Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus ... muss sich gegen jede Form des Antisemitismus zur Wehr setzen

Erinnerungen an den 9. November 1918 und 1923 im Schatten des 7. Oktober 2023

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Die Deutschnationale Volkspartei stand im politischen Spektrum der Weimarer Republik sehr weit rechts. Sie war antidemokratisch, nationalistisch, eine Partei der alten Eliten und Anhänger*innen der monarchistischen Ordnung, eine Partei der Ungleichheit.

1919 warb die Deutschnationale Volkspartei, die man in vielen Punkten mit der AfD vergleichen kann und dabei zum Ergebnis kommen wird, dass beide Parteien sich strukturell wie ideologisch ähneln, mit einem Wahlplakat für sich. Darauf abgebildet: zwölf Personen.

Aber es sind nicht die eigenen Kandidaten, die in schwarz-weiß portraitiert sind. Es sind die politischen Gegner, versammelt unter der Überschrift «Umsturz ihr Stern! Bleiben sie Herren?». Und alle Abgebildeten wirken abstoßend: Krause Haare, verschlagener Blick, große Nasen und abstehende Ohren. Das Plakat ist wie die DNVP selbst: antisemitisch. Und das auf mehreren Ebenen.

Christian Dietrich ist Privatdozent an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina. Er habilitierte sich 2020 mit einer Arbeit über Positionen der deutschen Sozialdemokratie zu Antisemitismus und Zionismus in der Weimarer Republik.

Es benutzt nicht nur eine Bildsprache des Judenhasses, was schlimm genug wäre, es offenbart auch ein antisemitisches Weltbild, in der Jüd*innen mächtige Verschwörer und Umstürzler vermeintlich natürlicher, historisch gewachsener Ordnungen seien. «Umsturz ihr Stern» - daneben abgebildet der Davidstern - «Bleiben sie Herrn». Der Vorwurf lautet: Die Abgebildeten hätten sich an die Macht gesetzt, jetzt würden sie sie zu ihrem Vorteil einsetzen.

Zielt die Bildsprache darauf ab, den Gegner zu entmenschlichen, ihn auszunehmen aus der Gleichheit aller, die Menschenantlitz tragen, indem man ihm das Menschliche und also auch die menschliche Erscheinung nimmt, stilisiert die Verschwörungserzählung jede Ablehnung der neuen demokratischen Ordnung zu einer legitimen.

Der Untertitel des Plakates «Macht Deutschland für die Deutschen frei», eröffnet bereits, dass der Wahlzettel nur ein Mittel der antisemitischen Selbstbefreiung ist. Was aber, wenn die Wahlergebnisse hierfür nicht reichen? Ist dann Gewalt legitim? In der Geschichte der Weimarer Republik war sie es.

Auf dem Plakat sind zwölf Personen abgebildet. Abgesehen von Matthias Erzberger haben alle Abgebildeten einen jüdischen Hintergrund, auch wenn sie sich vom Judentum gelöst hatten. Eugen Leviné, Paul Hirsch, Kurt Eisner, Karl Radek, Oskar Cohn, Hugo Sinzheimer, Georg Gradnauer, Otto Landsberg.

Politische bildeten sie das breite Spektrum vom rechten Flügel der Sozialdemokratie bis zur Kommunistischen Partei ab, einige bekleideten Regierungsposten, andere agierten aus der Illegalität. Kurzum: Die Abgebildeten hatten wenig miteinander gemein. Außer dies: Man beschimpfte sie als Juden und sie waren im weitesten Sinne Sozialisten.

Es wird in der Forschung nicht besonders oft erwähnt, aber es muss – regelmäßig auch unter Linken – gesagt werden: Der Antisemitismus trat seit Beginn der Weimarer Republik auch als Antisozialismus auf. Er musste es, denn der Judenhass lehnt die Gleichheit der Menschen ab, er unterscheidet nach Geburten, nach Hoch- und Minderwertigen, nach Autochthonen und Zugewanderten. Selbstverständlich, dass sich antisemitische Parteien gegen die politische Ordnung stellten, die zwar keine soziale, zumindest aber bürgerliche Gleichheit versprach, dass sie sie als «Judenrepublik» verunglimpften und auch solche Politiker als «Judenknechte» beschimpften, die wie Matthias Erzberger gar keine jüdischen Eltern hatten, sondern etwa Katholiken waren.

Das Flugblatt ist von 1919! Es ist nicht von 1930, aus der Aufstiegsphase der NSDAP, es ist nicht von 1933, der Phase der sogenannten nationalen Revolution. Es steht am Beginn einiger demokratischer Jahre, es wurde verbreitet kurz nachdem die alte Ordnung zusammengebrochen war. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 kamen die Deutschnationalen auf kaum mehr als 10 Prozent der Stimmen. Sie steigerten ihren Stimmenanteil bei den kommenden drei Wahlen. Bei der Reichstagswahl im Dezember 1924 erreichte sie mehr als 20 Prozent, auch wegen ihrer antisemitischen Positionierung. Denn das Flugblatt stand nicht allein. Es war Teil einer Kampagne. Hermann Müller-Franken, später sozialdemokratischer Reichskanzler, erinnerte sich 1928, an antisemitische Flugblätter in den Novembertagen des Jahres 1918. Ich zitiere aus seinen Schriften:

«Im Westen Berlins waren Flugblätter verbreitet und angeklebt worden, die in aufreizender Weise gegen die Juden hetzten. Gewisse Konventikel der Rechtsparteien suchten damals den Antisemitismus in Deutschland neu zu beleben. Sie wollten so die niedrigsten Instinkte des patriotischen Mobs gegen die sozialdemokratische und demokratische Partei mobilisieren. Als Parole gaben sie aus: «Deutschland den Deutschen».»

Die Beobachtung ist nur teilweise zutreffend. Korrekt ist sie, weil sie preisgibt, dass der Antisemitismus schon sehr früh politische Mobilisierungsstrategie war. Falsch, weil Hermann-Müller Franken den Antisemitismus 1928, in einer Phase der scheinbaren politischen Stabilität, für erledigt hielt.

Arbeiter(*innen)bewegung und Antisemitismusabwehr

Aber mag man da mit dem Wissen der Nachgeborenen fragen: Haben die Sozialist*innen den Antisemitismus denn gar nicht ernst genommen?

Das kann man so nicht sagen. Bis 1924 mehrten sich im Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei, dem Vorwärts, die alarmierenden Meldungen über das Anwachsen des Antisemitismus, und auch die Unabhängige Sozialdemokratie erkannte im Judenhass einen Versuch, gegen die Arbeiter*innenbewegung und die Demokratie zu mobilisieren. Sie machte ihn bei Parteitagen und im Reichstag regelmäßig zum Thema. ‚Judenhetze‘ betraf in den Jahren nach 1918 aus sozialdemokratischer Sicht nicht ausschließlich die deutschen Juden, deren Entrechtung und Ausgrenzung die Hetzenden offen forderten, sondern auch das eigene politische Lager. Dass sich sozialdemokratisch gesinnte Arbeiter*innen antisemitischen Forderungen nicht leichtfertig anschlossen, war auch unter Antisemiten bekannt, die daraufhin mit personifiziertem Antikapitalismus und Schriften, die in eine vermeintliche jüdische Elite der Arbeiterbewegung und einer nichtjüdischen Basis unterschieden, reagierten.

Aber wie ließ sich der Antisemitismus wirksam bekämpfen? In erster Linie griff die Sozialdemokratie zu aufklärerischen Mitteln (Broschüren, Schulungen und Reden), um das eigene Milieu abzuschirmen und ein Überlaufen zu verhindern. Das zeitigte manchmal ganz unmarxistische, aber nicht unsympathische Blüten. Anton Fendrich legte 1920 eine schmale Broschüre vor, deren Ziel es war, einer Erosion des sozialdemokratischen Lagers entgegenzuwirken. Der Ton seiner Ausführungen war christlich-religiös, der Antisemitismus wurde wenig materialistisch als «Mangel großer Menschenliebe» charakterisiert und die Erörterung bediente sich – der badischen Sozialdemokratie typisch – staatsbürgerlich-liberaler Argumente. Seinen Ausgangspunkt fand der Text in der Sorge, dass «in langjähriger Arbeit erprobte Unteroffiziere und bewährte Hauptleute der Arbeiterschaft» sich «dem Antisemitismus ergeben» könnten. Kampf gegen die Judenfeindschaft, das hieß für die Sozialdemokratie in den ersten Jahren der Weimarer Republik: Immunisierung der eigenen Anhängerschaft, Verteidigung der eigenen Organisationen.

Die Freiheit, das Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie, erkannte im Antisemitismus, dessen Auftreten sie ebenfalls in der Revolutionsphase 1918/19 konstatierte, ein Mittel zur Unterwerfung der Arbeiter*innenbewegung und gleichermaßen eine reale Gefahr für Jüdinnen und Juden. Antisemitismus nahm die Zeitung in der Berliner Polizei, den militärischen Verbänden, den bürgerlichen Parteien, in erster Linie aber bei den Deutschnationalen wahr. Letztere hätten den Judenhass als politisches Instrument eingeführt, um sich politischen Einfluss zu sichern. Dabei spekulierten die Deutschnationalen bei ihrem Vorgehen «auf die schnelle Vergesslichkeit der Massen, auf die plumpsten Instinkte des Nationalismus und Antisemitismus». Umso größer war die Empörung der Freiheit darüber, dass die Mehrheitssozialdemokratie – und namentlich Gustav Noske – sich nicht ausreichend stark gegen den Antisemitismus in der Reichswehr positionierte, zumal dessen zunehmend gewalttätige Qualität offenkundig war.

Der Antisemitismus war an verschiedenen Orten und in verschiedenen Regionen des Reiches unterschiedlich stark ausgeprägt. In Bayern war er besonders laut und weit verbreiten, München war ein Zentrum des Judenhasses. Und der Antisemitismus bot den verschiedenen rechtsradikalen, völkischen und deutschnationalen Gruppierungen bei ihrem Streben zur Macht eine ideologische Klammer.

Die Ereignisse des 8. und 9. November 1923, die Tage des sogenannten Hitler-Ludendorff-Putsches, sind weitestgehend bekannt. Der Putsch misslang, der Marsch auf Berlin endete in der Münchner Innenstadt. Aber der Putsch hatte einen Vorlauf. Am 14. August 1923 notierte Erich Mühsam, inhaftiert im Gefängnis Niederschönenfeld, in sein Tagebuch: «Vorgestern Abend gab es schon wieder eine antisemitische Demonstration vor der Festung, die selbstredend wieder keine Störung durch die bewaffneten Kräfte der Verwaltung erfuhr… Im letzten Ständchen erschwoll es schmetternd: ‚Schmeißt sie raus die Judenbande aus dem deutschen Vaterland, und wir wollen und wir brauchen keine Judenrepublik.» Und man sollte als progressiv denkender Mensch wissen, dass es vollkommen falsch wäre, den Antisemitismus nur bei völkischen Kreisen zu suchen. In Bayern war er längst in weiten Teilen der Polizei, der Verwaltung, der Regierung verbreitet. Der «Generalstaatskommissars» Gustav von Kahr, der so etwas wie ein bayerischer Ministerpräsident mit diktatorischen Vollmachten war, hatte zu seinem Regierungsantritt betont, dass er «sich nur auf Männer deutschen Stammes» stützen werde und begann im Oktober 1923 mit der Ausweisung und Abschiebung jüdischer Familien. Wohlgemerkt nicht nur Personen, die kürzlich nach Bayern gekommen waren, sondern von Menschen, die zum Teil bereits seit Jahrzehnten in München lebten. Sie wurden von einer Woche auf die nächste abgeschoben.

Die Aktion hat der antisemitischen Stimmung keinen Abbruch getan, sondern sie noch weiter angeheizt. Als dann am Abend des 8. November im Bürgerbräukeller Von Kahr und Hitler die Absprache trafen, dass gemeinsam geputscht wird – eine Vereinbarung, die Von Kahr noch in der Nacht zurücknahm – , da war das nicht nur Auftakt zu einer offenen Auseinandersetzung um die politische Macht. Es war auch der Beginn von Gewalt. Die Redaktionsräume der sozialdemokratischen ‚Münchner Post‘ wurden zerstört, bekannte Sozialdemokraten und Kommunisten wurden verhaftet und misshandelt, die Putschisten nahmen jüdische Geiseln und brachten sie u.a. in den Bürgerbräukeller.

Zurück zum Plakat von 1919. Was wurde aus den Abgebildeten? Karl Radek wurde im sowjetischen Gulag umgebracht. Towia Akselrod während der Stalinschen Säuberungen 1938. Aber die Anderen?

Kurt Eisner war bereits im Februar 1919 von Anton Graf von Arco auf Valley ermordet wurden, Oskar Cohn starb 1934 im Genfer Exil, Paul Hirsch 1940 in einem sogenannten Judenhaus in Berlin, Georg Gradnauer wurde nach Theresienstadt deportiert, Eugen Leviné war von einem Bayrischen Militärgericht zum Tode verurteilt und im Juni 1919 erschossen worden, Matthias Erzberger wurde von Rechtsterroristen im Februar 1921 ermordet. Wer nicht ermordet oder nach 1933 in Deutschland verfolgt wurde, der musste ins Exil.

Geschichtswissenschaftliche Debatten bewegen sich oft in den Spannungsfeldern von Aktualisierung und Historisierung sowie von Kontinuität und Kontingenz. Sind die vergangenen Ereignisse wirklich vergangen oder wirken sie fort, lassen sich Parallelen zur Gegenwart finden, salopp formuliert: kann man aus der Geschichte lernen?

Interessanter als diese Frage, deren Beantwortung ich Ihnen überlasse, ist eine andere, die von Kontinuität und Kontingenz. Mein Eindruck: der 9. November 1923 ist keine direkte Folge des 9. November 1918. Wo Menschen zusammenkommen, wirkt keine Zwangsläufigkeit, aber es gibt Wahrscheinlichkeiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus einer antisemitischen Agitation Gewalt wird, halte ich für hoch. Die Wahrscheinlichkeit, dass Antisemitismus alle verfolgt, die «als jüdisch» gelten, halte ich für hoch. Die Wahrscheinlichkeit, dass wer dem Antisemitismus gegenüber gleichgültig eingestellt ist, sich auch rasch vom Ideal der Gleichheit verabschiedet, halte ich für hoch.

Ganz sicher scheint mir heute nur dies: dass jede*R, der für Gleichheit und Gerechtigkeit ist, sich gegen jede Form des Antisemitismus zur Wehr setzen muss.