Dieser Text wurde vor dem Angriff Irans auf Israel in der Nacht vom 13. auf den 14. April 2024 verfasst.
Der 7. Oktober 2023 führte auch in Saudi-Arabien zu einer Zäsur. Ähnlich wie in anderen Teilen der arabischen Welt sowie in Europa und den USA hatte die saudische Führung unter dem mächtigen Kronprinzen Muhammad bin Salman dem israelisch-palästinensischen Konflikt kaum noch politische Relevanz zugewiesen. Stattdessen waren in den Monaten vor dem Gaza-Krieg vertiefte Gespräche mit der israelischen Regierung sowie der US-amerikanischen Administration unter Präsident Joe Biden geführt worden, um eine Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel und schlussendlich eine bilaterale Normalisierung zu erreichen. Damit wäre Saudi-Arabien dem Beispiel anderer arabischer Golfmonarchien wie den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Bahrain gefolgt, die bereits 2020 die sogenannten «Abraham-Abkommen» mit Israel unterzeichnet und damit diplomatische Beziehungen aufgenommen hatten. Zwar hatte das Königreich längst informelle Netzwerke zu israelischen Vertreter*innen aus Wirtschaft, Sicherheit und Politik aufgebaut, sodass es nur noch als eine Frage der Zeit erschien, wann Saudi-Arabien auch offiziell Israel anerkennen würde. So betonte Muhammad bin Salman in einem TV-Interview mit dem US-amerikanischen Fernsehsender Fox News im September 2023, alle Seiten würden sich «Tag für Tag» einem Abkommen annähern. Doch die verheerenden Anschläge der Hamas auf Israel mit mehr als 1.200 Toten sowie der anschließende Krieg in Gaza mit bislang mehr als 33.000 Getöteten haben diese Gespräche vorerst gestoppt. Stattdessen steht die saudische Führung mehr denn je unter Druck, eine Position zum Gaza-Krieg und zu Israel zu entwickeln, die die eigenen Ziele nicht schwächt, gleichzeitig aber auch die ablehnende Haltung weiter Teile der saudischen und arabischen Öffentlichkeit gegenüber Israel berücksichtigt. In Saudi-Arabien sprechen sich inzwischen fast 100 Prozent der Jugendlichen gegen eine Normalisierung mit Israel aus, und die Bevölkerungsmehrheit fordert den Abbruch aller Beziehungen zu Israel.
Dr. Sebastian Sons ist promovierter Islamwissenschaftler und arbeitet am Forschungsinstitut CARPO zu den arabischen Golfmonarchien. Sein aktuelles Buch «Die neuen Herrscher am Golf und ihr Streben nach globalem Einfluss» ist 2023 im Dietz-Verlag erschienen.
Der Gaza-Krieg als Bedrohung saudi-arabischer Interessen
Aus saudischer Perspektive sind demnach die vorerst auf Eis gelegten Gespräche mit Israel einerseits Glück im Unglück: Im Gegensatz zu den VAE und Bahrain, die die Abraham-Abkommen unterzeichnet und damit offiziell ihre Beziehungen zu Israel normalisiert haben, erweckt Saudi-Arabien den Eindruck, dass bereits vor dem 7. Oktober keineswegs eine Einigung mit Israel in Sicht gewesen sei. Immerhin habe man immer auf die Gründung eines palästinensischen Staates gedrängt und darüber den USA verlangt. Andererseits bleibt Israel aus sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Gründen ein potenziell attraktiver Partner für das auf wirtschaftliche Diversifizierung und sozioökonomische Transformation angewiesene Königreich. Das drastische militärische Vorgehen der israelischen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu potenziert allerdings das Leid der palästinensischen Bevölkerung, erhöht das Risiko einer regionalen Eskalation und stärkt den Einfluss radikaler Gruppen wie der Hamas, dessen Angriff auf Israel auch in Saudi-Arabien verurteilt wurde. So betrachtet der saudische Analyst Hesham Alghannam Israel eher als Sicherheitsgefahr und nicht länger als Bollwerk gegen die iranische Einflussnahme in der saudischen Nachbarschaft. Vor diesem Hintergrund steckt Saudi-Arabien in einer verzwickten Situation, da der Gaza-Krieg die saudischen Interessen auf drei Ebenen massiv bedroht:
- Die wirtschaftliche Dimension: Saudi-Arabien befindet sich in einer komplexen gesellschaftlichen Transformation. Das Land muss sich aus der Abhängigkeit vom Erdöl lösen und investiert deswegen im Rahmen der vom Kronprinzen 2017 eingeführten «Vision 2030» massiv in den Tourismus, die Sport-, Wissens- und Kulturindustrie und die Unterhaltungsbranche. Ziel ist es, der jungen Generation trotz Steuererhöhungen und sinkender Subventionen eine Perspektive zu bieten, die Jugendarbeitslosigkeit weiter zu senken und damit den Gesellschaftsvertrag zu modifizieren, ohne ihn zerbrechen zu lassen. Hierfür muss das saudische Geschäftsmodell Erfolg haben, wofür ausländische Investitionen und externes Kapital benötigt werden. Insbesondere die ambitionierten Giga-Projekte wie die Technologiestadt The Line im Nordwesten des Landes sind gefährdet, sollte die Gefahr für die regionale Stabilität und für die Lage im Roten Meer nach Beginn der Angriffe der jemenitischen Huthis im Zuge des Gaza-Krieges auf den Schiffsverkehr direkt vor der Küste des Königreichs anhalten. Saudi-Arabien bewirbt sich als einziger Kandidat auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2034 der Herren und möchte bis zum Ende des Jahrzehnts bis zu 25 Weltmeisterschaften in unterschiedlichen Sportarten sowie 2029 die Asiatischen Winterspiele organisieren. Bis 2030 sollen 150 Mio. Tourist*innen ins Land strömen. Um diese Pläne erfolgreich umzusetzen, benötigt die saudische Führung dringend regionale Stabilität. Voraussetzung hierfür ist die Sicherheit des Investitionsstandortes, weswegen der Gaza-Krieg diesen Kurs der wirtschaftlichen Diversifizierung gefährdet.
- Die sicherheitspolitische Dimension: Um diese Ziele zu erreichen, verfolgt das Königreich einen Kurs des Interessensausgleichs. Bestes Beispiel dafür ist die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Iran im März 2023. Für Saudi-Arabien stellt die Annäherung an den regionalen Rivalen den vorläufigen Höhepunkt eines anhaltenden Deeskalationskurses dar, der nach den Anschlägen auf die saudischen Ölraffinerien im September 2019 seinen Anfang nahm. Trotz der engen Beziehungen zwischen Teheran und der Hamas hielten Saudi-Arabien und Iran ihre Kommunikationskanäle auch nach dem 7. Oktober aufrecht. So telefonierten fünf Tage später Muhammad bin Salman und Präsident Ebrahim Raisi zum ersten Mal miteinander. Allerdings basiert diese Annäherung nicht auf gegenseitigem Vertrauen, sondern eher auf taktischen Erwägungen. Oberstes Ziel war eine Deeskalation im Jemen-Krieg und eine saudische Verständigung mit den von Iran unterstützten Huthis. Dies gelang teilweise: So haben die Huthis im Zuge des Gaza-Kriegs ihre Angriffe auf Schiffe im Roten Meer intensiviert, sehen aber von Attacken auf saudische Ziele wie noch zwischen 2015 und 2022 ab. Auch um diesen Prozess nicht zu gefährden, beteiligt sich Saudi-Arabien nicht an der US-geführten Marineoperation «Prosperity Guardian» zur Sicherung der Seehandelswege in der Region.
- Die identitätsstiftende Dimension: Saudi-Arabiens Transformation umfasst auch die Suche nach einer kollektiven saudischen Identität. Muhammad bin Salman proklamiert einen «Hypernationalismus», der sich explizit an eine junge Klientel, die «Generation MbS», richtet und traditionelle Kräfte wie den wahhabitischen Klerus marginalisiert hat. Der Gaza-Krieg schürt auch bei jungen Menschen pro-palästinensische und pan-arabische Identitätsvorstellungen, die an die religiöse Solidarität des saudischen Staates appellieren. In den letzten Jahren fanden öffentlich kaum Diskussionen statt, die sich mit der palästinensischen Sache beschäftigten, und es schien, als habe der Nahostkonflikt an emotionaler Wucht verloren. Das war ein Trugschluss. Darauf muss auch die saudische Identitätspolitik reagieren, indem sie nicht nur einen Kurs der gesellschaftlichen Liberalisierung und einen «Saudi First»-Nationalismus verfolgt, sondern stärker als bisher die Solidarität mit Palästina in das identitätsstiftende Narrativ einschließt. Dies fordert insbesondere den bisher pragmatischen Umgang mit Israel heraus.
Die Kritik Saudi-Arabiens an Israel nimmt zu
Vor dem Hintergrund dieser Risiken vollzieht sich in Saudi-Arabien ein schrittweiser Kurswechsel: Während die offiziellen Verlautbarungen kurz nach dem 7. Oktober kaum offene Kritik an Israel äußerten und sich eher pragmatisch-konziliant positionierten, haben in den letzten Wochen die saudischen Verurteilungen Israels am Vorgehen in Gaza massiv an Schärfe zugenommen. So bezeichnete die saudische Zeitung die israelische Militärkampagne als «zweite Nakba» und bezieht sich damit auf die auf arabischer Seite als «Katastrophe» bezeichnete Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 arabischen Palästinenser*innen aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina in Zusammenhang mit der Gründung Israels 1948. Weiterhin wird in Saudi-Arabien betont, dass ohne eine Zwei-Staaten-Lösung keine nachhaltige regionale Stabilität erreicht werden könne.
Die Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand, der Einrichtung sicherer humanitärer Korridore und deutlich ausgeweiteten Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen werden dabei begleitet von einer zunehmend deutlicheren Rhetorik, die dazu beitragen soll, Saudi-Arabiens Rolle als regionale Führungsmacht und traditioneller Schutzpatron der palästinensischen Sache zu festigen. So kamen bei der saudischen Spendenkampagne für Gaza bis Ende März mehr als 180 Millionen US-Dollar von etwa 1,8 Millionen Spender*innen zusammen. Im März stellte das saudische King Salman Humanitarian Aid and Relief Center (KSrelief) dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) 40 Millionen US-Dollar zur Verfügung. 2022 war das Königreich hinter den USA und Deutschland drittwichtigster Finanzier von UNRWA mit einem Gesamtvolumen von 27 Millionen US-Dollar.
Weiterhin betont das saudische Narrativ die Relevanz der sogenannten Arabischen Friedensinitiative, die 2002 maßgeblich vom damaligen saudischen König Abdullah initiiert worden war und die Zwei-Staaten-Lösung als Vorbedingung einer möglichen arabischen Normalisierung mit Israel fordert. Als Ausrichter von mehreren Krisengipfeln, an denen sogar regionale Rivalen wie Iran teilnahmen, und als wichtiger Gesprächspartner für die USA, Europa und andere regionale Akteure strebt Saudi-Arabien danach, sich als Plattform und Mediator zu präsentieren, ohne den eine Deeskalation der Situation nicht erreicht werden kann. Dabei fehlen dem Königreich allerdings die direkten und offiziellen Netzwerke zu den Konfliktparteien – im Gegensatz zu den VAE (zur israelischen Führung) und Katar (zur Hamas). Dies soll dadurch kompensiert werden, die eigene Soft Power in Form von Pendeldiplomatie, Netzwerken und politischer Vermittlung zu stärken. Saudi-Arabien verfügt als «Hüter» der beiden Heiligen Stätten Mekka und Medina innerhalb der islamischen Welt über eine religiöse Strahlkraft, die dem Königreich gerade bei der Solidarität mit den Palästinenser*innen eine besondere Verantwortung zukommen lässt. Die pro-palästinensischen Sympathie- und Solidaritätsbekundungen im saudischen In- und im arabischen Ausland können daher weder ignoriert noch unterdrückt werden, soll die Glaubwürdigkeit der saudischen Position nicht geschwächt werden.
Saudi-Arabien als regionaler Schlüsselakteur für ein Ende des Gaza-Kriegs
Daher sollte dem Königreich daran gelegen sein, auf mehreren Ebenen die derzeitige Situation konstruktiv zu nutzen. Vor dem Hintergrund der übergeordneten saudischen Interessen nach regionaler Stabilität, wirtschaftlicher Prosperität und nationaler Identitätsbildung hat Saudi-Arabien ein Interesse daran, die Phase des Konfliktmanagements zu überwinden und für die Beilegung des aktuellen Kriegs eine langfristige und andauernde Lösung anzustreben. Hierfür kann Saudi-Arabien als regionales Schwergewicht beitragen. Bislang ist es Saudi-Arabien nicht gelungen, einen Konsens mit anderen Golfstaaten wie den VAE und Katar zu finden und sich auf eine einheitliche Position zu verständigen. Zwar äußern die Regierungen in Riad, Abu Dhabi und Doha ähnliche Kritikpunkte. Sie fordern einen Waffenstillstand, eine Ausweitung der Hilfsleistungen und eine Perspektive zur Gründung eines palästinensischen Staates. Doch sie bieten keine gemeinsame Zukunftsvision für die Zeit nach Ende des Gaza-Kriegs an. Auch im Umgang mit Israel unterscheiden sich die Interessen und Vorgehensweisen der einzelnen Golfmonarchien teilweise fundamental, was einen regionalen Ansatz bislang verhindert.
Saudi-Arabien könnte als einflussreiche Führungskraft in der Region jedoch versuchen, diese Gräben zu überwinden und mit Druck und Dialog auf einen regionalen Lösungsansatz hinarbeiten. In allen Golfstaaten ist in den letzten Jahren das Vertrauen in die USA und die internationale Gemeinschaft gesunken, denen Scheinheiligkeit und Doppelmoral vorgeworfen wird – ein Trend, der sich nach dem 7. Oktober massiv verstärkt hat. Zwar ist allen Golfstaaten bewusst, dass ohne die aktive Mitwirkung der USA und Europas ein Ende des Gaza-Kriegs nicht realistisch erscheint. So finden regelmäßige Gespräche mit der Biden-Administration statt, um einen Wiederaufbauplan für ein Nachkriegsszenario zu entwickeln. Im März 2024 hat der Golfkooperationsrat, dem neben Saudi-Arabien auch die fünf anderen Golfmonarchien angehören, zum ersten Mal in seiner 43-jährigen Geschichte eine gemeinsame Vision für regionale Sicherheit veröffentlicht. Darin wird explizit auch die Schaffung einer Zwei-Staaten-Lösung auf Basis der Arabischen Friedensinitiative gefordert, um eine gerechte Lösung der palästinensischen Sache zu erreichen. Dieses Vorgehen soll die golfarabische Einheit stärken und trägt deutlich die Handschrift Saudi-Arabiens – ein erster Schritt auf dem Weg zu einer geeinten Position. Voraussetzung für einen solchen Plan ist allerdings ein Waffenstillstand.
Die «Vision 2030» zementiert den saudischen Führungsanspruch
Somit bietet sich in der Krise auch eine Chance für die Golfstaaten – und insbesondere für Saudi-Arabien – eine aktivere und konstruktivere Rolle als Konfliktlöser zu spielen und zugleich die eigene Autonomie vom «Westen» zu betonen. Dies würde die Rolle Saudi-Arabiens als ehrlicher Makler unterstreichen und weiterhin den Golfstaaten die Möglichkeit bieten, einen strategischen Kurswechsel einzuleiten, der sich weniger auf Konfliktmanagement, sondern auf einen praktischen Lösungsansatz konzentriert. Damit einher geht der Versuch, den Druck auf Israel zu erhöhen und einer Normalisierung nur zuzustimmen, wenn eine realistische Perspektive für eine Zwei-Staaten-Lösung existiert, wie u.a. der saudische Außenminister Faisal bin Farhan zum Ausdruck brachte.
Dafür benötigt es aus saudischer Perspektive auch einer Gegen-Erzählung, um die aufkeimende Popularität von Hamas und Huthis, von radikalen Kräften und Extremismus zurückzudrängen, und so den Menschen in Gaza und dem Rest der arabischen Welt eine Perspektive zu bieten. Die «Vision 2030» symbolisiert den saudischen Führungsanspruch in der arabischen Welt und wird daher nicht mehr nur ausschließlich als nationales Projekt für Wandel und Fortschritt, sondern als Antwort auf die regionalen Herausforderungen präsentiert; so diente sie in den letzten Jahren bereits als Vehikel für den engeren Austausch mit Israel und Iran. Dementsprechend könnte die saudische Führung versuchen, mithilfe der «Vision 2030» die Deutungshoheit zurückzugewinnen und sich als pragmatische und konstruktive Kraft präsentieren, die radikalen Bewegungen entgegentritt und ein erfolgversprechendes Gegenmodell in Form von wirtschaftlicher Integration und Investitionen anbietet.