Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Parteien / Wahlanalysen - Südliches Afrika Südafrika: Das lange Warten auf ökonomische Befreiung

Verliert der ANC seine absolute Mehrheit bei den Wahlen im Mai? Vorwahlanalyse von Janine Walter

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Janine Walter,

Straße in Soweto, ein Township von Johannesburg, Oktober 2023
Südafrika ist heute geprägt von einer stagnierenden Wirtschaft, hoher Arbeitslosigkeit und wachsenden Armutsraten. 64 Prozent der Schwarzen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze.

  Straße in Soweto, ein Township von Johannesburg, Oktober 2023, Foto: IMAGO / ANP

Dreißig Jahre nach Überwindung der Apartheid steht Südafrika am 29. Mai dieses Jahres zum siebten Mal vor demokratischen Wahlen. Die Spannung und Nervosität sind schon jetzt zu spüren.

Bereits der erste freie Wahlkampf 1994 war von Spannungen und Gewalt geprägt – aber auch von großen Hoffnungen. Unvergessen bleiben die Bilder der endlosen Schlangen vor den Wahllokalen, die bis heute ein kraftvolles Symbol für den Sieg der Menschlichkeit über die kolonialen Verbrechen bleiben. Der Afrikanische Nationalkongress (ANC) errang 62 Prozent der Stimmen und regiert seitdem gemeinsam mit dem Gewerkschaftsdachverband COSATU und der Kommunistischen Partei SACP in einer Dreierallianz.

Janine Walter leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Johannesburg, Südafrika.

Damals setzten viele in Südafrika und weit darüber hinaus große Hoffnungen in die Transformation des Landes nach der Apartheid. Heute dagegen ist angesichts der desolaten wirtschaftlichen Situation des Landes und dem Opportunismus vieler ehemaliger Hoffnungsträger*innen jegliche Euphorie verflogen. Der Großteil der Bevölkerung ist vor dem Hintergrund täglicher Stromabschaltungen, maroder Infrastruktur und explodierender Kriminalitätsraten unzufrieden. Neben der Korruption – die im sogenannten State-Capture-Skandal, der korrupten Verflechtung politischer und ökonomischer Eliten, zum Ausdruck kam – bleibt die drängendste Herausforderung die ökonomische Befreiung. Denn Südafrika ist heute geprägt von einer stagnierenden Wirtschaft, hoher Arbeitslosigkeit und wachsenden Armutsraten.

Der südafrikanische Kapitalismus seit Ende der Apartheid

Unmittelbar nach dem Ende der Apartheid stand die Entwicklung einer wirtschaftspolitischen Strategie durchaus im Fokus. Die südafrikanische Regierung priorisierte die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung, etwa durch umfangreiche Wohnungsbau-Programme und den Ausbau der Elektrizitätsversorgung. Doch bereits 1996 schwenkte die Regierung – noch unter Nelson Mandela – auf eine neoliberale Wachstumsförderung und die Reduzierung des Haushaltsdefizits ein. Hierzu zählten auch eine Arbeitsmarktflexibilisierung sowie die Privatisierung von Teilen des öffentlichen Sektors. Sozialpolitische Aspekte rückten damit in die zweite Reihe.

Mit diesem ökonomischen Kurswechsel sollte ausländisches Kapital angezogen werden. Dieses wurde insbesondere für den außenhandelsorientierten Bergbausektor benötigt, der traditionell eine herausragende Relevanz für die Wirtschaft Südafrikas besitzt. Wenngleich die Branche mit einem Anteil von acht Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) an Bedeutung verloren hat, bleibt er eine wichtige Stütze der südafrikanischen Ökonomie. Der von Ben Fine und Zavareh Rustomjee entwickelte Begriff des «Mineralien-Energie-Komplexes» beschreibt das enge, bis heute bestehende Geflecht aus Bergbau-, Energie- und Finanzbranche. Nicht zufällig steht das staatliche Stromversorgungsunternehmen ESKOM im Mittelpunkt des State-Capture-Skandals.

Nach 1994 gewannen nicht nur der Finanzsektor und die Telekommunikationsindustrie an Bedeutung, sondern auch der Einzelhandel, der mittlerweile einen Anteil von fast 20 Prozent am BIP aufbringt. Inzwischen dominieren südafrikanischen Ketten fast den gesamten formalen, rasch expandierenden Einzelhandelssektor des Kontinents. Südafrikanische Kapitalfraktionen nutzten die regionale Integration dabei für die ökonomische Expansion und Sicherung ihrer Interessen.

Eine wichtige Rolle spielt die im Oktober 2001 von 15 afrikanischen Staats- und Regierungschefs ausgerufene «Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas» (NEPAD). Die Idee dieser neoliberalen Reforminitiative geht auf den damaligen südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbeki zurück, dessen außenpolitische Vision auf eine «afrikanische Renaissance» abzielte. Mit der NEPAD, die ohne Konsultation der Zivilgesellschaft oder der Gewerkschaften entstanden war, festigte Pretoria seine Position als regionaler Hegemon. Der «Pakt unter Eliten» setzte Flexibilisierungs- und Liberalisierungsprozesse in weiten Teilen Afrikas in Gang, die südafrikanischen Unternehmen neue Geschäftsmöglichkeiten eröffneten. Neben Bergbauunternehmen wie Anglogold Ashanti oder Telekommunikationsfirmen wie MTN oder Vodacom waren es insbesondere die erwähnten Einzelhandelsunternehmen wie Shoprite und Pick n Pay, die ihre Operationen massiv ausweiten konnten.

Die Ergebnisse der wirtschaftspolitischen Neuausrichtung schien ihren Befürworter*innen vordergründig recht zu geben, denn die südafrikanische Wirtschaft erzielte in den folgenden zwei Jahrzehnten tatsächlich ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich drei Prozent. Doch die Einbettung in die globale Weltordnung gelang nur durch den Verzicht auf eine sozioökonomische Umverteilung, die für die Überwindung der Ungleichheiten der Apartheid erforderlich gewesen wäre. Gemessen am Gini-Koeffizienten hat Südafrika inzwischen die größte Einkommensungleichheit der Welt; 64 Prozent der schwarzen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze.

Explodierende Prekarisierung und gewerkschaftlicher Kampf

Während der Apartheid waren es nicht zuletzt die Gewerkschaften, die den Kampf gegen die Ausbeutung mit dem Kampf für Demokratisierung und soziale Entwicklung verbanden. Aus diesem Kampf resultieren auch die engen Beziehungen zwischen dem ANC, der SACP und den meisten Gewerkschaften, die sich schließlich in der Dreierallianz manifestierten.

Angesichts der hervorgehobenen Rolle der Gewerkschaften gab es hohe Erwartungen an die Post-Apartheid-Regierungen. Viele Menschen hofften auf ein inklusives und partizipatives Arbeitsregime. Im Transitionsprozess nahm COSATU eine wichtige Rolle bei der Mitgestaltung der neuen Gesellschaftsordnung ein und bestimmte maßgeblich die dem Prinzip «Wachstum durch Umverteilung» folgende wirtschaftspolitische Ausrichtung. Der ANC hingegen ließ sich frühzeitig von in- und ausländischen Kapitalinteressen leiten, stützte eine exportorientierte Wachstumsstrategie und öffnete sich für Privatisierungsvorhaben. Mitte der 1990er Jahre fügte sich dann auch die Mehrzahl der Gewerkschaften dem neoliberalen Credo. Im Gegenzug erhielten sie im Rahmen eines auf Sozialpartnerschaft ausgerichteten, korporatistischen Systems der Arbeitsbeziehungen einen gewissen Grad an Mitbestimmung.

Mit diesem Schritt ermöglichten die Gewerkschaften erst die Flexibilisierung und Fragmentierung der Erwerbsarbeitswelt. Dieser Prozess zog eine rasante Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse nach sich – und sollte sich als Schlüsselfaktor für das südafrikanische Wirtschaftswachstum erweisen. In der Folge spaltete sich der Arbeitsmarkt in einen Kern von relativ gut geschützten Arbeiter*innen und die Masse der prekär oder informell Beschäftigten und Erwerbslosen. Damit waren die mit der Demokratisierung verbundenen sozialen Hoffnungen nur noch Schall und Rauch.

Und so sank die Vollzeitbeschäftigungsquote der Erwerbsbevölkerung zwischen 1995 und 2001 um 20 Prozent, während die informelle Beschäftigung von 17 auf 31 Prozent anstieg. Beschäftigten Zeitarbeitsagenturen 1995 lediglich rund 100.000 Menschen, waren es 2014 bereits 2,2 Millionen. Betroffen ist insbesondere der Groß- und Einzelhandel, wo ein Drittel der Beschäftigten prekär arbeitet. Durch diese Entwicklung blieb die massenhafte Erwerbsarmut – ein Strukturmerkmal der Apartheid – bestehen.

Die traditionellen und zahlenmäßig stärksten Gewerkschaften konzentrierten sich jedoch kaum auf den stetig wachsenden Anteil prekär Beschäftigter. Vielmehr verschob sich das Engagement der COSATU-Führung seit 2000 tendenziell vom privaten Sektor, in dem sich die prekäre Beschäftigung konzentriert, auf den öffentlichen Sektor, in dem der Dachverband einen hohen Mitgliederanstieg verzeichnete. Diese Verschiebung von der Massenmobilisierung hin zu einer Institutionalisierung der Gewerkschaften illustriert die Schere, die sich zwischen Führung und Basis öffnete.

Auch beim dritten Partner im Bunde der Dreierallianz, der SACP, klaffen riesige Lücken zwischen rhetorischem Anspruch und Wirklichkeit. Den radikalen Reden auf ihren Parteitagen stehen die Privatisierungs- und Austeritätsprogramme entgegen, die die von der SACP gestellten Minister*innen mittragen. Innerhalb der Partei gibt es daher Debatten über ihre Zukunft – etwa um einen Wahlantritt in einer «Linksfront» außerhalb des ANC oder um die Rekonfiguration der Dreierallianz. Voraussichtlich wird die SACP bei den Wahlen letztlich doch wieder gemeinsam mit dem ANC antreten – und danach abermals diskutieren, ob ein solcher Wahlantritt bei den nächsten Wahlen 2026 noch tragbar ist.

Ende der Alleinherrschaft der ANC?

Fest steht: Der ANC kann nicht länger auf seinen Nimbus als Befreiungsbewegung setzen. Das gilt ähnlich auch für seine Partner in der Dreierallianz. Denn ein großer Teil der Bevölkerung führt die anhaltende ökonomische Misere inzwischen auch auf das Versagen der politischen Entscheidungsträger*innen zurück. Deshalb gerät die seit 30 Jahren regierende Partei zunehmend unter Druck und droht, bei den anstehenden Wahlen erstmalig die absolute Mehrheit zu verlieren.

Die Opposition links und rechts des ANC steht in den Startlöchern. Rechts vom ANC haben sich mit der «Mehrparteiencharta» bereits sieben sehr unterschiedliche Oppositionsparteien in Stellung gebracht. Angeführt wird das Bündnis von der größten Oppositionspartei, der Demokratischen Allianz (DA).

Links vom ANC warten die durchaus kontrovers zu betrachtenden «Kämpfer für wirtschaftliche Freiheit» (Economic Freedom Fighters, EFF). Zwar setzen diese sich für eine umfassende Landreform und die Verstaatlichung des nach wie vor wichtigen Bergbausektors ein. Zugleich aber ist die Partei stark auf ihren Vorsitzenden, Julius Malema, zugeschnitten, und Parteiangehörige fallen immer wieder mit Hassreden gegen weiße und indisch-stämmige Südafrikaner*innen auf. Hinzu kommt noch, dass der ehemalige Präsident Jacob Zuma, der in seiner Heimatprovinz KwaZulu-Natal immer noch viele Anhänger*innen hat, jüngst seine Unterstützung für die neu gegründete, nach dem militärischen Arm des ANC benannte Partei uMkhonto weSizwe erklärte.

Der ANC ist derweil in Flügelkämpfen zwischen der Fraktion um den amtierenden Präsidenten, Cyril Ramaphosa, und der radikaleren Fraktion um Vizepräsident Paul Mashatile gefangen. Sollte die Partei ihre absolute Mehrheit verlieren, würde Südafrika zum ersten Mal vor einer Koalitionsbildung stehen. Während der Flügel um Mashatile eine Koalition mit den EFF favorisiert, blickt die Fraktion um Ramaphosa eher in Richtung DA. Fest steht: Es wird eng für den ANC – aber noch ist offen, wohin die Reise geht.
 

Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.