Kommentar | Migration / Flucht - Osteuropa Appell an die polnische Regierung

Über 100 NGOs fordern Ende von Pushbacks an der polnischen Grenze zu Belarus

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Achim Kessler,

Der Film «Green Border» thematisiert die Flüchtlingskrise an der Grenze zwischen Belarus und Polen und bringt absolut aktuelle und zentrale Fragen auf den Tisch - welche grundlegenden Werte und Menschenrechte an den Außengrenzen der EU sollten wir eigentlich einfordern und verteidigen? Auf welchen Werten sollte unsere europäische Asyl- und Geflüchtetenpolitik basieren?

Am 9. Januar ging in der Kanzlei des polnischen Premierministers Donald Tusk ein Appell von über 100 Nichtregierungsorganisationen und 550 Personen ein, die Pushback-Politik an der Grenze zu Belarus sofort zu stoppen, wo mindestens 55 Menschen gestorben sind. Zu den Unterzeichnern des Appells gehören neben Menschen- und Frauenrechtsorganisationen auch die Stiftung Auschwitz-Birkenau sowie zahlreiche bekannte Menschenrechtsaktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Künstlerinnen, darunter die Regisseurin Agnieszka Holland, deren Film «Green Border» («Zielona Granica») die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze darstellt und am 1. Februar in die deutschen Kinos kommt.

In dem Appell heißt es: «Angesichts der flüchtlingsfeindlichen und menschenverachtenden Haltung der Vorgängerregierung blieb uns bisher nur die Möglichkeit, Hilfsmaßnahmen an der Grenze durchzuführen, das heißt die Menschen auf ihrem Weg mit Wasser, einer Mahlzeit, warmer Kleidung, medizinischer und rechtlicher Hilfe zu versorgen, was oft lebensrettend war. Mit Ihrem Amtsantritt als Ministerpräsident sehen wir nun eine Chance, dringend Maßnahmen zu ergreifen, um den Abschiebungen an der polnisch-belarussischen Grenze sofort ein Ende zu setzen.»

Achim Kessler ist Leiter des Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.

Vor Journalist*innen im Sejm erklärte Innenminister Marcin Kierwiński von der liberalen Bürgerplattform hingegen: «Wir müssen durch eine hundertprozentige Undurchlässigkeit unsere Grenzen und ihre Sicherheit gewährleisten. Wir müssen über eine Ausweitung des Grenzzauns nachdenken». Sein Stellvertreter Maciej Duszczyk sagte, dass die Pushbacks enden würden, wenn die Grenze dicht sei.

Dagegen kritisierte Adrian Zandberg von der linken Partei Razem die Regierung mit deutlichen Worten: «Millionen von Menschen gingen nicht zur Wahl, weil sie sich plötzlich in Tusk verliebt hätten. (...) Für viele war der moralische Widerspruch der Grund, warum sie wählen gingen: Sie waren dagegen, Minderheiten anzugreifen, Frauen zu schaden, aber auch dagegen, dass Menschen an der polnischen Grenze leiden und sterben müssen», schreibt der Sejm-Abgeordnete in der Zeitung «Super Express». Er betonte, dass sich im Vergleich zur Zeit der PiS-Regierung bisher noch nichts geändert habe.

Wir dokumentieren den Appell gegen die Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze in einer deutschen Übersetzung im Wortlaut:

Appell an den polnischen Premierminister Donald Tusk (deutsche Übersetzung)

Warschau, 9. Januar 2024

Verehrter Herr Premierminister,

im Namen der nachstehend unterzeichneten Sozialeinrichtungen und Personen, die im Namen von Ausländerinnen und Ausländern in Polen handeln, möchten wir Sie auf die groben Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen, die wir seit Beginn der humanitären Krise an der polnisch-belarussischen Grenze beobachten. Personen, die die polnische Grenze nicht regulär überschreiten, werden der Möglichkeit beraubt, internationalen Schutz zu beantragen, und die polnischen Behörden zwingen sie, durch so genannte Pushbacks zur Rückkehr auf die belarussische Seite. In vielen Fällen wird diese Praxis von Gewalt und Aggression begleitet.

Die Strafe, zu der die Migranten wegen nicht regulären Grenzübertritten verurteilt werden, indem sie zwangsweise von Polen nach Belarus zurückgeschickt werden, ist außergewöhnlich grausam. Auf der belarussischen Seite erwartet sie Folter, Gewalt, unmenschliche Behandlung und unrechtmäßige Inhaftierung durch Sistema [belarussisches Grenzverteidigungssystem]. Und es gibt kein Entkommen für sie. Versuche, sich nach Minsk zurückzuziehen, werden bestraft – meist mit brutaler Gewalt.

Die Europäer wissen, wozu es führt, wenn wir es zulassen, dass Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe ihrer Würde beraubt und ihnen die Grundrechte entzogen werden. Kein Mensch darf wie ein "Geschoss" behandelt werden: Wenn wir aufhören, den Menschen wahrzunehmen und nur noch die Bedrohung sehen, werden Menschenrechtsverletzungen billigend in Kauf genommen. Die Pushbacks müssen sofort eingestellt werden. Wenn das zeitlich hinausgezögert wird, dulden die polnischen Behörden damit die Menschenrechtsverletzungen. Die uns versprochene Rechtmäßigkeit haben wir uns anders vorgestellt.

Infolge der Pushback-Politik haben seit Beginn der Krise auf beiden Seiten der polnisch-belarussischen Grenze mindestens 55 Menschen ihr Leben verloren.

Angesichts der flüchtlingsfeindlichen und menschenverachtenden Haltung der Vorgängerregierung blieb uns bisher nur die Möglichkeit, Hilfsmaßnahmen an der Grenze durchzuführen, das heißt die Menschen auf ihrem Weg mit Wasser, einer Mahlzeit, warmer Kleidung, medizinischer und rechtlicher Hilfe zu versorgen, was oft lebensrettend war. Mit Ihrem Amtsantritt als Ministerpräsident sehen wir nun eine Chance, dringend Maßnahmen zu ergreifen, um den Abschiebungen an der polnisch-belarussischen Grenze sofort ein Ende zu setzen.

Nationale und internationale Institutionen, die für die Kontrolle von Menschenrechtsverletzungen zuständig sind, sowie Sozialeinrichtungen, die seit 2021 an der polnisch-belarussischen Grenze juristischen und humanitären Beistand leisten, weisen auf die Notwendigkeit hin, Bestimmungen aus der polnischen Rechtsordnung zu streichen, die den non-refoulement-Grundsatz gegenüber Personen verletzen, die die polnische Grenze überschreiten. Pushbacks gegenüber Personen, die die polnisch-belarussische Grenze überschreiten, erfolgen im polnischen Rechtssystem auf Grundlage der gesetzlichen Regelung der Dienstverhältnisse (in Form von Befehlen und amtlichen Anweisungen), der Anwendung der Verordnung des Ministers für Inneres und Verwaltung vom 13. März 2020 über die vorübergehende Aussetzung oder Einschränkung des Grenzverkehrs an bestimmten Grenzübergängen und der Bestimmungen des in 2021 geänderten Ausländergesetzes.

Die Rechtsprechung der nationalen Gerichte, die Empfehlungen der Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, und des UN-Sonderberichterstatters für Menschenrechte, Felipe González Morales, sowie die zahlreichen Interventionen des Bürgerbeauftragten zeigen, dass die oben genannten Regelungen im Widerspruch zum nationalen, EU- und internationalen Recht stehen. Sie fordern Polen auf, das Gesetz zu überarbeiten und der Anwendung von Pushbacks ein Ende zu setzen.

Die Abschiebungen verstoßen gegen das völkerrechtliche Verbot der Ausweisung von Ausländern in einen Staat, in dem ihr Leben oder ihre Gesundheit gefährdet sind (non-refoulement-Grundsatz), und damit gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung sowie gegen das Verbot von Kollektivausweisungen von Ausländern. Sie verletzen auch die verfassungsmäßige Garantie auf Zugang zum Verfahren, den internationalen Schutz in Polen und die Verfahrensgarantien für Verwaltungsverfahren zu beantragen.

Für Pushbacks gibt es keine humanitäre, moralische oder rechtliche Rechtfertigung. Es ist einfach, sie wirksam und dauerhaft aus der polnischen Rechtsordnung und aus der Praxis der uniformierten Dienste zu entfernen. Dazu sind drei Maßnahmen erforderlich:

  • Änderung der Dienstpraxis der Grenzschutzbeamten durch schriftliche Anweisungen des Ministers für Inneres und Verwaltung an den Oberbefehlshaber des Grenzschutzes und Kontrolle ihrer Umsetzung durch die unterstellten Kommandanten der Grenzschutzposten;
  • Aufhebung der Verordnung des Ministers für Inneres und Verwaltung vom 13. März 2020 über die vorübergehende Aussetzung oder Einschränkung des Grenzverkehrs an bestimmten Grenzübergängen (in der Fassung vom 20. August 2021);
  • Änderung des Ausländergesetzes durch Aufhebung der Artikel 303 Absatz 1 Nummer 9a und 303b des Gesetzes.

Wir stehen Ihnen weiterhin vollumfänglich zur Verfügung und freuen uns auf den Dialog und die Zusammenarbeit auf der Suche nach besten Lösungen bei den schwierigen Migrations- und Flüchtlingsfragen.

Mit freundlichen Grüßen

Die Unterstützer*innen