Seit dem 7. Oktober wird das politische Geschehen in Israel von rechten und rechtsextremen Kräften dominiert. Der Angriff der Hamas auf israelische Zivilist*innen und die darauf folgende militärische Reaktion haben den Handlungsspielraum der ohnehin stark marginalisierten radikalen Linken in Israel dramatisch eingeschränkt, während sich die Mitte-Links-Parteien mit Kritik an der israelischen Zerstörung des Gazastreifens weitgehend zurückhalten. Eine der wenigen Stimmen, die sich der revanchistischen Stimmung nicht beugen, ist der israelische Politologe Ofer Cassif, Mitglied der Kommunistischen Partei und Knessetabgeordneter der «Demokratischen Front für Frieden und Gleichheit» (Hadash), dem sozialistischen Parteienbündnis, das Cassifs Partei 1977 gebildet hat.
Cassif sorgte im Januar für internationale Schlagzeilen, als er seine Unterstützung der Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof im Rahmen der Völkermordkonvention kundgab – ein Schritt, für den er von seinen Parlamentskolleg*innen beinahe aus der Knesset ausgeschlossen worden wäre. Er konnte den Versuch der Amtsenthebung abwehren und setzt seitdem seinen Kampf gegen den Krieg und für eine Zweistaatenlösung ungeachtet der Konsequenzen fort.
Ofer Cassif vertritt die Demokratische Front für Frieden und Gleichheit (Hadash) in der israelischen Knesset seit 2019.
Mit Gil Shohat, dem Leiter des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sprach er über die Stimmung in Israel seit dem 7. Oktober, seinen eigenen politischen Weg vom Arbeiterzionismus zum Antizionismus und darüber, wie sich das Verhältnis der Linken in Israel zum Rest der Welt seit Kriegsbeginn entwickelt hat.
Gil Shohat: Lassen Sie uns mit einem kurzen Rückblick auf die letzten Monate in der Knesset beginnen, wo Sie Abgeordneter der Demokratischen Front für Frieden und Gleichheit sind, besser bekannt unter ihrem hebräischen Akronym «Hadash». Im Februar konnten Sie nur knapp einen Amtsenthebungsversuch abwenden. Wie beurteilen Sie rückblickend das Verfahren angesichts des restriktiven politischen Klimas, das derzeit in Israel herrscht?
Ofer Cassif: Zunächst einmal ist das 2016 verabschiedete Gesetz, das es Mitgliedern der Knesset ermöglicht, ein anderes Mitglied abzuwählen, per definitionem undemokratisch – eine Tyrannei der Mehrheit. Ein Amtsenthebungsverfahren gegen ein Mitglied der Knesset kann aus zwei Gründen eingeleitet werden: Der erste Grund ist die Unterstützung von Rassismus – ironischerweise müsste die große Mehrheit der israelischen Parlamentarier*innen mit einem Amtsenthebungsverfahren rechnen, wenn diese Klausel wirklich angewandt würde. Der zweite Grund ist die Unterstützung des bewaffneten Kampfes oder des Terrorismus gegen Israel.
Anlass für das gegen mich eingeleitete Verfahren, war eine Petition, die ich unterschrieben hatte. Sie sollte die südafrikanische Klage vor dem Internationalen Gerichtshof im Dezember 2023 unterstützen und wurde von einigen israelischen Friedensaktivist*innen initiiert und von fast 900 israelischen Bürger*innen unterzeichnet. Die Petition argumentiert, dass der IGH das geeignete Gremium sei, um die Ereignisse in Gaza zu untersuchen, da er die Macht habe, den Krieg zu beenden oder zumindest einen Waffenstillstand zu erwirken.
Ein Mitglied einer rechtsgerichteten Oppositionspartei war der Ansicht, dass meine Unterstützung der Petition eine Unterstützung des bewaffneten Kampfes gegen Israel darstelle, eine geradezu orwellsche Behauptung in Anbetracht der Tatsache, dass ich ja eine Petition gegen Gewalt unterzeichnet hatte. Nichtsdestotrotz gelang es diesem Mitglied, 86 Unterschriften zu sammeln und so das Amtsenthebungsverfahren einzuleiten. Im Nachhinein betrachtet, war das kein ordentliches Verfahren. Es war politisch motiviert, denn es gab keinen wirklichen Grund für die Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens, da ja keine Unterstützung des bewaffneten Kampfes vorlag.
Außerdem sollten die Mitglieder der Knesset als Jury fungieren. Einige von ihnen machten mir gegenüber keinen Hehl daraus, dass sie ihre Stimme gemäß ihrer politischen Agenda und nicht auf Grundlage von Fakten abgeben würden. Am Ende fehlten bei der Abstimmung im Plenum vier Stimmen, um mich auszuschließen. Aber die Tatsache, dass 86 von 120 Knesset-Abgeordneten mich tatsächlich absetzen wollten, zeigt das Demokratiedefizit in Israel. Es bestand schon immer, aber es wird immer schlimmer. Alle wussten, dass der Vorgang unrechtmäßig war. Aber es war ihnen egal.
Eine der Grundlagen einer modernen Demokratie ist die Skepsis gegenüber der eigenen Regierung.
Ich danke meinen Genoss*innen in der Fraktion, die viel Energie und Mühe investiert haben, um die Abstimmung gegen mich zu verhindern. Andererseits bin ich sehr enttäuscht von vielen meiner Parlamentskolleg*innen, mit denen ich früher gute Beziehungen hatte. Das liegt nicht daran, dass sie meine Ansichten nicht teilen – das taten sie früher auch nicht. Vielmehr habe ich von ihnen eine gewisse Integrität erwartet. Mindestens zwei von ihnen haben mir gesagt, dass sie nach ihren politischen Interessen abstimmen würden und nicht nach dem Gesetz oder auf Grundlage der Fakten in diesem Fall. Heute kann ich ihnen kaum noch ins Gesicht schauen, weil ihr Vorgehen so zynisch und unehrlich war.
Warum haben Sie die Petition unterzeichnet?
Ich habe die Petition unterschrieben, weil ich der israelischen Regierung nicht traue, wie ich überhaupt Regierungen nicht traue, vor allem in Bezug auf die Darstellung ihrer eigenen Taten. Eine der Grundlagen einer modernen Demokratie ist die Skepsis gegenüber der eigenen Regierung. Deshalb haben wir eine Opposition im Parlament. Aber das kritische Misstrauen der Oppositionsparteien ist nach dem Massaker der Hamas verschwunden.
Wir alle erinnern uns an die Straßenproteste vor dem 7. Oktober. Jetzt, nach dem Massaker der Hamas – das wir natürlich alle verurteilen, um es gelinde zu sagen – steht plötzlich fast die gesamte Opposition auf der Seite der Regierung und sagt: «Es gibt keinen Völkermord», «Es gibt keine Verbrechen Israels in Gaza». Warum sollte ich das als Oppositionspolitiker akzeptieren? Weil die Regierung durch den Krieg plötzlich ehrlich wird – oder weil der Krieg eine Legitimation für Lügen ist?
Ich habe die Petition unterschrieben, um eine Untersuchung zu ermöglichen und um den Krieg und das Blutbad an Palästinenser*innen und Israelis zu beenden. Zehntausende Palästinenser*innen wurden niedergemetzelt – anders kann man es nicht beschreiben. Wir sprechen von mindestens 30.000 Menschen, meist unschuldige Zivilist*innen, mehr als ein Drittel davon Kinder. Das muss sofort aufhören! Wir sprechen aber auch von den israelischen Soldat*innen und den armen Geiseln, die in den Händen der Hamas sterben. Für die Regierung haben die Geiseln keine Priorität. Sie ist nur an ihrer Selbsterhaltung und an der Fortsetzung ihres zügellosen Rachefeldzuges interessiert.
Kürzlich haben wir bei einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin unter anderem darüber gesprochen, dass Politiker*innen zu ihren Prinzipien stehen müssen. Sie haben den Kampf der Wähler*innen aus dem Süden Israels, die nach dem Massaker vom 7. Oktober keine staatliche Unterstützung erhalten haben, in den Anhörungen des Knesset-Ausschusses unterstützt, obwohl Sie kaum eine Chance haben, Stimmen von ihnen zu bekommen. Wenn Sie andererseits von Knessetabgeordneten sprechen, die aus sehr fragwürdigen Gründen gegen ihre eigenen Grundsätze abstimmen, sagt das etwas über die allgemeine politische Kultur in Israel aus?
Ich bin hier, um mich für die Benachteiligten einzusetzen. Ich war 20 Jahre lang Lehrbeauftragter an der Universität. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht, und ich hätte damit weitermachen können. Aber für mich ist es kein Selbstzweck, Mitglied der Knesset zu sein. Ich bin seit 35 Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei Israels, weil wir Werte, Überzeugungen und eine Weltanschauung teilen. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um diese Weltanschauung zu verwirklichen oder zumindest das Gegenteil zu verhindern.
Aber auch in Bezug auf die Realpolitik bin ich der festen Überzeugung, dass man am Ende verliert, wenn man nicht für das einsteht, woran man politisch wirklich glaubt. Selbst wenn dich Menschen für deine Ansichten verachten, schätzen sie dein Engagement und deine Ehrlichkeit, auch wenn es manchmal lange dauert, bis sie es zugeben. Wenn man lügt, um Mehrheiten zu gewinnen, kommt das irgendwann ans Licht. Einer der Gründe, warum die Knesset in Israel so unbeliebt ist, ist die weit verbreitete Unehrlichkeit vieler Politiker*innen. Ich bin sicher, dass selbst diejenigen, die meine Ansichten verachten, wissen, dass sie das von mir nicht behaupten können.
Vielen Menschen wird langsam klar, dass es so nicht weitergehen kann.
Einige stellen fest, dass die einzigen, die eine Antwort haben oder wirklich bereit sind, sich diesem Wahnsinn zu stellen, diejenigen sind, die den Krieg und die Besatzung insgesamt ablehnen.
Wenn man die Wahrheit sagt und dazu steht, wird man auf lange Sicht geschätzt und unterstützt. Wenn ich sage, dass ich die Unabhängigkeit des palästinensischen Volkes unterstütze, dann nicht nur, weil ich sie für wichtig halte, sondern weil ich wirklich glaube, dass sie in der Zukunft – hoffentlich bald – verwirklicht wird. Die Menschen werden zurückblicken und sagen, dass wir in dieser Sache Recht hatten, auch wenn es schwierig war.
Ein weiterer Grund dafür, dass ich offen an meinen politischen Überzeugungen festhalte, ist eher philosophischer Natur. Die deutsche Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann spricht von der sogenannten «Schweigespirale» und beschreibt damit die Tatsache, dass die Öffentlichkeit und die Medien eine wesentliche Rolle für die allgemeinen Überzeugungen der Gesellschaft spielen. Andersdenkende tendieren dazu, zu schweigen, um von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Wenn ich mir also nicht erlaube zu schweigen, dann vor allem deshalb, weil die Schweigespirale gewinnen würde, wenn ich es täte. Es würde bedeuten, dass eine Alternative nicht nur unmöglich, sondern von vornherein undenkbar wird.
Wie können Sie angesichts der prekären Position der Hadash in der israelischen Politik die Mehrheit der israelischen Gesellschaft für Ihre Ziele gewinnen? Ist es manchmal strategisch sinnvoll, nicht alles zu sagen, was man denkt, um anschlussfähig zu bleiben? Kann das Aussprechen der Wahrheit gegenüber den Mächtigen auch verhindern, dass man seine politischen Ziele erreicht?
Aus strategischen Gründen sage ich nicht einfach, was ich will, ohne Rücksicht auf die Umstände und die öffentliche Meinung. Das ist nicht die Aufgabe eines Politikers. Die eigentliche Frage ist nicht, ob es ein Gleichgewicht zwischen Realpolitik und Weltanschauung braucht, sondern wo es liegen sollte. Natürlich gibt es Dinge, die ich nicht ausspreche oder anders auszudrücken versuche, aber ich werde nicht lügen. Ich werde nie etwas sagen, an das ich nicht glaube.
Das unterscheidet Strategie von Zynismus, könnte man sagen.
Ganz genau. Ich halte meinen Zynismus aus meiner Politik heraus.
Ich weiß zum Beispiel, dass wir als Hadash in den Städten Sderot und Ashkelon (im Süden Israels) nicht viele Stimmen holen werden. Trotzdem war ich es, der auf die Diskriminierung von Ashkelon und Sderot in den staatlichen Entschädigungsregelungen nach dem Massaker vom 7. Oktober hingewiesen hat. Ich habe das nicht getan, um dort mehr Stimmen zu bekommen, sondern weil ich es für richtig halte. Ich bin sicher, wenn in 20 Jahren jemand aus Ashkelon oder Sderot zurückblickt und schaut, wer sich damals für die Menschen in Sderot oder Ashkelon eingesetzt hat, wird er feststellen, dass wir, die Linke, das getan haben, und ich glaube, das könnte ihre Einstellung ändern.
Wie würden Sie allgemein die Stellung von Hadash und der israelischen Linken nach dem 7. Oktober beschreiben?
Mein Anwalt, Michael Sfard, hat vor kurzem den Begriff «chronische Minderheit» geprägt. Die Kommunistische Partei Israels war unter verschiedenen Namen und in verschiedenen Zusammenschlüssen seit der Gründung des Staates Israel immer eine chronische Minderheit – nicht nur in Bezug auf die Anzahl der Sitze und Stimmen, sondern auch in Bezug auf unsere Überzeugungen. Dass wir schon immer ausgegrenzt wurden, liegt neben unseren Ansichten aber auch daran, dass wir die einzige palästinensisch-jüdische parlamentarische Kraft sind.
Wir halten an der jüdisch-palästinensischen Partnerschaft, an der Geschwisterlichkeit und an der Kameradschaft aus Prinzip fest. Wir glauben daran, weil keines dieser Völker sich in Luft auflösen wird, aber auch, weil ein zentraler Wert der Linken – und wer wüsste das besser als die Namensvetter*innen Rosa Luxemburgs – der Internationalismus ist, selbst in den schwierigsten Zeiten. Nach dem Massaker vom 7. Oktober und dem Massaker, das die israelische Regierung in Gaza verübt, was wäre einfacher, als auf die Gegensätzlichkeit zwischen den Völkern zu setzen?
Es ist sehr einfach und sehr populistisch, Jüd*innen gegen Palästinenser*innen und Palästinenser*innen gegen Jüd*innen auszuspielen. Israelis und Jüd*innen, Araber*innen, Palästinenser*innen – alle sind wütend, weil alle verletzt wurden. Das macht es natürlich viel schwieriger, die Partnerschaft aufrechtzuerhalten und zu stärken. Dennoch gibt es Tausende von Menschen in Israel, die unsere Werte teilen, auch wenn sie uns als politische Bewegung nicht automatisch unterstützen.
Ich bin in erster Linie Marxist, und das Hinterfragen ist grundlegend für die marxistische Lebensweise.
Das war auch in der Vergangenheit so. Wir haben nicht vergessen, wie die Regierung Netanjahu 2023 einen Justizputsch durchführen wollte. Er scheiterte vor allem an den Massenprotesten. Heute geht nur noch eine Minderheit auf die Straße. Seit Oktober werden alternative Stimmen noch stärker politisch mundtot gemacht und verfolgt. Menschen wurden verhaftet, verhört, von der Universität suspendiert, entlassen und geschlagen, weil sie sich gegen den Krieg aussprachen.
Wir sind Teil dieser Minderheit. Es ist uns gelungen, mehr als 40 Organisationen, vor allem aus der Zivilgesellschaft, in einer Koalition zu vereinen, die sich Peace Partnership (Partnerschaft für den Frieden) nennt. Wir kämpfen weiter für ein Ende des Krieges, für die Freilassung der Geiseln nach dem Prinzip «alle für alle» und natürlich für Frieden und ein Ende der Besatzung. Es ist nicht einfach, aber auch nicht hoffnungslos.
Seit Anfang des Jahres beobachte ich die Tendenz, dass Organisationen in Israel versuchen, interne Differenzen zu überwinden und für ein größeres Ziel zu mobilisieren. Ich denke, wir sollten auch die Entwicklung, die die Linke in Israel macht, nicht unterschätzen.
Die vollkommene Vernachlässigung der Geiseln seitens der Regierung hat inzwischen zu einer politischen Verschiebung geführt. Ich will nicht sagen, dass sich außer uns niemand um die Palästinenser*innen kümmert, das ist absolut nicht der Fall, aber der maßgebende Faktor für die Veränderungen war am Anfang, dass den Menschen langsam klar wurde, dass die Geiseln Netanjahu und seinen Fanatiker*innen egal sind. Auch das Wohlergehen – ja sogar das Leben – der Soldat*innen ist ihnen egal, ganz zu schweigen von dem der palästinensischen Bevölkerung. Sie sind bereit, sie zu opfern, damit die Regierung weiterbestehen kann.
Angesichts der Statements von Fanatikern wie Itamar Ben-Gvir (Minister für Nationale Sicherheit), Bezalel Smotrich (Finanzminister) und anderen messianischen Fanatiker*innen verstehen immer mehr Menschen, dass Geiseln und Menschenleben ihnen nicht so wichtig sind. Ihre Priorität ist es, den Gazastreifen zu besetzen, um der Ankunft des Messias näher zu kommen und so weiter.
Wie würden Sie das Verhältnis zwischen der israelischen Linken und der internationalen Linken beschreiben?
Ich glaube, es gibt zwei Hauptprobleme, zwei Seiten derselben Medaille. Ein Teil der Linken arbeitet – manchmal, vielleicht sogar meistens, ohne es zu wissen – mit Antisemit*innen zusammen. Zu viele wollen nicht zwischen Antisemitismus und Israelkritik unterscheiden, und manche sind sich dessen nicht bewusst. Sie übersehen den Unterschied zwischen Antisemitismus, einer Form von Rassismus, die wir wie jeden anderen Rassismus bekämpfen müssen, und der Kritik an der Politik der israelischen Regierung – an der Besatzung, am Krieg, ja sogar am Zionismus.
Ich bin Antizionist. Antizionismus ist eine legitime Kritik oder ein Einwand gegen eine bestimmte Ideologie, so wie ich gegen den Kapitalismus oder den Faschismus bin, aber ich bin nicht antiisraelisch, und ich bin natürlich hundertprozentig gegen Antisemitismus.
Das ist der Punkt: Ich bin Jude. Ich bin Atheist, aber zugleich Jude und davon nicht entfremdet. Mütterlicherseits hat niemand den Holocaust überlebt, außer meinen Großeltern, die fünf Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg nach Palästina kamen. Sie haben ihre ganze Familie verloren. Sie wurden alle von den Nazis ermordet. Natürlich mache ich einen klaren Unterschied zwischen den Nazis und den Deutschen.
Wie haben die Entwicklungen seit dem 7. Oktober diese Beziehung verändert?
Auf der einen Seite sehe ich viele gute Menschen – engagierte Linke, Antiimperialist*innen, Sozialist*innen – die keinen Unterschied machen, die nicht verstehen, dass Jüd*innen nicht der Feind sind, dass die Politik der Regierung und die Einstellungen der Bevölkerung nicht dasselbe sind. In diesem Sinne leisten sie den fanatischen Antisemit*innen, Faschist*innen und manchmal sogar Neonazis Vorschub.
Sie müssen sich darüber im Klaren sein, was sie tun. Als ich las, was einige postkolonialistische Professor*innen an nordamerikanischen Universitäten zum 7. Oktober zu sagen hatten, war ich schockiert. So platt, so oberflächlich. So dumm. Unmenschlich. Sie sollten sich dafür schämen und für jeden, der solche Ansichten teilt. Was unterscheidet Sie von Neonazis?
Das Blutbad vom 7. Oktober beweist, dass es unter den gegenwärtigen Umständen keine Chance für einen gemeinsamen Staat gibt – vielleicht in der Zukunft, aber nicht jetzt. Mehr als 100 Jahre schrecklicher Feindschaft können nicht von heute auf morgen überwunden werden.
Ich sage ihnen: Seid gegen Kolonialismus, seid gegen Besatzung, seid gegen Krieg, seid gegen den völkermörderischen Angriff auf Gaza, aber seid auch gegen Antisemitismus – arbeitet nicht mit Antisemit*innen zusammen. Wenn ihr zu einer Demonstration gegen den Angriff auf Gaza geht, gehe ich mit. Aber wenn ihr auf diesen Demonstrationen Antisemit*innen willkommen heißt, werde ich niemals dabei sein.
Die andere Seite macht genau das Gegenteil: Sie unterscheidet nicht zwischen Antisemitismus, Antikriegshaltung, Besatzungskritik und Antizionismus, sondern steht blind hinter der israelischen Regierung. Beide Seiten liegen falsch, schrecklich falsch. Deshalb sind es zwei Seiten der gleichen Medaille. Das ist einfach dumm. Das Leben ist komplizierter.
Sie haben erwähnt, dass Sie stolz darauf sind, Mitglied einer internationalistischen, jüdisch-palästinensischen – vielleicht sogar palästinensisch-jüdischen, da die Mehrheit palästinensisch ist – Partei in Israel zu sein. Wie sind Sie zu dieser Partei gekommen? Und was hat Sie konkret in die Knesset geführt?
Ich bin der Kommunistischen Partei 1988 beigetreten, nachdem ich mich geweigert hatte, als Reservist in den besetzten palästinensischen Gebieten zu dienen.
Aber Sie haben in der Armee gedient, nicht wahr?
Ja, denn ich wurde in eine arbeiterzionistische Familie hineingeboren, und es dauerte einige Zeit, bis ich mich sozusagen «weiterentwickelt» hatte. Mit 15 oder 16 Jahren schloss ich mich einer linkszionistischen Jugendbewegung an, der Jugendgruppe der damals am weitesten links stehenden zionistischen Partei Sheli – ein Akronym für «Frieden und Gleichheit für Israel», die es heute nicht mehr gibt – und ging zur Armee. Heute bereue ich das natürlich.
Als ich dann an der Hebräischen Universität in Jerusalem meinen ersten Abschluss machte, begann die erste Intifada. Ich wurde als Fallschirmjäger entsandt und sollte als Reservist in Gaza dienen. Ich weigerte mich und kam ins Gefängnis, und dann fing ich an, mich weiter nach links zu orientieren.
Ich begann, die Unzulänglichkeiten der zionistischen Weltanschauung und ihrer Praxis zu verstehen, um es vorsichtig auszudrücken. Ich entwickelte langsam antizionistische Ideen und Überzeugungen und trat der Kommunistischen Partei bei. Ich war parlamentarischer Mitarbeiter von Meir Vilner, dem Generalsekretär und legendären Anführer der Partei. Während dieser Zeit wurde ich dreimal inhaftiert, insgesamt war ich viermal im Militärgefängnis, weil ich mich geweigert hatte, in den besetzten palästinensischen Gebieten zu dienen.
Vor etwa 15 Jahren wurde ich ins Politbüro der Partei gewählt und davor ins Zentralkomitee. Vor etwa fünf Jahren beschloss ich, dass es an der Zeit wäre, für die Knesset zu kandidieren. Ich beriet mich mit einigen Genoss*innen, stellte fest, dass ich breite Unterstützung hatte, und glücklicherweise hatte ich Erfolg.
Was hat Ihre Hinwendung zum Antizionismus bedingt? Teilen Sie diese Erfahrungen mit anderen Menschen, die sich vielleicht Ihrer politischen Ausrichtung annähern, aber noch nicht so weit sind?
Ich war der Erste, der während der ersten Intifada den Dienst verweigerte und dafür ins Gefängnis kam. Das war ein sehr radikaler, fast revolutionärer Akt, denn das hatte zuvor noch niemand getan. Ich wusste nicht, ob ich Unterstützung erhalten würde, denn ich war noch nicht Mitglied der Kommunistischen Partei, und die Leute, die ich von anderen politischen Aktivitäten her kannte, lehnten Wehrdienstverweigerung grundsätzlich ab.
Aber ich erhielt massive Unterstützung von den Genoss*innen der Kommunistischen Partei, einschließlich der Abgeordneten der Knesset, und von der Yesh Gvul-Bewegung, der sogenannten «Gewerkschaft der Kriegsdienstverweiger*innen». Sie alle demonstrierten vor dem Gefängnis, um mich zu unterstützen. Das gab mir viel Selbstvertrauen und Mut, weiterzumachen. Wie ich mich kenne, wäre ich wahrscheinlich sowieso bei meiner Überzeugung geblieben, aber diese breite Unterstützung hat mich bestärkt.
Als ich zum zweiten Mal wegen Wehrdienstverweigerung ins Gefängnis kam, haben auch meine Eltern ihre Ansichten langsam geändert. Das hat mir auch geholfen, weiterzumachen.
Sie haben von Internationalismus und Antizionismus gesprochen. Nach dem 7. Oktober, nach den Massakern an der israelischen Zivilbevölkerung, aber auch, und das ist jetzt noch dringender, angesichts der Massaker, die jeden Tag im Gazastreifen stattfinden, welche Zukunft sehen Sie für eine internationalistische Perspektive in Israel-Palästina nach all diesem Horror?
Ich glaube, dass sich unser Verständnis der Situation bestätigt hat. Wir warnen nicht erst seit 1967, sondern seit der Nakba (1948): Wenn das palästinensische Volk nicht frei ist, wenn es keinen eigenen Staat bekommt, wird es eine Katastrophe geben. Die Situation wird aus den Fugen geraten und alle werden den Preis dafür zahlen, Palästinenser*innen und Israelis.
Die Hadash-Abgeordneten in der Knesset waren 2005 gegen den israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen. Sie argumentierten, dass es ohne echte Unabhängigkeit für das palästinensische Volk und ohne Dialog mit der palästinensischen Führung keine Lösung geben könne. Gaza würde sich in ein riesiges Gefängnis verwandeln. Zwanzig Jahre später ist genau das eingetreten, was wir vorhergesagt haben. Ich brauche also nur zu wiederholen, was wir seit langem sagen.
Es gibt keine andere Option als die Zweistaatenlösung.
Kurzfristig werden wir noch viel Blutvergießen sehen, fürchte ich. Aber langfristig bin ich zuversichtlich, weil ich sicher bin, dass jetzt alle Menschen in der Welt – aber auch immer mehr Menschen in Israel selbst – verstehen, dass der einzige Weg, das Blutvergießen und das Leiden auf beiden Seiten zu beenden, die palästinensische Unabhängigkeit und ein souveräner palästinensischer Staat in den Gebieten ist, die Israel 1967 besetzt hat – die Zweistaatenlösung. Es gibt keinen anderen Weg.
Außerdem glaube ich, dass die internationale Gemeinschaft diese Vision nicht nur verbal, sondern auch praktisch unterstützen und ihre Umsetzung voranbringen wird. Es kann ein Jahr oder zwei Jahre dauern, vielleicht auch fünf, aber wir sind dem Ziel näher, als wir es am 6. Oktober waren.
Was würde das konkret für Israel bedeuten? Einige argumentieren, dass die Siedlungen eine Zweistaatenlösung unmöglich und eine Einstaatenlösung unvermeidlich machen.
Zunächst einmal sind im Grunde alle Siedlungen illegal. Sie beruhen auf gewaltsamer Enteignung. Sie sollten alle abgebaut werden.
Ich spreche von einer Zweistaatenlösung im Sinne eines völlig unabhängigen, souveränen palästinensischen Staates neben dem Staat Israel im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ostjerusalem. Wenn es zu einem späteren Zeitpunkt mit Zustimmung aller Beteiligten einen Weg gibt, diese beiden Staaten zu einem Staat zu vereinen – eine Konföderation zum Beispiel, da gibt es viele Ideen –, dann habe ich damit kein Problem, vorausgesetzt, der Staat ist demokratisch und bietet allen Sicherheit, die innerhalb seiner Grenzen leben, und er beruht, wie gesagt, auf den Konsens aller Seiten.
In dieser Frage bin ich sehr kritisch gegenüber Leuten – von denen ich einige wirklich schätze –, die von einer Einstaatenlösung sprechen. Unter den gegenwärtigen Umständen ist die Einstaatenlösung keine Option. Das ist eine Vision, die ich im Idealfall befürworten würde, aber in der Praxis müssen wir das richtige Gleichgewicht zwischen Idealen und der Realpolitik finden. Das Blutbad vom 7. Oktober beweist, dass es unter den gegenwärtigen Umständen keine Chance auf einen Einheitsstaat gibt – vielleicht in der Zukunft, aber nicht im Moment.
Es gibt keine andere Option als die Zweistaatenlösung. Gleichzeitig sind die Kommunistische Partei als Ganzes und ich persönlich der festen Überzeugung, dass Israel selbst demokratisiert werden muss. Es kann nicht auf der Vorherrschaft einer der beiden Gruppen beruhen. Auch in der israelischen Innenpolitik und Gesellschaft muss ein Wandel stattfinden.
Da Sie mit einem Vertreter einer deutschen Stiftung sprechen, die mit einer deutschen demokratisch-sozialistischen Partei verbunden ist, möchte ich abschließend «unsere» Position thematisieren: Wie beurteilen Sie die Rolle der deutschen Linken in den letzten Wochen und Monaten, aber auch Jahren? Und was erwarten Sie von der deutschen Linken für die Zukunft?
Ich glaube, dass diejenigen, die die israelische Regierung unterstützen, gegen das israelische Volk handeln, und ich würde von einer deutschen Linken erwarten, dass sie zum Beispiel die BDS-Kampagne (Boycott, Divestment, Sanctions) nicht kriminalisieren. Sie müssen die Prämisse nicht akzeptieren oder ihr zustimmen, aber sie sollten sie nicht kriminalisieren – weder die BDS-Demonstrationen noch diejenigen, die gegen die Besatzung sind.
Deutsche Linke unterscheiden oftmals nicht klar zwischen Antisemitismus und antizionistischen, besatzungs- und kriegsfeindlichen politischen Überzeugungen und Aktivitäten. Deshalb erkennen sie bedauerlicherweise oft nicht, dass sie die israelische Regierung unterstützen und nicht das israelische Volk.
Man sollte auch diejenigen nicht kriminalisieren, die für eine Einstaatenlösung eintreten. Ich stimme nicht mit ihnen überein, aber diejenigen, die auf der Straße rufen: «From the river to the sea, Palestine will be free!» («Vom Fluss bis zum Meer – Palästina wird frei sein»), sind nicht unbedingt Antisemit*innen. Einige von ihnen sind es, da mache ich mir nichts vor, und ich werde sie wie alle anderen Rassist*innen bekämpfen, aber viele von ihnen sind gute Menschen, die wirklich an einen demokratischen, säkularen Staat für alle zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan glauben.
Ich habe mehr als einmal Leute von der Linken getroffen, die sich dafür aussprechen, die Meinungsfreiheit dieser Menschen einzuschränken. Das halte ich für eine Katastrophe. Tun Sie das nicht. Sie spielen nur den Rechtsextremen in die Hände.
Übersetzung von Camilla Elle und Charlotte Thießen für Gegensatz Translation Collective