Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte - Krieg / Frieden - Osteuropa Russland befindet sich nicht im Jahr 1937, sondern im Jahr 2023

Zur Logik der Repressionen im heutigen Russland

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Alina Ledenyeva,

Angehörige und Trauernde versammeln sich am Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen im Garten des Gedenkens auf dem Schießplatz Butowo in Moskau, 30.10.2023. Foto: IMAGO / SNA

Politische Repressionen sind heute fester Bestandteil der russischen Realität. Immer häufiger lässt einen das an die sowjetische Geschichte zurückdenken. So sind die Menschen eben gestrickt: Sie können nicht umhin, eine Logik in den sie umgebenden Prozessen und Phänomenen zu suchen, wie komplex und zufällig diese auch erscheinen mögen. Da ist es sehr verführerisch, nach historischen Analogien zu greifen. Vielleicht findet man ein Modell, erkennt Entwicklungsperspektiven und mögliche Folgen. Doch Analogien können auch, selbst wenn sie gut für Vergleiche und zu Illustrationszwecken taugen mögen, sehr tückisch sein, wenn sie Erklärungen liefern sollen.

Alina Ledenyeva ist eine russische Soziologin, die aus Sicherheitsgründen unter Pseudonym schreibt. Ihre Identität ist der Redaktion bekannt.

Der Journalist Andrej Kolesnikow hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin auf einer Pressekonferenz gefragt, ob in Russland nicht wieder das Jahr 1937 angebrochen sei. Er sprach dabei die Strafverfahren gegen den Dramaturgen Jewgenij Berkowitsch[1] und den Politologen Boris Kagarlickij [2] an. Der Präsident antwortete, er höre diese Namen zum ersten Mal und wisse nicht, was diese Leute gemacht hätten und was mit ihnen geschehen sei. Russland befinde sich jedoch in einem bewaffneten Konflikt mit einem Nachbarn. Daher müsse es bestimmte Verhaltensregeln geben: Der Staat könne nicht jene dulden, die ihm von innen heraus schaden. Und er fügte hinzu, in der Ukraine werde man für so etwas erschossen. Seine Antwort begann Wladimir Putin mit dem Hinweis, dass sich Russland nicht im Jahr 1937 befinde, sondern im Jahr 2023. Damit hat er absolut recht, und zwar nicht nur im astronomischen Sinne, sondern auch im politischen.

Schließlich sind die Repressionen im heutigen Russland – zum Glück – in Ausmaß und Brutalität nicht mit den Stalinschen Repressionen vergleichbar. Das liegt – trotz der traurigen Lage heute – auf der Hand. Der wichtigste Unterschied ist der Kontext, der Zustand der Gesellschaft. Auch die Ziele des Staates, der die Repressionen verübt, sind jetzt andere.

Ein grundlegendes Merkmal der Repressionen unter Stalin bestand darin, dass die gesamte Gesellschaft beteiligt war – erzwungenermaßen zwar, gleichsam auch durch Repression, aber dennoch beteiligt. Die großen Prozesse fanden stets vor dem Hintergrund von Belegschaftsversammlungen statt, die sich gehorsam über die «Söldlinge der Bourgeoisie», «rechten und linken Abweichler», «entwurzelten Kosmopoliten», «mordenden Ärzte» usw. empörten und sie an den Pranger stellten. Selbst kleinere Verfahren erforderten Öffentlichkeit, Reue von Angehörigen und Betriebsversammlungen, auf denen die Betroffenen verurteilt und gebrandmarkt wurden.

Die Angst vor Repressionen war allgemein und jedem bewusst, auch wenn die Menschen natürlich unterschiedliche Einschätzungen des Geschehens haben mochten. Angst ist nicht die beste Grundlage für Solidarität. Die Repressionen hatten und haben bis heute verheerende Auswirkungen auf das Bewusstsein und gesellschaftliche Engagement der Bürger*innen Russlands. Die heutige Atomisierung der Gesellschaft hat ihre Wurzeln in den damaligen Repressionen. Die nachfolgenden Jahre haben nicht zur Entwicklung einer Zivilgesellschaft beitragen können. Die Tauwetter-Periode und die Perestroika waren zu kurz, um einer Mehrheit der Bürger*innen die Erfahrung offener, öffentlicher Politik zu vermitteln. In beiden Fällen wurde die Politik viel zu schnell wieder intransparent und fand hinter verschlossenen Türen statt.

Gleichzeitig hatte es in der Stalinära positive Grundlagen für eine Konsolidierung der Gesellschaft und reale Anstöße für Solidarität gegeben. Das Land entwickelte sich, die Menschen waren durch die Beteiligung an dieser Entwicklung miteinander verbunden. Und es gab tatsächliche Erfolge, die unweigerlich für Enthusiasmus sorgten. Die ideologische Maschinerie arbeitete zwar auf vollen Touren, doch gab es darüber hinaus Vorstellungen, die eindeutig attraktiv, weil schöpferisch und humanistisch waren. Und wenn die Ideologie der Politik und den Politiker*innen zu Diensten war, so förderten Bildung, Aufklärung, Kultur und Kunst eine Verbreitung der Ideen des Kommunismus, des Humanismus, der Solidarität. Die Ideen reichten jedoch nicht aus, um die Menschen dazu zu bringen, den Kreis der Repressionen aus eigenen Stücken zu sprengen und sich gegen die Ordnung des Staates zu stellen, der sie ausübte. Diejenigen, die den Traum von einer neuen gerechten Gesellschaft ernst nahmen, die sich dem kommunistischen Aufbau und dem Humanismus verschrieben hatten, konnten wenigstens das Geschehen einschätzen und sich der Wahl bewusst werden, vor die sie die Realität stellte. Sie konnten diese Wahl bewusst treffen. Durch Repressionen lässt sich Reflexion nicht verbieten. Und wenn die meisten sich für Schweigen und Gehorsam entschieden, dann lebten sie zumindest innerlich mit dieser Wahl, wobei sie sich sagten: Das ist im Namen des Kommunismus, im Namen des Landes, oder schließlich um der Familie willen.

Ich wiederhole: In der Stalinzeit hat sich das Land entwickelt. Die heutigen Apologet*innen der Repressionen halten sie entweder für einen hinnehmbaren Preis für die Entwicklung des Landes und die kollektiven Leistungen, oder sie neigen wie Alexander Dugin[3] dazu, die Erfolge der UdSSR in der Wirtschaft, der Bildung und der Kultur sowie in der Außenpolitik und im Zweiten Weltkrieg eben den Repressionen zuzuschreiben. So schrieb Dugin: «Solang es Repressionen gab, entwickelte sich das Land, als die Repressionen aufhörten, zerfiel das Land». Er und Seinesgleichen wollen nicht verstehen, dass sich das Land trotz der Repressionen entwickelt hat und nicht dank der Repressionen oder unberührt davon. Es hat sich eben entwickelt, weil es in der Gesellschaft Initiative und Engagement gab. Das Regime entwickelte im Namen der Entwicklung des Landes seine eigenen Formen von Solidarität: Solidarisch wurde der Fünfjahresplan in vier Jahren erfüllt und solidarisch wurden Verräter verurteilt. Im Sinne des eigenen Machterhalts war die Sowjetmacht bestrebt, den von ihr selbst geschaffenen Kollektivismus und die soziale Initiative unter Kontrolle zu halten. Es gab in der UdSSR einen drastischen Widerspruch, der sich während ihres gesamten Bestehens weiterentwickelte: Bildung und Aufklärung, Kultur und Ideologie förderten gesellschaftliches Engagement und gleichzeitig setzte das politische System diesem Engagement derart enge Grenzen, dass es sich nicht voll entwickeln konnte.

Das heutige Regime in Russland braucht keine Kollektive. Mehr noch: Jede Art der Solidarität oder gar Selbstorganisation wird vom Regime als potenzielle Gefahr betrachtet. Im heutigen Russland gibt es keine Widersprüche – Ende der Botschaft: Jedes gesellschaftliche Engagement, zumal wenn es kollektiv erfolgt, wird gegeißelt. Das Regime in Russland setzt alles daran, die ohnehin schon atomisierte Gesellschaft noch weiter zu spalten. Die Wissenschaftscommunity ist bereits praktisch zerschlagen: Rankings, Arbeitsverträge mit leistungsabhängiger Bezahlung, eine Entlohnung, die vom Gutdünken der Vorgesetzten abhängt – die gesamte Organisation in Bildung und Wissenschaft ist auf die Desintegration von Gemeinschaft ausgerichtet. Gewerkschaften werden verfolgt und gesellschaftliche Organisationen zerschlagen. Jetzt ist es sogar gefährlich, sich für Wale oder Kätzchen einzusetzen, wenn man dies in einer Gruppe macht.[4]

Damit nähern wir uns einem der wichtigsten Elemente, die hinter der Logik der Repressionen im heutigen Russland stehen: Sie sind konsequent gegen jedwede Selbstorganisation von Bürger*innen gerichtet, gegen jeden Versuch, Menschen im Sinne irgendeines Gemeinwohls zu organisieren. Ein markantes, aktuelles Beispiel ist die Verfolgung der Wahlbeobachterbewegung «Golos», die in Russland bereits als «ausländischer Agent» eingestuft wurde. Am 17. August erfolgten bei Koordinator*innen der Bewegung Hausdurchsuchungen in Woronesch, Nowgorod, Rjasan, St. Petersburg, Tambow und Tscheljabinsk. Gegen Grigori Melkonjanz, den Ko-Vorsitzenden der Bewegung «Golos» wurde ein Verfahren wegen «Organisation der Tätigkeit einer unerwünschten Nichtregierungsorganisation» eröffnet. [5]

In den Medien ließ sich eine hochinteressante Koinzidenz von Meldungen beobachten: Am 5. August 2023 gab Dmitri Peskow, der Pressesprecher des Kreml, der New York Times ein Interview, in dem er unter anderem seine Ansichten zu Demokratie und Wahlen äußerte. In den Medien wurde er wie folgt zitiert: «Bei unseren Präsidentschaftswahlen geht es nicht um Demokratie, sondern um kostspielige Bürokratie. Herr Putin wird im kommenden Jahr mit über 90 Prozent der Stimmen wiedergewählt». Das war ehrlich, das war mutig, doch war es selbst für unsere völlig antidemokratische Agenda ein wenig zu viel der «Aufrichtigkeit». Bereits am 6. August begann Peskow sich zu rechtfertigen, er sei falsch verstanden worden. Er wiederholte seine Aussage wörtlich: «Die Konsolidierung rund um den Präsidenten ist beispiellos, und schon jetzt können wir sagen: Falls er [bei den Präsidentschaftswahlen] kandidiert, wird er von einer überwältigen Mehrheit wiedergewählt, und die Wahlen bringen – theoretisch – nur unnötige Kosten mit sich». Allerdings, so Peskow gegenüber den Journalist*innen, habe «der Präsident darauf bestanden, dass die Wahlen unbedingt abgehalten werden, da die Demokratie das erfordere.» Natürlich beeilte sich der Pressesprecher des Präsidenten zu betonen, dass das seine persönliche Ansicht sei, auch wenn sich mir nicht ganz erschließt, warum er die in einem Interview äußert, das er explizit als Pressesprecher des Präsidenten gibt. An einen zufälligen Versprecher Peskows mag ich nicht glauben. Es handelte sich wohl eher um ein Signal an die Gesellschaft, dass die bestehende Ordnung erhalten bleibt. Und es war eine Anweisung an die Gouverneur*innen, bei den Wahlen 2024 für die nötigen Ergebnisse zu sorgen.

Keine zwei Wochen nach Peskows Äußerungen wurde der Schlag gegen «Golos» geführt, gegen eine Organisation, die nicht ohne Erfolg Wahlbeobachtung betrieben hat. In ihr hatten sich Menschen zusammengeschlossen, um möglichst effektiv ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Sie begeisterten sich für eine gesellschaftlich wichtige Sache, ließen ihr Privatleben beiseite und schlossen sich einem solidarischen Netzwerk an. Und genau das war der Grund für die Attacke gegen «Golos». Offenbar ist das Statement von Peskow eben doch ein Manifest gewesen: Es kann schließlich nur eine gesellschaftliche Konsolidierung geben, nämlich die um den Präsidenten. Doch selbst die Verehrung des Präsidenten darf nicht kollektiv erfolgen, sondern hat individuell stattzufinden. Hier sei an das traurige Schicksal von Igor Girkin (alias Strelkow) erinnert. Ich bin mir sicher: Selbst wenn Girkins «Club der wütenden Patrioten» [6] beispielsweise «Club der begeisterten Patrioten» genannt worden wäre, hätte man ihn früher oder später hinter Gitter gebracht. Wenn sich Girkin als «aggressiver Patriot» oder «Terminator-Patriot» bezeichnet hätte, hätte man ihm vielleicht verziehen.

Die hartnäckige Verfolgung von Selbstorganisation ist einigermaßen erstaunlich, da ja die Gesellschaft in Russland heute prinzipiell nicht solidarisch ist. Das Regime geht aber offensichtlich davon aus, dass gesellschaftliche Initiative ansteckend ist, weswegen sämtliche Quellen hierfür zunichte gemacht werden müssen.

Die russische Gesellschaft nimmt die Repressionen so duldsam hin wie seinerzeit die sowjetische. Dabei handelt es sich jedoch um zwei grundlegend unterschiedliche Arten von Duldsamkeit. In der UdSSR unter Stalin war es die Angst, die die Menschen von Protesten gegen die Repressionen abhielt. Heute besteht der wichtigste Faktor für Duldsamkeit darin, dass die Menschen sich hermetisch auf ihr Privatleben konzentrieren. Die Menschen in der Sowjetunion versuchten, sich selbst oder anderen gegenüber, die Angst mit den Interessen des Landes oder der Sorge um die Familie zu rechtfertigen. Die Mehrheit jedoch empfand sie als etwas Beschämendes. Genauer gesagt, wurde die Angst, besonders in der Tauwetter-Periode und zum Teil während der Perestroika, als Kapitulation gegenüber der Repressionsmaschine wahrgenommen. Und als etwas, was die Persönlichkeit bricht oder – je nach Art des von der Angst diktierten Handelns – eine Person entmenschlicht. Das ist auf bemerkenswerte Weise in Film und Literatur reflektiert worden. Heute erklären die Menschen in Russland ihre Passivität oft durch schlichte Angst vor Repressionen, wobei sie davon ausgehen, dass das ein normales Phänomen sei, ein Ergebnis von Rationalität und Klugheit. Reue oder Bedauern bleiben dabei aus. Interessant ist, dass die Anhänger*innen Präsident Putins und der «militärischen Spezialoperation» keineswegs leugnen, dass im Land die Meinungsfreiheit verletzt wird und Andersdenkende verfolgt werden. Das wird dann entweder durch die Lage im Land gerechtfertigt oder diese Dinge werden nur unkritisch wahrgenommen und dienen nicht als Orientierungspunkte für das alltägliche Handeln.

Allerdings kann die Gesellschaft nicht völlig ins Koma verfallen, was dem Staat sehr wohl bewusst ist. Und hier lässt sich ein weiteres wichtiges Element der Logik der Repressionen ausmachen: Die Verfolgung und Diskreditierung von Menschen, die über Einfluss auf ein mehr oder weniger breites Publikum verfügen. Für besonders gefährlich hält das Regime dabei Personen, die ein sozial und politisch heterogenes Publikum haben.

Einige markante Beispiele: Der Politiker Ilja Jaschin wurde im Dezember vergangenen Jahres zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er war der Verbreitung von Falschinformationen über die russischen Streitkräfte beschuldigt worden – Jaschin hatte viel über das Vorgehen der russischen Armee berichtet, unter anderem auch über Butscha. Sein Youtube-Kanal hat anderthalb Millionen Abonnent*innen. Das Wichtigste aber ist, dass Jaschin kommunaler Abgeordneter in Moskau sowie in einer Vielzahl gesellschaftlicher und politischer Bewegungen mit liberaler Ausrichtung aktiv war. Viele kennen ihn, auch Menschen, die der Politik fernstehen. Er war als Abgeordneter sehr engagiert.

Bereits im Sommer 2022 war Alexej Gorinow, ein anderer kommunaler Abgeordneter aus Moskau, zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Die Anklage war die gleiche: Verbreitung von Falschinformationen über die Armee.

Alexej Nawalny, der bereits zwei Jahre einsitzt, wurde am 4. August 2023 zu einer weiteren Haftstrafe verurteilt: 19 Jahre Strafkolonie unter «besonderen», also besonders strengen Haftbedingungen. Nawalnys Anhängerschaft war ebenfalls sehr breit gestreut und vielfältig.

Am 25. Juli 2023 wurde der Soziologe und Politologe sowie Chefredakteur des Kanals und Internetportals «Rabkor» (dt.: «Arbeiterkorrespondent»), Boris Kagarlickij, wegen Rechtfertigung von Terrorismus festgenommen. Kagarlickij hatte ein sehr heterogenes Publikum erreicht: Studierende der Moskauer Hochschulen, regionale Aktivist*innen, die sich eine gewisse oppositionelle Haltung bewahrt hatten, sowie Parlamentsangeordnete auf regionaler und sogar föderaler Ebene. Darüber hinaus ist Kagarlickij auch in der internationalen linken Community bekannt.

Am 7. August 2023 wurde auch der bei jungen Russ*innen sehr beliebte Schriftsteller Dmitri Gluchowski in Abwesenheit zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt, ebenfalls wegen Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee bzw. deren «Diskreditierung».

Die Logik ist hier klar erkennbar: Es werden Personen neutralisiert, die für einflussreiche und unterschiedliche Teile der Gesellschaft in Russland interessant sind. Das Regime setzt darauf, dass die Urteile abschrecken. Gleichzeitig ist es zumindest bislang nicht bestrebt, wirklich alle Kontakte der Verfolgten zur Gesellschaft zu unterbinden. Jaschin führt mit Hilfe von Mitstreiter*innen seinen Kanal weiter; Nawalny übermittelt seine Briefe in die Freiheit. Nach der jüngsten Verurteilung veröffentlichte er sein von Intellektuellen in Russland breit diskutiertes «Manifest der Angst und des Hasses». Kagarlickij unterhält aus dem Gefängnis heraus einen Schriftwechsel mit seinem Publikum. Dem Regime scheint die starke Apathie der Gesellschaft in Russland bewusst zu sein. Und es hofft wohl, die Menschen durch absurd harte Urteile gegen kaum bekannte Personen ausreichend abschrecken zu können. In der Logik der russischen Obrigkeit sollen die Anhänger*innen zurückschrecken oder zumindest ihr Engagement bremsen. Das Publikum soll nicht wachsen.

Um dies sicherzustellen, wird mit Diskreditierung gearbeitet. So wurde Nawalny der Beleidigung von Veteranen und des Extremismus beschuldigt. Kagarlickij wurde nach seiner Verhaftung in das Verzeichnis juristischer und natürlicher Personen aufgenommen, die eine extremistische Tätigkeit verfolgen oder daran beteiligt sind.

Allem Anschein nach wird die Vielfalt des politischen Systems weiter beschnitten; es wird versucht, den jetzigen Zustand zu konservieren. In Theorie und Praxis gilt jedoch, dass Vielfalt das Überleben eines Systems befördert. Das Putinsche System glaubt allerdings nicht an Theorien und es zieht keine Lehren aus der Praxis. Zwei Elemente der Logik der Repressionen in Russland haben wir bereits festgestellt: Da ist zum einen die Verfolgung von Personen mit einem mehr oder weniger erheblichen Einfluss auf ein heterogenes Publikum und zwar mit dem Ziel, diesen Einfluss zu reduzieren, das Publikum einzuschüchtern und es nicht anwachsen zu lassen. Zum anderen soll – unabhängig vom Inhalt der Tätigkeit – jedwede Selbstorganisation unterbunden werden. Hier gibt es allerdings kein vollkommen konsequentes Vorgehen, weil sich auch die allgemeinen Schwächen der Verwaltung im heutigen Russland zeigen. Es fehlen echte Ziele und es fehlt der Wille. Es herrscht Willkür und von der ist schwerlich ein konsequentes Vorgehen zu erwarten. Mit einem flächendeckenden Vorgehen hat es die russische Regierung nicht eilig. Erstens, weil es hierfür an den organisatorischen Kräften mangelt. Und zweitens, weil man auf die Duldsamkeit und die Passivität der Bevölkerung setzt. Diese Hoffnung ist jedoch nicht allzu stark, daher folgt man – zur Sicherheit – der Logik von Repressionen. Also nötigt selbst eine derart schlafende und duldsame Gesellschaft wie die russische das Regime zu außerordentlicher Unruhe und Anspannung. Allem Anschein nach ist sich das Putinsche Regime seiner selbst nicht sonderlich sicher. Es versucht zu erreichen, dass die Furcht der Bevölkerung vor ihm größer ist als die eigene Angst des Regimes vor engagierten Bürger*innen.

Übersetzung von Hartmut Schröder & Daniel Fastner für Gegensatz Translation Collective.


[1] Der Theaterregisseur Jewgeni Berkowitsch und die Dramaturgin Swetlana Petrijtschuk wurden im Mai 2023 festgenommen und der Rechtfertigung von Terrorismus beschuldigt. Beide befinden sich in Haft, die Ermittlungen laufen. Anlass war das dokumentarische Schauspiel «Finist – heller Falke», in dem die Geschicke von Russinnen erzählt werden, die Frauen von Terroristen wurden.

[2] Kagarlickij ist ein linker Publizist, Soziologe und Politologe, Marxist, Redakteur des Kanals und Portals «Rabkor» (dt.: «Arbeiterkorrespondent») sowie Professor an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (begründet von Teodor Schanin).

[3] Sowjetischer und russischer Philosoph, Politologe, Soziologe und rechter Publizist. Er ist vehementer Befürworter des Krieges in der Ukraine und vertritt eine Ideologie der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen.

[4] Im März 2023 erklärte das Justizministerium der Russischen Föderation den World Wildlife Fund (WWF) zu einem «ausländischen Agenten». Im Juni wurde der WWF in Russland zu einer unerwünschten Organisation erklärt. Begründung: Der WWF behindere die Entwicklung von Infrastruktur- und Industrieprojekten.

[5] «Golos» stellt seit 2016 keine Organisation dar, sondern agiert stattdessen als «Bewegung». Währenddessen ist die «Allrussische gesellschaftliche Bewegung zum Schutz der Interessen der Wähler*innen GOLOS» lediglich als «ausländischer Agent» eingestuft worden und noch nicht als «unerwünschte Organisation». Allerdings hatte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation als unerwünscht Organisationen wie das European Network of Election Monitoring Organizations (ENEMO) eingestuft, das früher mit Golos in Verbindung gestanden hatte. 2021 hatte die Bewegung «Golos» das ENEMO verlassen.

[6] Igor Iwanowitsch Strelkow (mit eigentlichem Namen Igor Wsewolodowitsch Girkin) ist ein russischer Militär, Politiker, Publizist, Militärexperte, Militärblogger und Kritiker des russischen Verteidigungsministeriums. Er war von 1996 bis 2013 Angehöriger des FSB und wurde 2014 Verteidigungsminister der «Volksrepublik Donezk». 2022 befand ihn ein niederländisches Gericht für mitschuldig am Abschuss der malaysischen Boeing des Fluges MH 17 und verurteilte ihn zu lebenslanger Haft. Der «Club der wütenden Patrioten» ist eine russische nationalistische Organisation, die 2023 von Girkin gegründet wurde. Ihre Mitglieder befürworten den russischen Einmarsch in die Ukraine, kritisieren aber die Politik der russischen Regierung. Girkin wurde am 21. Juli 2023 wegen Aufrufen zu extremistischer Tätigkeit verhaftet.