Interview | Krieg / Frieden - Israel - Palästina / Jordanien - Menschenrechte - Krieg in Israel/Palästina Nur eine «Tragödie des Krieges»?

Wie hält es die Bundesregierung mit den Genfer Konventionen? Gespräch mit Riad Othman von medico international

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1. November 2023: Einen Tag nach israelischen Luftangriffen auf Häuser im Flüchtlingslager Dschabalia im nördlichen Gazastreifen suchen Helfer*innen nach Opfern.
Der Sprecher der Israel Defence Forces  Lt. Col. Richard Hecht bestätigte auf CNN, dass die Armee bei dem Luftschlag in Dschabalia am 31. Oktober vorher wusste, dass es zahlreiche zivile Opfer geben würde. Er bezeichnet dies lapidar als eine «Tragödie des Krieges». 1. November 2023: Einen Tag nach israelischen Luftangriffen auf Häuser im Flüchtlingslager Dschabalia im nördlichen Gazastreifen suchen Helfer*innen nach Opfern., Foto: picture alliance / REUTERS | STRINGER

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international in Berlin. Zuvor war er als medico-Büroleiter für Israel und Palästina vor Ort. Karin A. Gerster ist Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Palästina & Jordanien, mit Sitz in Ramallah / besetztes Westjordanland. Sie sprachen miteinander am 9. November 2023, 15 Tage vor Beginn der Waffenpause am 24. November. Die Waffenpause endete am 30. November. Seitdem wird der Krieg mit unverminderter Gewalt  fortgesetzt.
 

Karin Gerster: medico ist in vielen Ländern, wie zum Beispiel Afghanistan aktiv. Hilfsorganisationen wie medico leisten humanitäre Hilfe in Katastrophengebieten und Kriegen. Seit dem 7.Oktober verschlechtert sich die ohnehin schon katastrophale humanitäre Lage in Gaza drastisch. Schon vor dem Krieg im Oktober überlebten die Menschen in Gaza nur mit einer täglichen Unterstützung von humanitären Hilfsgütern von 500 LKWs. Wie sieht die momentane humanitäre Lage in Gaza heute, am 9. November, aus?

Riad Othman: Du hast gerade die 500 Lastwagen erwähnt – nur um Missverständnisse zu vermeiden – das waren nicht 500 Lastwagenladungen an humanitärer Hilfe, sondern durchschnittlich 500 Lastwagenladungen mit allen möglichen Gütern täglich, die den Markt in Gaza versorgten. Wir sehen seit 7. Oktober, dass erst kein humanitärer Zugang mehr bestand und dann sehr schleppend geschaffen wurde, um die Menschen zu versorgen. Der Markt in Gaza ist leer. Es gibt kaum Lebensmittel zu kaufen. In den Krankenhäusern gibt es kaum noch Medikamente, auch kaum Schmerz- oder Betäubungsmittel. Wundauflagen für schwere Brandwunden sind nicht mehr ausreichend vorhanden. Das heißt, es werden jetzt Operationen und zum Teil Amputationen ohne ausreichende oder ganz ohne Anästhesie durchgeführt. Es häufen sich Berichte von infizierten Wunden, da sie einfach nicht mehr ausreichend desinfiziert werden können.[1]

medico international ist eine Hilfs- und Menschenrechts-Organisation. Sie wurde 1968 in Frankfurt am Main gegründet, ist parteipolitisch unabhängig und konfessionslos. medico international setzt sich in solidarischer Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen vorwiegend in Afrika, Asien und Lateinamerika für eine gerechte Welt ein. Die Arbeit des gemeinnützigen Vereins wird zu einem großen Teil aus Spenden und Förderbeiträgen finanziert und ist durch die medico-Stiftung abgesichert.

Die Wasserversorgung ist nach wie vor eine absolute Katastrophe. Auch wenn Israel sagt, es habe im Süden des Gazastreifens die Wasserversorgung wieder angestellt, erreicht das nur einen Bruchteil der Bevölkerung.[2]

Humanitäre Hilfe ist menschenrechtlich und völkerrechtlich verankert. Kannst Du uns einen kurzen Überblick geben, wann, wie und wo das ist.

Das ist ein Bestandteil der Genfer Konvention. Das gilt für Konflikte zwischen staatlichen Akteuren, aber auch zwischen einem Staat wie Israel und nichtstaatlichen Akteuren wie der Hamas oder dem Islamischen Dschihad. Das verpflichtet Israel als Besatzungsmacht die Verantwortung für die humanitäre Versorgung der Bevölkerung zu übernehmen oder zumindest den Zugang zu Hilfe zu gewährleisten.

Das ist übrigens auch nach der Räumung bzw. nach dem Abzug der Siedler*innen im Jahr 2005 aus dem Gazastreifen weiterhin der Fall und ergibt sich aus Israels fortbestehendem Status als Besatzungsmacht, der wiederum in der effektiven Kontrolle begründet ist. Dazu gibt es ausführliche Ressourcen. Was vielleicht noch bemerkenswerter ist: Es gibt auch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs in Israel von 2008, das feststellt, dass Israel weiterhin humanitäre Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung in Gaza hat. Gegen dieses Urteil hat die israelische Regierung sich nie gewehrt. Sie hat das nie zurückgewiesen, wie der Völkerrechtler Prof. Kai Ambos in einem Artikel für den Verfassungsblog zur geltenden Rechtslage verdeutlicht hat. Wir sind im Moment in einer Situation, in der im gesamten Kriegsverlauf 650 Lastwagenladungen an humanitärer Hilfe nach Gaza gelassen wurden. Die internationale Gemeinschaft verlangt von Israel nicht einmal, selbst diese Hilfe zu leisten, wozu sie als Besatzungsmacht verpflichtet wäre, sondern dass Israel überhaupt humanitäre Zugänge gewährt.

Danke für diese wichtige Einordnung. Unsere deutsche Regierung hat sich bei der UN-Abstimmung Ende Oktober für eine humanitäre Feuerpause enthalten. Gleichzeitig sagte unsere Außenministerin Annalena Baerbock eine Soforthilfe für 50 Millionen Euro zu. Das war am 19. Oktober. Mit dem Geld sollen internationale Organisationen wie das Welternährungsprogramm, UN Kinderhilfswerk UNICEF und vor allem die UNWRA unterstützt werden. Sie sagte unter anderem auch, es brauche Orte der zivilen Infrastruktur, dazu gehörten Krankenhäuser und Schulen. Viele dieser Orte sind bereits von dem israelischen Militär gezielt angegriffen oder zerstört worden. Deutschland steht für Menschenrechte und hat die Genfer Konventionen unterschrieben. Was für eine Verpflichtung ergibt sich daraus für die Bundesregierung?

Die Bundesregierung ist als Vertragspartei unterschiedlicher internationaler Abkommen verpflichtet, Völkerrechtsverbrechen nach Kräften zu verhindern. Das ist Bestandteil der Genfer Konvention. Das steht in der Präambel des römischen Statuts, zu dem sich die Bundesrepublik verpflichtet hat. Die Bundesregierung müsste auf diplomatischem Weg alles in ihrer Macht Stehende tun, um alle Konfliktparteien – das heißt auch die Hamas, den Islamischen Dschihad und natürlich auch den Staat Israel daran zu hindern, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu begehen. Wenn solche Verbrechen dennoch begangen werden, gibt es sowohl bilateral als auch im internationalen Recht auch robustere Maßnahmen, um gegen solche Rechtsbrüche vorzugeben, angefangen beim Einfrieren von Konten, Einreiseverboten, Sanktionen und so weiter.

Das heißt, wenn ich mich nicht aktiv dagegenstelle, unterstütze ich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Ich würde es so sagen: Man kommt zumindest seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nach, das in der eigenen Macht Stehende dagegen zu tun. Wenn beim Vorliegen klarer Völkerrechtsbrüche nichts unternommen wird, dann ist das mindestens unterlassene Hilfeleistung.

Deutschland hat als Vertragspartei internationaler Abkommen eine Verpflichtung. Zeigt das nicht gerade wieder das Dilemma auf wie beispielsweise schon in Somalia, Kurdistan, Bosnien, Ruanda, Sudan? Wenn die Politik versagt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen, wird humanitäre Hilfe als Politikersatz instrumentalisiert?

Ja, das ist ein Stück weit so. Wir hatten Fälle, wo es sogar noch schlimmer war, in denen die Instrumentalisierung so weit ging, Regimewechsel mit humanitären Argumenten zu begründen. Man denke an Libyen, an den Sturz Gaddafis, das erfolgte ganz klar unter Bezugnahme auf die sogenannte responsibility to protect. Die Begründung war damals, wenn dort nicht eingriffen werde, komme es zu einem Gemetzel an der Opposition. Es gab eine Intervention mit einem völkerrechtlichen Mandat, das offiziell nicht dem Regimewechsel diente, sondern dem Schutz der Opposition. Das war also kein illegaler Angriffskrieg wie 2003 im Irak durch Großbritannien und die USA.

Was wir jetzt allerdings im Fall Israels und Palästinas über Jahrzehnte beobachten, verhält sich ein bisschen anders. Aber auch hier geht es um eine Instrumentalisierung von Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit legt ihren Schwerpunkt laut Bundesministerium für Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) und Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) auf den Aufbau proto-staatlicher Einrichtungen oder, wie es im Jargon heißt, das Institution-Building für einen künftigen palästinensischen Staat. Es fehlt jedoch jeglicher politischer Druck seitens der deutschen Politik, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser*innen auch tatsächlich zu realisieren. Das heißt, mit Hilfe unter anderem der GIZ werden hier staatliche oder besser gesagt pseudostaatliche Strukturen für ein Gebilde aufgebaut, das bei Fortbestehen der Bedingungen der letzten Jahre und Jahrzehnte sowieso niemals ein Staat werden wird. Diese Herangehensweise ist das Managen eines Konfliktes und führt nicht zu einer Regelung. Auch nicht zu einem Status Quo der Situation, sondern es wird nur immer schlimmer. Die palästinensische Seite hat 30 Jahre lang auf Diplomatie gesetzt, das darf nicht vergessen werden. 30 Jahre sind seit Oslo I vergangen und was haben sie bekommen? Dreimal so viele Siedler.

Ich würde ganz gerne noch das Selbstverständnis und die Rolle von medico als humanitäre und politische Organisation thematisieren.

Medico macht kritische Öffentlichkeitsarbeit, zeigt die Verantwortung des globalen Nordens für elende Lebensverhältnisse und Gewalt in vielen Regionen der Welt auf. Macht Aktionen und Kampagnen, macht auf die zerstörerischen Folgen von kapitalistischen und neokolonialen Herrschaftsverhältnissen aufmerksam.

Im Kontext von Israel und Palästina, im Kontext von Besatzer und Besetzte, ist die EU eine der größten Geldgeber, Deutschland unterstützt Israel und Palästina – allerdings wie wir beobachten, jedoch ohne sichtbaren politische Willen etwas zu ändern, politisch zu handeln. Diese praktizierte Politik trägt dazu bei, dass der Nahost-Konflikt wie Du bemerkt hast, «gemanagt» wird.  Medico hat einen klaren zweifachen Ansatz: Hilfe zur Selbsthilfe – und politische Aufklärung. Tangiert Euch dieses Dilemma – und wenn ja, wie?

Das ist ein Drahtseilakt, zu dem ich seit zehn Jahren in Palästina/Israel arbeite. Wir versuchen, das Recht auf Beistand der Bevölkerung zu verteidigen und umzusetzen. Da geht es ganz konkret um humanitäre Hilfe.  Was macht beispielsweise eine Patientin mit Bluthochdruck oder Diabetes in Gaza, wenn sie nicht rauskommt, weil sie von den Israelis keine Genehmigung erhält?

Teil unseres Ansatzes hier ist: Wir versuchen, die Leute, so gut es geht, in Gaza zu versorgen. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) durften zuletzt nur 70 Prozent der Patient*innen Gaza für eine medizinische Behandlung rechtzeitig verlassen. Die anderen 30 Prozent nicht oder nicht rechtzeitig. Das kann für manche das Todesurteil bedeuten. Ich erinnere mich an Jahre, wo der Prozentsatz abgelehnter Patient*innen auch schon bedeutend höher war.

Gleichzeitig stehen wir den Problemen im besetzen Westjordanland gegenüber. Da wird zurecht gefragt: Trägt die Hilfe nicht zur Aufrechterhaltung des Status quo bei, indem sie die Besatzung für die betroffene palästinensische Bevölkerung «erträglicher» macht? Werden die Leute durch humanitäre Hilfe nicht auch ein Stück weit befriedet? Die internationalen Geldgeber*innen alimentieren nicht nur die Hilfe, sondern auch die Palästinensische Autonomiebehörde.

Unser Ansatz ist, dass Recht der Bevölkerung auf Beistand und Hilfe zu verteidigen und gleichzeitig dieses politische Versagen immer wieder zu kritisieren. Daran zu erinnern, dass Menschenrechte und auch das Völkerrecht für alle gelten, unabhängig von der Identität der Täter und Täterinnen und ihrer Opfer.

Das ist das absolute Minimum, was nicht nur wir als Menschenrechtsorganisation mit einem entsprechenden Mandat einfordern sollten, sondern wofür jeder und jede einstehen sollte: Unschuldige Zivilistinnen sind keine legitimen Ziele. Und sie haben Rechte.

Spielst Du auf die Behauptungen an, dass die Hamas ihre Zivilist*innen als Schutzschilde benutzt?

Nein, das ist ein anderes Thema, aber ein wichtiges: Nehmen wir beispielsweise die Behauptung, das Al-Shifa Krankenhaus beherberge das «operative Herz» der Hamas, eine große Kommandozentrale. Für den Beweis reichen keine selbstgemachten computeranimierten 3D-Videos aus. Es muss einen Nachweis darüber geben, der auch vor einem Gericht Bestand hätte, dass eine Einrichtung wie Gazas größtes Krankenhaus ein legitimes Ziel war oder sein wird. Selbst wenn dort Hamas-Kämpfer wären, würde immer noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gelten. Sollte Israel die Beweise haben, wie es sagt, dann sollte es diese veröffentlichen anstatt der von seiner eigenen Armee produzierten Videos und Satellitenaufnahmen.

Wenn die Hamas völkerrechtswidrig Zivilbevölkerung als Schutzschilde oder zivile bzw. geschützte Infrastruktur zu militärischen Zwecken missbraucht und damit ein Kriegsverbrechen begeht, entbindet das die israelische Armee nicht ihrer eigenen völkerrechtlichen Verpflichtungen. Karim Khan, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, hat bei seinem Besuch in Rafah am 29. Oktober den Punkt klargemacht, und der ist sehr wichtig: Die Konfliktpartei, die das Gewehr auf ein Ziel richtet oder die eine Rakete abfeuert, hat die Pflicht nachzuweisen, und zwar bei jedem einzelnen ihrer Schläge, dass es ein legitimes militärisches Ziel war.

Wir haben jetzt im Moment über 100 Angriffe auf Ambulanzen im Westjordanland durch die israelische Armee. Da kann niemand behaupten, die Hamas habe diese Ambulanzen als Schutzschilde benutzt. Das sind Ambulanzen, die zu Verletzten wollten. Diese Ambulanzen werden bei Demonstrationen eingesetzt, um verletzte Protestierende medizinisch zu versorgen.

Ich muss sagen, vor dem Hintergrund der Erfahrung von Desinformation seitens der israelischen Armee, die in jedem Krieg stattfand – in jedem Krieg übrigens auch von palästinensischer Seite – wäre es naiv zu denken, dass ausgerechnet jetzt die Wahrheit nicht das erste Opfer des Krieges wäre und die israelische Armee einem höheren moralischen Standard folgen würde als andere Regierungen und Streitkräfte. In einem Konflikt ist keine der Parteien als neutrale Informationsquelle zu betrachten.

In dem Moment, in dem humanitäre Hilfe als Teil einer politischen oder militärischen Strategie eingesetzt wird oder erscheint, gewinnt sie politische Bedeutung und wird angreifbar. Netanjahu knüpft humanitäre Korridore – und damit international finanzierte humanitäre Hilfe – an die Freilassung der israelischen Geiseln. Ist es legitim, als Besatzungsmacht so eine Forderung aufzustellen, also in der Kombination humanitäre Hilfe für Freilassung der Geiseln?

Nein, das ist in keiner Weise legitim. Das Recht der Bevölkerung in Gaza steht für sich, und es wird weder durch den Raketenbeschuss der Hamas auf Israel noch durch die Gefangennahme oder Geiselnahme israelischer Zivilist*innen ausgehebelt. Dieses Recht bleibt völlig unberührt davon, was die Hamas macht. Das gilt für die zivilen Geiseln übrigens genauso: Sie haben das Recht, sofort und bedingungslos freigelassen zu werden – unabhängig davon, was die israelische Armee oder die Regierung tun.

Wenn die israelische Staatsführung das Recht auf Hilfe an die Freilassung von Geiseln knüpft, dann ist das der Versuch einer Erpressung. Vor allen Dingen aber ist das der Versuch, den eigenen Rechtsbruch gegen die palästinensische Bevölkerung mit den Untaten der Hamas zu legitimieren. Das ist übrigens ein ähnlicher Mechanismus, wenn die israelische Armee Flugblätter abwirft, in denen sie die Menschen zur Massenevakuierung oder Zwangsumsiedlung auffordert.

Das kann man vorübergehend machen. Das ist in der Genfer Konvention auch ganz klar geregelt. Man darf vorübergehend eine Zivilbevölkerung auch zwangsräumen, wenn es die militärische Notwendigkeit erfordert. Jetzt ist das israelische Argument, der Norden von Gaza sei so dicht besiedelt. Sie könne die Hamas nur dann effektiv bekämpfen, wenn die Zivilbevölkerung weg sei, ansonsten würde es eben sehr hohe zivile Opfer geben. Der Punkt ist aber, ich verweise wieder auf Karim Khan, wenn 50 Prozent der Wohnhäuser in Gaza zerstört, beschädigt oder unbewohnbar sind und bisher schon rund 1,1 Millionen Menschen zwangsumgesiedelt wurden, muss ein sehr großes Fragezeichen hinter die Verhältnismäßigkeit gemacht werden. Die Bilanz ist: Nach über 10.000 Toten in Gaza wurden 60 relevante Hamas-Kommandeure «neutralisiert» oder «eliminiert», wie es von offizieller israelischer Seite formuliert wird. Das heißt: 60 Hamas-Kommandeure oder -Offiziere gegen 10.000 Tote, die Mehrheit davon Zivilist*innen. Für mich ist das nicht verhältnismäßig. Die israelische Armee führt an, dass sie Präzisionsschläge durchführe und behauptet, sie gäbe sich alle Mühe, die Zivilbevölkerung zu schützen. Ich frage mich allerdings, warum dann 70 Prozent der Todesopfer Frauen und Kinder sind. Zu diesen 70 Prozent Frauen und Kinder kommen eigentlich auch noch die zivilen Männer. Diese werden in Gaza schon gar nicht eingerechnet als Zivilbevölkerung. Die restlichen 30 Prozent setzen sich also aus tatsächlichen Kämpfern und aus unbeteiligten männlichen zivilen Opfern zusammen.

Nimmt die israelische Armee also doch wenig oder keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung und missachtet damit deren Recht auf Schutz, oder ist es mit der Zielgenauigkeit, die sie für sich in Anspruch nimmt, dann doch nicht so weit her? Sind ihre Schläge unpräzise, um nicht zu sagen blindwütig? Denn – beide Aussagen – der hochgehaltene Schutz der Zivilbevölkerung und die eigene Präzision – passen ja angesichts der hohen zivilen Opferzahlen nicht zueinander. Also ist die Armee entweder ungenau oder sie stört sich nicht daran, dass sie Zehntausende Zivilist*innen verletzt und tötet. Der internationale Sprecher der IDF Lt. Col. Richard Hecht hat Letzteres live auf CNN lapidar als «die Tragödie des Krieges» bezeichnet, als er bestätigte, dass die Armee bei dem Luftschlag in Dschabalia vorher wusste, dass es zahlreiche zivile Opfer geben würde.

In Deutschland aber äußern führende Politiker*innen weiterhin, Israel halte sich bestimmt an das Völkerrecht und die Menschenrechte in Gaza. Man kann sich jeden Krieg ansehen und sich dann fragen, ob Kriege gemeinhin zur strengeren Einhaltung der Menschenrechte führen oder nicht. Und falls nicht, frage ich mich, woher unsere Politiker*innen ihre Überzeugung nehmen, in Gaza werde das Recht eingehalten, wo Israel dieses gegenüber Gaza und im Westjordanland seit Jahrzehnten offenkundig bricht, ohne dass ein regelrechter Krieg geführt wird.


[1] Anmerkung: laut WHO am 30.11.2023 funktionieren nur noch sehr eingeschränkt Zehn Krankenhäuser für 2.2 Mill. Menschen

[2] Anmerkung: zwischenzeitlich wurde die humanitäre Hilfe verstärkt. Während der Feuerpause vom 24. bis 30.11.2023 konnten täglich durchschnittlich 200 Lastwagen über den Grenzübergang Rafah / Ägypten Hilfsgüter nach Gaza transportieren werden.