ablehnten, legten sie Wert darauf, durch Gesetze zu herrschen. Doch wenngleich al-Sisis dritte Amtszeit gesichert ist, steht sein langfristiger Machterhalt durchaus in Frage. Die Popularität des Präsidenten sinkt, die Wirtschaft liegt am Boden und der Widerstand gegen seine Herrschaft wächst von Tag zu Tag. Dass al-Sisi tatsächlich noch bis 2030 regieren kann, wenn die kommende Amtszeit endet, ist daher keineswegs gewiss.

Ein Jahrzehnt der Repression

Seit er im Sommer 2013 einen Militärputsch gegen den ersten demokratisch gewählten Präsidenten des Landes angeführt hat, regiert al-Sisi vor allem durch staatlichen Terror. Er ließ Tausende von Oppositionellen durch die Sicherheitskräfte töten, in seine Amtszeit fällt das größte Massaker in der modernen Geschichte des Landes. Die Zivilgesellschaft ist weitgehend zerstört, Oppositionsparteien wurden aufgelöst oder ins Abseits gedrängt und unabhängige Gewerkschaften zerschlagen; die privaten Medien sind unterdessen zu großen Teilen in den Besitz des Geheimdienstes GIS (General Intelligence Service) übergegangen oder unterstehen zumindest seiner Kontrolle. 

Anstatt eine breite politische Basis oder ein Klassenbündnis als Fundament für seine Herrschaft aufzubauen, stützt sich al-Sisi ausschließlich auf den Repressionsapparat. Besonders die obersten Militärshat er mit der Aufgabe betraut, die tagtäglichen Abläufe im Land sicherzustellen. Das ägyptische Parlament, in dem die von der GIS geführte Partei der Zukunft der Nation und andere Regimetreue eine Mehrheit der Sitze haben, segnet al-Sisis Dekrete und Gesetze ab. Während die GIS die Parlamentswahlen von 2015 lenkte, wurde das derzeitige Parlament 2019 von der Heimatschutzbehörde – Ägyptens gefürchteter Geheimpolizei – sorgfältig zusammengestellt.

Die geschwächte ägyptische Opposition ist sich uneins, wie sie mit der Scheinwahl umgehen soll.

Das Militär hat auch seinen Zugriff auf die Wirtschaft verstärkt, was zulasten einheimischer wie ausländischer Unternehmer*innen geht, die nun unlauteren Wettbewerb durch Firmen im Besitz der Armeeund sogar feindliche Übernahmen fürchten.

Keine wirklichen Konkurrenten

Als die Wahlen näher rückten, kündigten einige Politiker, die dem Regime nahe stehen oder in der Vergangenheit mit dem Staat zusammengearbeitet haben, ihre Kandidatur an. Zu ihnen zählt Abdel Sanad Yamama, Vorsitzender der abgewirtschafteten Wafd-Partei – einst eine liberal-nationalistische Kraft, ist sie zu einer Clique sich befehdender Geschäftsleute verkommen, die um Gefälligkeiten des Regimes und Bündnisse mit ihm rivalisieren. Ein zweiter Kandidat ist Hazem Omar, der mit der Republikanischen Volkspartei eine undurchsichtige Gruppe von Geschäftsleuten und Staatsfunktionären anführt, die früher der mittlerweile aufgelösten Nationaldemokratischen Partei von Hosni Mubarak angehörten; er lobt schon seit Langem al-Sisi und unterstützt seine Politik.

Die geschwächte ägyptische Opposition ist sich uneins, wie sie mit der Scheinwahl umgehen soll. Ein Teil hat von Anfang an zum Boykott aufgerufen, da die Abstimmung eine reine Farce sei. Er betrachtet die Kandidaten, die gegen al-Sisi antreten wollen, mit Misstrauen oder sogar als Kollaborateure, die einen Deal mit dem Sicherheitsapparat eingegangen sein müssen. Andere Dissident*innen plädieren für eine Teilnahme an der Wahl, wollen aber nur «seriöse» Kandidaten unterstützen. Wer diese «seriösen» Kandidaten sind, ist allerdings eine andere Frage.

Nach dem ägyptischen Recht werden nur Kandidat*innen zugelassen, die 20 Unterschriften von Parlamentsmitgliedern oder mindestens 25.000 von Bürger*innen aus 15 Provinzen sammeln können, wobei die erforderliche Schwelle je Provinz bei 1.000 liegt. Diese Anforderungen sind bewusst so gestaltet, dass es für einen wirklichen Gegenkandidaten praktisch unmöglich ist, zur Wahl zugelassen zu werden.

Zweierlei Arten von Dissidenten

In den vergangenen Monaten haben drei Oppositionelle ihre Kandidatur angekündigt: Ahmed Tantawi, ehemals Parlamentsabgeordneter der nasseristischen Karama-Partei, Gameela Ismail, Vorsitzender der mehr oder minder liberalen Dostour-Partei, und Farid Zahran, der die Sozialdemokratische Partei anführt.

Ismail und Zahran wurde vorgeworfen, sich Anfang des Jahres mit dem ägyptischen Spionagechef getroffen zu haben, der sie zwecks Wahrung einer demokratischen Fassade zur Kandidatur ermutigt haben soll. Beide haben die Vorwürfe zurückgewiesen. Diskussionen darüber, ob sich die Opposition nicht hinter einem gemeinsamen Kandidaten sammeln sollte, verliefen im Sande, doch Ismail entschied sich auf Druck seiner Parteibasis schließlich zum Rückzug aus dem Rennen.

Zahran hat es in Interviews weitgehend vermieden, al-Sisi namentlich zu erwähnen. Stattdessen attackiert er die Muslimbruderschaft und die Islamist*innen, als ob wir uns noch im Jahr 2013 befänden. Seine Partei war nach dem Staatsstreich an der Bildung des ersten Kabinetts beteiligt, in dessen Verantwortung das Massaker von Rabaa fällt, und hat bei Parlamentswahlen und anderen Anlässen wiederholt mit dem Staat kooperiert. In dessen Augen ist Zahran der ideale «Dissident»: Er hat keinerlei Aktionen auf der Straße organisiert oder Unterschriften von Bürger*innen gesammelt, sondern stattdessen die erforderlichen 20 Parlamentarier für seine Kandidatur gewonnen – ein klares Zeichen dafür, dass er das Wohlwollen des Regimes genießt.

Anders verhält es sich mit Tantawi. Er ist ein erfahrener Politiker aus der Provinz Kafr el-Sheikh, der dem Regime schon als Parlamentarier ein Dorn im Auge war und seinen Sitz folgerichtig durch Wahlmanipulationder Sicherheitsdienste verlor. Er kritisiert al-Sisi öffentlich und hat ihn sogar zum Rücktritt aufgefordert, was dazu führte, dass er im vergangenen Jahr Ägypten verlassen musste und in den Libanon ging.

Al-Sisi hat das politische Leben im Land erstickt, jeder noch verbliebene Raum für eine Organisierung auf der Straße oder im Internet wurde unter seiner Herrschaft beseitigt.

Seine Präsidentschaftskandidatur kündigte Tantawi aus dem Exil an, erst im vergangenen Mai kehrte er nach Ägypten zurück. Trotz wiederholter Übergriffe der Sicherheitsorgane auf seine Verwandten und Unterstützer*innen hat er mit großem Einsatz daran gearbeitet, für seinen Wahlkampf eine reale Basis in der Bevölkerung aufzubauen. Kürzlich sorgte Tantawi international für Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass sein iPhone mit Spyware infiziert war, die wahrscheinlich vom ägyptischen Regime stammt. Apple stellte daraufhin Sicherheitsupdates für alle seine Produkte bereit.

Tantawi hat nicht den bequemen Weg gewählt, Unterschriften von Abgeordneten einzuholen, zumal er dafür den Zuspruch des Regimes benötigt hätte. Stattdessen entschied er sich für eine Basiskampagne vor Ort und im Internet, um 25.000 Unterschriften von Bürger*innen zu sammeln. Die wenigen verbliebenen Kräfte, die die Revolution von 2011 angeführt hatten, stellten sich weitgehend hinter seine Kandidatur.

Ihre Begründung dafür war einfach: Al-Sisi hat das politische Leben im Land erstickt, jeder noch verbliebene Raum für eine Organisierung auf der Straße oder im Internet wurde unter seiner Herrschaft beseitigt. Die Präsidentschaftswahlen bieten aus dieser Sicht die seltene Chance, zumindest eine gewisse Organisierung wiederzubeleben, denn vor allem aufgrund seiner wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen ist das Regime heute schwächer und weniger selbstbewusst als vor einem Jahrzehnt. Die Unterstützer*innen Tantawis sehen in seiner Kandidatur einen Schritt auf dem langen Weg zur Rückeroberung der Straße.

Tantawis Kampagne war von bemerkenswerter Courage und Widerstandskraft geprägt, doch nachdem er 14.000 Unterschriften gesammelt hatte, zog er sich aus dem Wahlkampf zurück. Grund dafür war die Repression gegen seine Anhänger*innen bis hin zu systematischen Angriffen von Schlägern in Zivil, die zumeist der Partei der Zukunft der Nation oder den Sicherheitsdiensten angehören.

Al-Sisis Niedergang

Seit der Machtübernahme im Jahr 2013 hat al-Sisis Herrschaft Höhen und Tiefen erlebt.

Getragen von einer Art angstgetriebenen Massenpsychose, die durch die ständige Unsicherheit während der Revolution ausgelöst wurde, und unter Ausnutzung des Stabilitätsbedürfnisses der Mittelschicht hat al-Sisi nach seinem Amtsantritt ein regelrechtes Blutbad angerichtet, um Ruhe und Ordnung im Land durchzusetzen. Gleichzeitig versprach er der Bevölkerung nach zwei Jahren anhaltender Unruhen wirtschaftlichen Wohlstand und eine rosige Zukunft. Anfangs wurde das Land von starker Begeisterung für al-Sisi erfasst. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er 2014 die erste Präsidentschaftswahl nach dem Putsch tatsächlich gewonnen hat, auch wenn es zu Manipulationen gekommen sein könnte.

Danach ging es mit al-Sisis Popularität allerdings steil bergab, da er Milliarden für unsinnige Großprojektevergeudete und die Staatsorgane militarisierte, während die Bevölkerung weiter verarmte. Mehrere Währungsabwertungen und eine neoliberale Sparpolitik haben die zu erheblichen Teilen von den Generälenkontrollierte Wirtschaft ruiniert.

Würden im Dezember tatsächlich freie und faire Wahlen abgehalten, gäbe es gute Gründe für die Annahme, dass al-Sisi verlieren würde – und zwar deutlich. Das Einzige, was ihm den Sieg garantiert, ist nackte Gewalt.

Von Gaza nach Gizeh?

Wie viel Zuspruch al-Sisi noch genießt und wie lange er an der Macht bleiben wird, sind Fragen, über die sich nur spekulieren lässt.

Das Land befindet sich in einer lähmenden Wirtschaftskrise, in deren Folge das ägyptische Pfund an Wert verloren hat, während die Inflation und die Armutsrate drastisch gestiegen sind. In einigen Betrieben kam es zu wilden Streiks. Genaue Zahlen darüber sind kaum zu ermitteln, da die Streiks spontan und meist unabhängig von den paralysierten aktivistischen Netzwerken stattfinden, die vor der Machtübernahme durch Sisi bestanden. In den Berufsverbänden ist jedoch ein Stimmungsumschwung zu mehr Kampfbereitschaft zu erkennen.

Der Ausbruch des Gaza-Kriegs am 7. Oktober hat ebenfalls Bewegung in die Lage gebracht. Die Palästinafrage ist seit Langem ein Faktor, der die Bevölkerung politisiert und radikalisiert. Auch die Revolution von 2011 war der Kulminationspunkt eines langen Prozesses wachsenden Unmuts, der mit dem Ausbruch der zweiten palästinensischen Intifada im Jahr 2000 begonnen hatte.

Die Mauer der Angst, die Ägypten seit einem Jahrzehnt umschließt, bekommt langsam, aber sicher Risse.

Am zweiten Tag des Krieges haben Tausende von Fans des Fußballklubs Al Ahly FC das Stadion in Alexandria mit pro-palästinensischen Parolen zum Beben gebracht. Das ist insofern bemerkenswert, als diese Jugendgruppe von den Sicherheitskräften in der Vergangenheit hart angegangen wurde und frühere Versuche, bei Fußballspielen palästinensische Fahnen zu schwenken, an der Repression scheiterten.

Studierende der American University in Kairo haben auf dem Campus demonstriert, an anderen Universitäten wurde eine Blutspende-Kampagne für die palästinensische Bevölkerung gestartet. Journalist*innen haben sich vor der Zentrale ihres Berufsverbands in der Kairoer Innenstadt versammelt, um den Krieg gegen den Gazastreifen anzuprangern, auch vor den Gebäuden der Verbände der Anwält*innen und der Schauspieler*innen kam es zu Protesten. Die größte Mobilisierung fand am 13. Oktober statt, als Hunderte nach dem Freitagsgebet vor der Al-Azhar-Moschee protestierten, bevor die Polizei sie auseinandertrieb.

Ein weiterer bedeutender Protest fand am Sonntag, dem 15. Oktober, statt, als Hunderte von Anwärter*innen für das Lehramt vor dem Bildungsministerium in der neuen Verwaltungshauptstadt demonstrierten, nachdem die Militärakademie, die eine Militarisierung des öffentlichen Dienstes vorantreibt, sie abgelehnt hatte. Der Protest wurde später von den Sicherheitskräften mit Wasserwerfern, gewaltsamen Übergriffen und Verhaftungen aufgelöst. Es war der erste dokumentierte Arbeiter*innenprotest in der neuen Verwaltungshauptstadt sowie die erste konkrete Aktion gegen die Militarisierung eines Ministeriums.

Als der Gaza-Krieg in die zweite Woche ging, kam es an fast allen Universitäten zu Protesten, und die freien Berufsverbände setzten ihre Mobilisierung in Kairo und den Provinzen fort. Da das Regime befürchtete, bei einem anhaltenden Krieg könnten Palästinenser*innen in den Sinai getrieben werden, um sie dort im Rahmen einer israelischen Strategie anzusiedeln, versuchte es landesweite Proteste zu veranstalten, um «al-Sisi ein Mandat des Volkes zum Schutz der nationalen Sicherheit Ägyptens zu geben». Solche staatlichen Mobilisierungen sollen einerseits Israel und den westlichen Staatschefs zeigen, dass es eine breite Opposition gegen derartige Umsiedlungspläne gibt. Zum anderen versucht das Regime damit, die wachsende Wut auf den Straßen aufzugreifen und in Unterstützung für den Präsidenten zu kanalisieren.

Die Opposition nutzte die Gelegenheit und rief für den 20. Oktober an verschiedenen Orten zu Protesten auf. Zum Entsetzen der Sicherheitskräfte stimmten die Demonstrierenden Parolen gegen das Regime an und gerieten die Massenproteste außer Kontrolle: Zahlreiche Menschen gelangten auf den Tahrir-Platz, wo sie einige der legendären Slogans der Revolution vom 25. Januar 2011 skandierten. In der Kairoer Innenstadt kam es zu Auseinandersetzungen, als die Polizei versuchte, die Proteste aufzulösen, und mehrere Dutzend Personen festnahm.

Das ist der Hintergrund, vor dem in rund einem Monat die Präsidentschaftswahlen in Ägypten stattfinden werden. Doch sofern keine unvorhergesehenen dramatischen Ereignisse eintreten, wird das politische Weltgeschehen keinen Einfluss auf das Ergebnis haben. Al-Sisi wird «wiedergewählt» werden.

Aber das Wiederaufleben der Opposition in den freien Berufen, an den Universitäten und auf der Straße sowie die immer tiefere Wirtschaftskrise und die zunehmende Instabilität in der Region lassen Zweifel daran aufkommen, ob al-Sisi seine dritte Amtszeit tatsächlich bis zum Ende durchstehen wird.

Die Mauer der Angst, die Ägypten seit einem Jahrzehnt umschließt, bekommt langsam, aber sicher Risse.

Übersetzung von Felix Kurz und Charlotte Thießen für Gegensatz Translation Collective.