Nachricht | Krieg / Frieden - Israel - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Der Westen gegen den Rest?

Ein kritischer Blick auf Diskurse, Bündnisse und Solidaritäten mit Palästina

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BAE Systems ist der größte Rüstungshersteller Europas und beschäftigt mehr als 90.000 Mitarbeiter in gut vierzig Ländern, davon 35.000 in Großbritannien. In Rochester blockieren am 10.11.2023 Demonstrant*innen und Gewerkschafter*innen das Werk während einer Protestaktion gegen den Krieg in Gaza.
«In der politischen Debatte und im politischen Handeln ist es wichtig, zu differenzieren und weniger Erwartungen in Staaten zu setzen, als in soziale Bewegungen.»

BAE Systems ist der größte Rüstungshersteller Europas und beschäftigt mehr als 90.000 Mitarbeiter in gut vierzig Ländern, davon 35.000 in Großbritannien. In Rochester blockierten am 10.11.2023 Demonstrant*innen und Gewerkschafter*innen das Werk während einer Protestaktion gegen den Krieg in Gaza. Foto: picture alliance / REUTERS | SUSANNAH IRELAND

«Am Leben zu bleiben ist reine Glückssache», so beschrieb Mitte Dezember ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen die Situation in Gaza. Nachdem Israel als Reaktion auf den Angriff der Hamas vom 7. Oktober die Operation «Iron Swords» ausgerufen hat, regnet es Bomben auf den dicht besiedelten Küstenstreifen. Israel setzt dabei in großem Umfang 100-Kilogramm-Bomben aus US-amerikanischer Produktion ein, die eine verheerende Wirkung haben und ganze Wohnhäuser dem Erdboden gleichmachen. Die Zahl der Opfer steigt stündlich, Tote, Verletzte, Verstümmelte – die meisten Frauen und Kinder.[1]

Die internationalen Reaktionen auf Israels Vorgehen fallen unterschiedlich aus und reichen von «uneingeschränkter Unterstützung» über vorsichtige Zurückhaltung bis hin zu offener Verurteilung. Besonders deutlich wurden die unterschiedlichen Positionen dabei in den beiden Resolutionen der UN-Vollversammlung vom 27. Oktober und vom 12. Dezember 2023. Bei den Abstimmungen über die beiden nicht bindenden Resolutionen, in denen ein vorübergehender Waffenstillstand bzw. eine dauerhafte Waffenrufe gefordert wurde, votierten die Länder der arabischen Welt und ein Großteil der Länder des «Globalen Südens» (die afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Staaten) mit Ja. Deutschland und Großbritannien enthielten sich der Stimme, Frankreich und Griechenland stimmten ebenfalls mit Ja. Zu den Nein-Stimmen gehörten neben Israel auch die USA, Paraguay, Österreich und Guatemala. Einige Beobachter*innen sprechen daher davon, dass der «Globale Süden» angesichts des Kriegs in Gaza eine «gemeinsame Stimme» gefunden habe und nun den «Westen» (oder je nach Lesart: den «Globalen Norden») herausfordere. Aussagen wie die des südafrikanischen Präsidenten Ramaphosa, Israel begehe in Gaza «Kriegsverbrechen» und einen «Genozid» (wobei er zugleich betonte, die Beziehungen zu Israel nicht abbrechen zu wollen), oder des brasilianischen Präsidenten Lula, US-Präsident Biden fehle die notwendige «Sensibilität», um den Gazakrieg zu beenden, scheinen tatsächlich in diese Richtung zu weisen.

Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissenschaftler und unter anderem Redaktionsmitglied bei emanzipation – Zeitschrift für ökosozialistische Strategie.

Wenn sich Politiker*innen des «Globalen Südens» als Vorkämpfer*innen einer gerechteren Weltordnung inszenieren, in der die Dominanz des Westens – insbesondere der USA –zugunsten einer «multipolaren» internationalen Ordnung zurückgedrängt oder gar beseitigt werden soll, können sie an aktuelle Erfahrungen vieler Menschen in den Ländern des Südens mit der westlichen Vorherrschaft, aber auch an Elemente kollektiver Gedächtnisse anknüpfen. In Bezug auf Israel, das sich selbst als Teil dieser westlichen Welt sieht und auch so wahrgenommen wird, bedeutet dies die Erinnerung an die Unterstützung autoritärer und reaktionärer Regime in Afrika, Asien und Lateinamerika. Der Krieg Israels gegen Palästina wird hier als Kolonialkrieg wahrgenommen und damit in einen Zusammenhang mit der eigenen Geschichte gestellt. Allerdings zeigt gerade die genauere Betrachtung der internationalen Reaktionen auf den derzeitigen Krieg in Gaza ein differenzierteres und komplexeres Bild.

Arabische Staaten: Annäherung an Israel und Legitimationsprobleme

Es ist nicht verwunderlich, dass es in der Bevölkerung der arabischen Staaten eine breite Unterstützung für den Kampf der Palästinenser*innen gibt. Eine Umfrage des Arab Center for Research and Policy Studies in 14 arabischen Ländern mit 33.000 Teilnehmer*innen ergab, dass eine sehr große Mehrheit der Befragten (92 Prozent) eine Normalisierung mit Israel ablehnt, wenn es keine Lösung für die Palästinenser*innen gibt.

Das steht in krassem Gegensatz zu den Bemühungen einiger arabischer Regierungen, auch ohne eine Lösung der Palästina-Frage in einen «Normalisierungsprozess» mit Israel einzutreten. Ägypten und Jordanien haben bekanntlich bereits 1979 bzw. 1994 Friedensverträge mit Israel abgeschlossen. Dem folgten im September 2020 die Abraham-Vereinbarungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Bahrain sowie Abkommen mit dem Sudan und Marokko. Zuletzt hatte es zudem auch Berichte über eine entsprechende Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel gegeben. Aus den Golfstaaten kamen daher zunächst eher moderate Stellungnahmen. So erklärte etwa der Handelsminister der VAE, Thani al Zeyoudi, in einer ersten Reaktion auf die Anschläge der Hamas, sein Land wolle Wirtschaft und Handel nicht mit Politik vermischen. Und während die offizielle saudische Stellungnahme die «unerschütterliche Haltung» des Königreichs bei der Unterstützung der Palästinenser*innen betonte, wurden in der streng kontrollierten saudischen Öffentlichkeit auch Positionen toleriert, die erklärten, eine Normalisierung mit Israel diene der palästinensischen Sache besser, die Anschläge der Hamas nützten dagegen vor allem dem Iran.

Als nach dem Angriff auf das al-Ahli-Krankenhaus am 17. Oktober, bei dem fast 500 Menschen ums Leben kamen, die öffentliche Empörung außer Kontrolle zu geraten drohte, entschieden sich einige arabische Regierungen, Demonstrationen in begrenztem Umfang zuzulassen. In vielen Städten der Region gingen daraufhin Tausende von Menschen auf die Straße. Demonstrationen gab es unter anderem in Kairo, wo Demonstrant*innen zum ersten Mal seit 2013 wieder zum Tahrir-Platz zogen, in Jordanien, wo Polizei und Sicherheitskräfte einen Protestmarsch zur Grenze mit der Westbank verhinderten, Bahrain (wo Demonstrationen so gut wie nie erlaubt sind), Beirut, Tunis, Kuwait City, Tripoli, Bagdad, Idlib in Syrien, Taiz im Jemen und Rabat in Marokko.

Wie wenig praktische Unterstützung die Palästinenser*innen allerdings von den Regierungen der arabischen Staaten zu erwarten haben, zeigte sich auf dem arabisch-islamischen Gipfel Mitte November in der saudischen Hauptstadt Riad. Einem Bericht zufolge verhinderten «einflussreiche Länder» in der Arabischen Liga die Verabschiedung von Vorschlägen mit konkreten Maßnahmen gegen Israel. Die Abschlusserklärung enthielt eher vage, unverbindliche Klauseln und eine Reihe von Forderungen, deren Umsetzung außerhalb des Einflussbereichs der Teilnehmenden lag. Vorschläge wie die Sperrung des Luftraums einiger arabischer Länder für israelische Zivilmaschinen oder ein partielles Ölembargo wurden verworfen. Was die Legitimierung dieser Politik gegenüber der eigenen Bevölkerung betrifft, befanden sich die in Riad versammelten Regierungen in unterschiedlichen Situationen. In den VAE etwa besitzen nur etwa 30 Prozent der Einwohner*innen einen emiratischen Pass. Alle anderen sind Arbeitsmigrant*innen, größtenteils aus Süd- und Südostasien, die keinerlei Möglichkeit haben, politischen Druck auszuüben. Anders in Jordanien: Hier leben etwa zwei Millionen palästinensische Geflüchtete und ihre Nachkommen, zudem ist das Haschemitische Königreich «Verwalter» der heiligen Stätten in Jerusalem. Jordanien wird daher ein in der Bevölkerung heftig umstrittenes Kooperationsprojekt mit Israel, das einen Austausch von Solarenergie aus Jordanien und entsalztem Wasser aus Israel vorsieht, nicht unterschreiben. Ein ökonomisch wie politisch wichtigeres Gasabkommen von 2016 soll hingegen fortgeführt werden. Der Friedensvertrag von 1994 soll ebenfalls «überprüft» werden. Ernsthafte Veränderungen sind hier aber kaum zu erwarten.

Ein zentrales Legitimationsproblem teilten dabei so gut wie alle Teilnehmenden des Gipfels in Riad: Sie wurden nicht demokratisch gewählt und gehen auch selbst äußerst repressiv gegen die eigenen Bevölkerungen vor. In extremer Form gilt dies für das Assad-Regime in Syrien. Oppositionelle syrische Kräfte haben daher die Teilnahme des syrischen Machthabers an der Konferenz in Riad scharf kritisiert. Viele Syrer*innen erinnern die Bilder und Berichte aus Gaza an eigene Erfahrungen von Bombardierung und Vertreibung, zumal auch hier – man erinnere sich an das Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus – viele Palästinenser*innen betroffen waren. Die Sympathie der Bevölkerung für den Kampf der Palästinenser*innen ist aber auch für die anderen autokratischen Regime der Region ein zweischneidiges Schwert: Einerseits können politische Proteste kanalisiert und auf einen äußeren Feind gelenkt werden, andererseits können solche Proteste immer auch eine Dynamik entfalten, die sich gegen Unterdrückung allgemein, also auch im eigenen Land richtet. Die palästinensische Frage hat eine Sprengkraft, die weit über Palästina und Israel hinausgeht.

Die Unterstützung der «palästinensischen Sache» durch die Regierungen der arabischen und muslimischen Länder geht daher auch nur so weit, wie es ihren wirtschaftlichen, macht- und geopolitischen Interessen dient oder zumindest nicht zuwiderläuft. Ist dies nicht der Fall, wird die öffentlich bekundete «Solidarität mit Palästina» schnell aufgegeben. Beispiel VAE: Der bilaterale Handel mit Israel ist nach israelischen Angaben seit 2020 auf sechs Milliarden US-Dollar angewachsen, im Mai 2022 unterzeichneten beide Länder ein Freihandelsabkommen. Zudem gibt es eine Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich, so hat Israel nach den Raketen- und Drohnenangriffen auf Abu Dhabi Anfang 2022 durch die mit dem Iran verbündete jemenitische Huthi-Bewegung Luftabwehrsysteme an die VAE geliefert. Und Anfang 2023 präsentierten Rüstungskonzerne beider Länder ein gemeinsam entwickeltes unbemanntes Kriegsschiff zur U-Boot-Bekämpfung. Israelische Quellen berichten zudem, dass eine Landbrücke zwischen den VAE und Israel in Betrieb genommen worden sei. Das Projekt für die Lieferung von Gütern aus den Golfstaaten über Saudi-Arabien und Jordanien nach Israel ist ein Ergebnis der Abraham-Abkommen. Der Warenverkehr auf dieser Route habe seit dem israelischen Einmarsch in Gaza sogar noch zugenommen, da die Huthi-Rebellen im Jemen ihre Angriffe auf internationale Schiffe im Roten Meer verstärkt hätten.

Indien und Israel: ideologische Nähe und militärische Kooperation

Ausgerechnet der indische Premierminister Modi berief sich Mitte November explizit auf den «Globalen Süden» als Akteur. Es war allerdings gerade Indien, das sich als eines der wenigen Länder des Südens bei der Abstimmung zur UN-Resolution vom 27. Oktober der Stimme enthalten hatte, was Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar unter anderem damit begründete, dass die Inder*innen selbst «große Opfer des Terrorismus» seien. Historisch hatte Indien allerdings eine eher ablehnende Haltung gegenüber Israel. Diplomatische Beziehungen bestehen erst seit 1992. Ein Wendepunkt war der indisch-pakistanische Krieg 1999, als Israel begann, in größerem Umfang Waffen nach Indien zu liefern. Heute erhält Indien jährlich Rüstungsgüter im Wert von zwei Milliarden US-Dollar von Israel – Israel ist damit nach Russland Indiens zweitgrößter Waffenlieferant. Mit dem Amtsantritt von Narendra Modi, der 2017 als erster indischer Premierminister Israel besuchte, intensivierten sich die indisch-israelischen Beziehungen. Eine Ursache hierfür ist sicherlich die ideologische Nähe der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP), der Modi angehört, zu rechtszionistischen Positionen: Beide streben einen religiös-nationalistischen Staat an, beide sehen sich als Hüter einer von außen bedrohten Kultur. Dies ist auch die Botschaft, die BJP-nahe Gruppen in den sozialen Medien verbreiten: Die palästinensische Hamas wird dabei im hindu-nationalistischen Diskurs mit den mehrheitlich muslimischen Bewohner*innen der nordindischen Region Jammu und Kaschmir gleichgesetzt. In der Region, deren Autonomiestatus 2019 von der BJP-Regierung aufgehoben wurde, operieren mehrere Rebellenorganisationen, die für die Abspaltung von Indien kämpfen.

Eine formalisierte Zusammenarbeit Indiens mit Israel findet in der seit Juli 2022 bestehenden I2U2-Gruppe statt. Die Gründung dieser Gruppe, bestehend aus Indien, Israel, den VAE und den USA, ist eine unmittelbare Folge der Abraham-Vereinbarungen. Ziel ist eine Zusammenarbeit der beteiligten Staaten sowohl auf wirtschaftlichem als auch auf militärisch-strategischem Gebiet. Als eine der wesentlichen Ziele der I2U2-Gruppe gilt die Zurückdrängung des chinesischen Einflusses.

China und Russland: Hegemonialkonkurrenz  zu den USA

Auch die chinesische Führung beruft sich gerne auf den «Globalen Süden» und sieht das eigene Land in diesem Zusammenhang in einer Führungsrolle.[2] China versucht dabei seit einiger Zeit auch, seine Präsenz in Westasien auszubauen, einer Region, in der es traditionell wenig verankert war. Diese Bestrebungen führten Anfang 2023 zu einem von China vermittelten Deal zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Nach dem israelischen Angriff auf den Gazastreifen gehörte China zu den ersten Ländern, die einen Waffenstillstand forderten. Mitte Oktober forderte Chinas Außenminister Wang Yi eine globale Friedenskonferenz. Dabei warf er Israel vor, mit der Bombardierung des Gazastreifens «den Rahmen der Selbstverteidigung» zu überschreiten. Insgesamt jedoch blieb die chinesische Reaktion verhalten, was zu einem wesentlichen Teil auf die engen wirtschaftlichen Beziehungen zu verschiedenen Akteuren in der Region zurückzuführen ist. China ist der größte Handelspartner der meisten Länder Westasiens, und fast die Hälfte der chinesischen Ölimporte stammt aus der Golfregion. Chinas Gesamthandel mit der arabischen Welt belief sich im vergangenen Jahr auf mehr als 430 Milliarden US-Dollar.

Aber auch zu Israel bestehen intensive Kontakte, insbesondere seit dem Umbau der chinesischen Wirtschaft in Richtung einer Marktwirtschaft unter Deng Xiaoping in den 1980er Jahren. Nach der Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung 1989 exportierte Israel unter Umgehung westlicher Sanktionen Rüstungsgüter nach China. Heute ist China nach den USA Israels zweitgrößter Handelspartner. Darüber hinaus ermöglicht Israel China den Zugang zu kritischen Technologien, zumal die USA und andere westliche Nationen die Beteiligungsmöglichkeiten Chinas in diesen Sektoren zunehmend eingeschränkt haben. Nach Angaben des offiziellen Investitionsleitfadens des chinesischen Handelsministeriums handelt es sich bei Chinas Importen aus Israel größtenteils um Hightech-Produkte wie elektronische Geräte, medizinische Instrumente und Telekommunikationsprodukte.

Mitte Oktober veröffentlichte das russische Außenministerium eine Erklärung, in der eine verstärkte Zusammenarbeit mit China in Westasien und Nordafrika angekündigt wurde. Ähnlich wie China unterhält auch Russland (nicht unbedingt ein Land des «Globalen Südens», aber ein Mitglied der BRICS[3], eines Staatenbündnisses, das ebenfalls eine «multipolare Weltordnung» anstrebt) vielfältige Verbindungen in die Region. So gibt es offensichtlich ein Stillhalteabkommen mit Israel in Syrien, wo die israelische Luftwaffe regelmäßig Stellungen des Iran und der Hisbollah angreift, ohne von der russischen Abwehr behelligt zu werden.[4]

Sowohl die chinesische Führung als auch das Putin-Regime sehen den Krieg in Gaza dabei weniger vor dem Hintergrund einer Parteinahme für Israel oder die Palästinenser*innen, sondern langfristig in Bezug auf die USA, deren Einfluss in der Region sie einschränken wollen. Beide Länder rechtfertigen zudem die Unterdrückung oppositioneller Bewegungen teilweise mit dem «Kampf gegen den Islamismus». Eine Ausweitung des ideologischen Einflusses von Gruppen wie der Hamas liegt daher nicht in ihrem Interesse.

Eine Solidaritätsbewegung aufbauen – aber wie?

Der «Globale Süden» kann also keineswegs einfach als Verbündeter der Palästinenser*innen gesehen werden. Umgekehrt zeigen sich aber auch Risse im scheinbaren Konsens der Regierungen des «Globalen Nordens»/Westens. So erklärte der vor kurzem wiedergewählte sozialistische spanische Premierminister Pedro Sánchez Ende November, er habe «ernsthafte Zweifel daran, dass Israel das humanitäre Völkerrecht einhält». Einige Tage zuvor hatte Sánchez Israel vorgeworfen, im Gazastreifen «wahllos Palästinenser*innen zu töten», und der belgische Ministerpräsident Alexander De Croo betonte auf einer gemeinsamen Reise mit Sánchez nach Ägypten mit Blick auf Gaza, es könne nicht akzeptiert werden, «dass eine Gesellschaft auf diese Weise zerstört wird». Besonders scharfe Kritik kommt aus Irland. Premierminister Leo Varadkar hat zwar wiederholt den Angriff der Hamas auf Zivilist*innen in Israel verurteilt, zugleich sagte er aber auch, dass Israels Reaktion in Gaza «eher einer Rache» gleichkomme. Besonders deutlich wurde Irlands Präsident Michael D. Higgins, der der Regierung Netanjahu vorwarf, internationale Menschenrechtsnormen zu untergraben. «Wenn man im Voraus ankündigt, dass man internationales Recht brechen wird, und dies an einer unschuldigen Bevölkerung tut, dann wird der gesamte Kodex zum Schutz der Zivilbevölkerung, der seit dem Zweiten Weltkrieg gilt, in seinen Grundfesten zerstört», erklärte Higgins Mitte Oktober.

Die «Risse im vermeintlichen Konsens» des «Gobalen Nordens» könnten in diesen Ländern der Ansatzpunkt für eine Solidaritätsbewegung mit der palästinensischen Bevölkerung sein. Der Druck großer Mobilisierungen insbesondere auf die Regierung der USA, wo Präsident Biden wegen seiner bedingungslosen Unterstützung Israels seine Wiederwahl im November riskiert (was der Solidaritätsbewegung ein Druckmittel in die Hand gibt), aber auch in Deutschland, das diesem Kurs weitgehend folgt, kann sich als entscheidend dabei erweisen, um einen wirklichen Waffenstillstand in Gaza zu erzwingen. Zugleich sind solche Mobilisierungen notwendig, um dem Demokratieabbau und einer neuen einer Welle des gegen Migrant*innen (vor allem gegen Menschen aus islamischen oder arabischen Ländern) gerichteten Rassismus entgegenzutreten. Wenn sich Menschen oder Gruppen aus anderen Bewegungen – z.B. der Klimabewegung – hier anschließen, ist das zu begrüßen. Ein wichtiger Ansatz hierbei ist zum Beispiel die entstehende internationale gewerkschaftliche Kampagne gegen die Lieferung von Waffen und Überwachungstechnologie an Israel.

Die Tatsache, dass bestimmte Staaten wirtschaftliche und geopolitische Interessen vertreten, die denen des «Globalen Nordens» zuwiderlaufen, macht sie nicht automatisch zu Verbündeten der Menschen in Palästina und der palästinensischen Solidaritätsbewegung. In der politischen Debatte und im politischen Handeln ist es vielmehr wichtig, zu differenzieren und weniger Erwartungen in Staaten zu setzen, als in soziale Bewegungen, die sich auch und insbesondere mit den – sicherlich schwachen – fortschrittlichen Bewegungen in Palästina, Israel und Westasien insgesamt vernetzen.


[1] Täglich aktualisierte Zahlen finden sich unter anderem auf der Seite des Nachrichtensenders al-Jazeera.

[2] China, Indien wie auch die arabischen Staaten liegen alle in der nördlichen Hemisphäre. «Globaler Süden» ist also ein politischer, kein geografischer Begriff.

[3] Vereinigung der Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Die Abkürzung BRICS steht für die Anfangsbuchstaben der fünf Mitgliedsstaaten: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Zum 1. Januar 2024 ist eine Erweiterung der Staatengemeinschaft um Ägypten, Argentinien, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate vorgesehen (BRICS plus).

[4] In der letzten Zeit gab es allerdings Meldungen, dass Israel seine Angriffe auf Stellungen in Syrien Russland gegenüber nicht mehr ankündigt.