Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa - Europa2024 «Mit Giorgia Meloni verändert Italien Europa»

David Broder über den stark personalisierten italienischen Wahlkampf

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David Broder,

Italien, 17.1.2024: Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni umarmt die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen.
Eingliederung in den Mainstream: Konservative betreiben die Loslösung des pragmatischen Individuums «Giorgia» von ihren extremistischen Verbündeten. 17.1.2024: Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni umarmt die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen., Foto: IMAGO / Italy Photo Press

«Schreibt einfach Giorgia!» Für Giorgia Melonis Partei Fratelli d’Italia dreht sich bei der Europawahl im Juni alles um die Premierministerin, die in den fünf italienischen Wahlkreisen jeweils als Spitzenkandidatin antritt. Da sie populärer ist als ihre Partei, schätzen Meinungsforscher*innen, dass allein ihr Name auf dem Stimmzettel zusätzliche zwei Prozent der Stimmen einbringen könnte, obwohl sie selbst nicht ins Europaparlament einziehen wird. Im April erklärte das Innenministerium, dass «Giorgia» ein zulässiger «Spitzname» sei. Es genügt also, diesen Vornamen auf den Stimmzettel zu schreiben, und das Votum zählt für die Liste Fratelli d’Italia, die dann Abgeordnete nach Strasbourg schickt. So umstritten diese Entscheidung auch war, die parteinahen Social-Media-Auftritte schlachteten es hemmungslos aus: Ein Account veröffentlichte mehrere Beiträge, in denen verschiedene Hassfiguren (demonstrierende Studierende, Umweltschützer*innen etc.) mit dem Kommentar gezeigt wurden: «Die schreiben bestimmt nicht ‹Giorgia›».

Diese Wahl wurde bereits als «Referendum» über die Regierungschefin Meloni bezeichnet, ist aber in mehrfacher Hinsicht eine Abstimmung über die italienische Führung. In zwei von fünf Wahlkreisen tritt nicht nur Meloni an, sondern auch die Oppositionsführerin Elly Schlein steht auf dem ersten Listenplatz ihrer gemäßigt linken Partito Democratico (PD), obwohl auch sie nicht Europaabgeordnete werden will. Wie um den Fokus auf Köpfe statt Parteien und Programme zu legen, hat Meloni im Wahlkampf wiederholt ihre Pläne für eine Verfassungsreform angesprochen, die vorsieht, Parlament und Präsidentschaft durch die Direktwahl der Premierminister*in mit einer automatischen parlamentarischen Mehrheit zu schwächen. In jedem nationalen Wahlkampf für die EU-Wahlen stehen innenpolitische Themen eine große Rolle. Doch in Italien geht es nicht nur darum. Denn die italienischen Regierungsparteien sprechen heute davon, die politischen Mehrheiten in der EU zu ändern und die alte große Koalition durch einen Zusammenschluss rechter Kräfte zu ersetzen.

David Broder ist Europa-Redakteur für Jacobin und Historiker der kommunistischen Bewegungen Frankreichs und Italiens.

Schien ein solches Szenario früher abwegig, so rückt es heute immer näher in den Bereich des Möglichen. In der Debatte der Spitzenkandidat*innen am 29. April wiederholte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diese Idee indirekt und deutete an, dass sie unter den richtigen Voraussetzungen mit Melonis Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) zusammenarbeiten würde. Dies löste bei vielen Liberalen, Grünen und Sozialdemokrat*innen, die nicht mit der extremen Rechten zusammenarbeiten wollen, alarmierte Reaktionen aus. Doch von der Leyen und ihre Kolleg*innen von der Europäischen Volkspartei (EVP) haben Meloni im letzten Jahr offen umworben, was wiederum zu Spekulationen über ein Bündnis mit den EKR oder sogar einen Beitritt der Fratelli d’Italia in die EVP führte. Im Folgenden werde ich untersuchen, wie diese Aufweichung früherer Grenzen zwischen Rechten die EU-Politik der italienischen ähnlicher machen könnte – aber auch, warum Melonis Position nicht ganz unangreifbar ist.

Zusammenschluss der Rechten

Von der Leyen wird sicherlich immer noch von vielen Rechtsextremen verachtet. Das zeigte sich im Wahlkampfauftakt der Fraktion Identität und Demokratie (ID) im März. Der EU-weite Zusammenschluss umfasst Matteo Salvinis Lega, den französischen Rassemblement National (RN) und die zu dieser Veranstaltung nicht eingeladene Alternative für Deutschland (AfD). In einer Videoansprache warf Marine Le Pen Meloni vor, die Wiederwahl von der Leyens zu planen, statt sich mit ID zusammenzutun und sie aus dem Amt zu jagen. Le Pen zufolge schlägt Meloni einen zu weichen Kurs gegenüber der derzeitigen EU-Führung und ihrem angeblich progressiven Gruppendenken in allen Bereichen ein, von der Einwanderung bis zur Umweltpolitik. Die in der ID versammelten Salvini-Verbündeten innerhalb der EU sind allesamt Oppositionsparteien: Doch seine Lega, die zweitgrößte Kraft in Melonis Regierung, fordert eine vereinte Rechte, um «in Europa wie in Italien» zu regieren. Unter dem Banner der Einheit beschuldigt die Lega ihre inländischen Koalitionspartner Fratelli d’Italia und Forza Italia, ein Abkommen auf EU-Ebene mit Le Pen «abzulehnen».

Wenn Salvini Premierministerin Meloni – eine Verbündete in der Regierung, aber seine Rivalin im Wahlkampf – angreift, vergisst man leicht, wie gut er bei der letzten EU-Wahl abgeschnitten hat. 2019 erzielte die Lega 34, die Fratelli d’Italia lagen bei nur sechs Prozent. Damals war Salvini als Innenminister ein Hardliner gegen Einwanderung, der seine norditalienische Regionalpartei in eine gesamtitalienische nationalistische Kraft verwandelt hatte, mit ihr die Rechte dominierte und (unter anderem) einen Großteil der ehemaligen Basis von Silvio Berlusconi um sich scharte. Doch nach mehreren Fehltritten – und einer Zeit, als er Mario Draghis technokratische Regierung von 2021 und 2022 mittrug – steht der Großteil der rechten Wählerschaft hinter den Fratelli d’Italia, und die Lega ist deutlich geschwächt. Seit den Parlamentswahlen im September 2022 hat sich die Unterstützung für Meloni nur geringfügig verschoben. Wahlumfragen deuten darauf hin, dass das rechte Lager (45 Prozent) gegenüber 2019 leicht zurückfallen wird, allerdings mit umgekehrten Rollen: Die Fratelli d’Italia sollen 27, die Lega und Forza Italia jeweils rund acht Prozent der Stimmen erhalten.

Wie groß ist also die Chance, dass die Lega Melonis Vorsprung aufholen kann? Im Vergleich zu den Fratelli d’Italia hat sie deutlich mehr Kandidat*innen und auch führende Köpfe aus der zweiten Riege, unter ihnen einige Technokrat*innen. Im EU-Wahlkampf will sie Meloni jedoch von rechts Konkurrenz machen und in Kulturkampffragen Hardlinerpositionen einnehmen. Dies wird teilweise dadurch erreicht, dass man sich mit verschiedenen lokalen Persönlichkeiten brüstet, die von den Fratelli d’Italia zur Lega übergelaufen sind. Beispielhaft steht dafür Roberto Vannacci, ein General, der im vergangenen August im Selbstverlag ein Buch mit dem Titel Il mondo al contrario (Verkehrte Welt) veröffentlichte. Sein Pamphlet – das die politische Korrektheit und die Verschwörungstheorie eines «Großen Austauschs» von Staatsangehörigen durch Einwander*innen anprangert, war 2023 das fünftmeistverkaufte Buch in Italien. Vannacci ist nun Spitzenkandidat der Lega in Mittel- und Süditalien und sorgt mit seiner Forderung nach Sonderklassen für Schulkinder mit Behinderung und der Behauptung, dass es eine bloße «statistische Tatsache» sei, dass Italiener*innen weiß seien, für Aufsehen.

Der Balanceakt der Fratelli d’Italia besteht darin, dieser Konkurrenz die Stirn zu bieten, Mitglieder versprengter neofaschistischer Gruppen einzubinden und gleichzeitig den Anspruch zu erheben, ein breites konservatives Lager zu repräsentieren. Der Wahlkampfslogan «Mit Giorgia verändert Italien Europa», der abermals den Vornamen der Spitzenkandidatin hervorhebt, unterstreicht deutlich ihren Einfluss in der EU. Die Behauptung, die Regierungschefin verfolge nicht nur parteipolitische Interessen, zielt auch darauf ab, die Basis von Forza Italia, der dritten Kraft in ihrer Koalition, ein Jahr nach dem Tod ihres Patriarchen Silvio Berlusconi zu schwächen. Melonis Verbündete wie Carlo Fidanza, der Fraktionsvorsitzende im EU-Parlament, wehren sich jedoch gegen Vorwürfe der Lega, die Fratelli d’Italia könnten einer großen Koalition beitreten. Fidanza betont, dass seine Partei niemals ein Bündnis mit der gemäßigten Linken eingehen würde, im Gegensatz zu denen (der Lega und Forza Italia), die Draghis Regierung in den Jahren 2021 und 2022 mittrugen. Aber Melonis Verbündete betonen auch, dass sie im Gegensatz zu Salvini in Strasbourg etwas bewirken könnten, statt nur Zwischenrufe von sich zu geben.

Diese Kombination an Positionen spiegelt sich auch im aktuellen Wahlprogramm der Fratelli d’Italia wider. Dort tauchen etliche Slogans aus der zehnjährigen Oppositionszeit wieder auf, etwa die Forderung nach einer Untersuchung der Covid-19-Pandemie und Angriffe auf die Pläne der EU und der Weltgesundheitsorganisation zur Einführung eines globalen Impfpasses. Auch wenn Meloni nachgesagt wird, sie habe seit ihrem Amtsantritt ihren harten «populistischen» Ton abgelegt, erscheint ihr Foto in diesem Text unter der Warnung vor dem «europäischen Superstaat, der an das geliebte sowjetische Modell der Linken erinnert». Es heißt auch, dass der Green Deal der EU «von der europäischen Linken geschrieben wurde», als Angriff auf die Landwirt*innen und das Wirtschaftswachstum. Obwohl die Fratelli d’Italia versprechen, dergleichen EU-Eingriffe und das Verbot neuer Autos mit Verbrennermotor ab 2035 rückgängig zu machen, rühmen sie sich ihres aktuellen Einflusses. Insbesondere Melonis Vorstöße, die europäischen Grenzkontrollen an verschiedene nordafrikanische Regime auszulagern, werden (zu Recht) als «Modell für die EU» bezeichnet.

Neben der Vision, die Geburtenraten in Europa anzukurbeln und weitere Neuankömmlinge fernzuhalten, unterbreitet Meloni im Rahmen ihres Wahlkampfs auch einige kleinere Angebote, wie etwa einen Steuerbonus von 100 Euro, von dem im nächsten Januar «1,1 Millionen arbeitende Familien» profitieren sollen. Der allgemeine Tenor ist jedoch eine «verbesserte» Version der Haushaltspläne nach Covid, die Sparmaßnahmen vermeiden und an der europäischen Finanzierung für grüne Investitionen (aber auch für die Automobilindustrie) festhalten sollen, während gleichzeitig die Umweltbürokratie beseitigt und kleinen Unternehmen, die Jobs schaffen, Steuererleichterungen gewährt werden sollen. Die Fratelli d’Italia versprechen somit den Italiener*innen mit niedrigem Einkommen Vorteile durch Steuersenkungen und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner Unternehmen – ein Programm, mit dem sie Verbündete im europäischen Mitte-Rechts-Spektrum finden könnten. Bereits im scheidenden Parlament hat sich die EVP gemeinsam mit den EKR gegen das Naturschutzgesetz der EU gestellt, und ihr Vorsitzender Manfred Weber setzt sich zunehmend für den Fortbestand von Verbrennermotoren ein.

Jobs Act

Melonis Wahlversprechen eines 100-Euro-Bonus für einkommensschwache Familien mit Kindern wurde weithin mit einer Maßnahme verglichen, die Matteo Renzi, damals frischgebackener Premierminister der PD, vor der EU-Wahl 2014 verkündet hatte. Er versprach Gering- und Normalverdienenden einen Bonus von 80 Euro – der allerdings jeden Monat ausgezahlt und bald verstetigt wurde, während Meloni nur eine einmalige Zahlung in Aussicht stellt (die sich nach Steuern ebenfalls nur auf 80 Euro beläuft). Renzis PD erzielte bei dieser Wahl 41 Prozent und befeuerte die Legende, dass diesem «italienischen Tony Blair» alles glückte, was er anpackte – bis der Versuch, die Verfassung zu ändern, zu einer Niederlage beim Referendum und seinem Rücktritt im Jahr 2016 führte. Heute steht Renzi der kleinen liberal-zentristischen Partei Italia Viva vor. Als Teil des Wahlbündnisses der Stati Uniti d’Europa (Vereinigte Staaten von Europa) liegt sie knapp über der Vier-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament, ebenso wie die rivalisierende zentristische Partei Azione, die von seinem ehemaligen Minister für wirtschaftliche Entwicklung Carlo Calenda angeführt wird.

Zu Renzis umstritteneren Reformen als Premierminister zählte der sogenannte «Jobs Act», der auch in Italien diesen englischen Namen trug. In der Sprache der Modernisierung formuliert, sollte diese Maßnahme einen «flexibleren» Arbeitsmarkt schaffen, indem sie den Unternehmen die Einstellung und Entlassung von Angestellten erleichterte. Dazu gehörte unter anderem die Abschaffung von Artikel 18 des Statuto dei lavoratori (Gesetz zum Schutz der Arbeiter*innen) von 1970, der vielen Arbeitnehmer*innen Kündigungsschutz bot. Kritiker*innen wiesen darauf hin, dass die Beschäftigungszahlen dadurch womöglich stiegen, sich Italien jedoch weiter zu einem Niedriglohnland entwickeln würde, das von steigender Ungleichheit und prekären Arbeitsverhältnissen geprägt wäre. Am diesjährigen 25. April, dem italienischen Tag der Befreiung, startete die Gewerkschaft CGIL eine Unterschriftenaktion, um ein Referendum mit vier Fragen über die Abschaffung des Jobs Act zu erreichen, das 2025, ein Jahrzehnt nach der Verabschiedung des Gesetzes, abgehalten werden soll. Auch das prägt den Europawahlkampf.

Giuseppe Conte, Premierminister von 2018 bis 2021, stellte sich mit seinem Movimento 5 Stelle (M5S, Fünf-Sterne-Bewegung) schnell hinter das CGIL-Referendum. Damit pflegt er das «progressivere» Image, das er seiner Partei in letzter Zeit verliehen hat. Bei Umfragen liegt die Bewegung bei rund 16 Prozent und versucht, die PD (mit der sie bei den Regionalwahlen manchmal gemeinsam antritt) als wichtigste Oppositionskraft einzuholen. Doch die Basis der Parteien unterscheidet sich deutlich: Anhänger*innen des M5S sind jünger, leben eher im Süden und haben weniger Vermögen. Die Unterstützung für den CGIL-Aufruf kam auch von der Alleanza Verdi e Sinistra (AVS; Allianz der Grünen und Linken), einer kleineren linken Gruppierung mit rund vier Prozent der zu erwartenden Stimmen. Die Reaktion der PD fiel gemischt aus. Schließlich hatte sie das Gesetz unter Renzi erst eingeführt; im März 2023 übernahm jedoch Elly Schlein den Vorsitz und versprach, wieder mehr Anklang bei Italiener*innen mit niedrigem Einkommen zu finden.

Schlein hatte die PD 2015 unter anderem aus Protest gegen Renzis Jobs Act verlassen und war erst im Dezember 2022 wieder eingetreten, um an den Vorwahlen teilzunehmen. Ihre Ankündigung vom 6. Mai, das CGIL-initiierte Referendum zu unterstützen, wurde weithin als Spaltung ihrer Partei dargestellt. Das zeigte aber auch, wie schwer es ihr fallen würde, die PD wirklich zu erneuern: Sie stellte ihre Unterstützung als eine persönliche Entscheidung dar und bestand darauf, dass die PD eine «pluralistische Partei ist und andere das Recht hätten, nicht zu unterschreiben». Parteipräsident Stefano Bonaccini, den sie in der Vorwahl 2023 geschlagen hatte, sagte, er «denke über einige Fragen nach», habe aber noch nicht unterschrieben, und betonte, die Partei könne nicht «einfach die Position einer Gewerkschaft übernehmen». Eine «reformistische» Strömung, die den jüngsten technokratischen Erfahrungen verschrieben bleibt, übt weiter erheblichen Einfluss aus. Die Fratelli d’Italia veröffentlichten ein «Spiderman-points-at-Spiderman»-Meme, um die widersprüchliche Identität der PD zu veranschaulichen.

Einige Liberal Hawks, also eher Vertreter*innen der politischen Mitte, die eine interventionistische Außenpolitik befürworten, sind angetan von Meloni: Die extrem zentristische Tageszeitung Il Foglio zitiert eine Umfrage, die ihrer Partei 27,6 Prozent der Stimmen zuschreibt, als «eine weitere Bestätigung, dass die Mehrheit der Italiener*innen Vertrauen in die Regierung hat». Die meisten haben jedoch kein Vertrauen. Gleichwohl war die Unterstützung recht stabil und ging deutlich langsamer zurück als bei anderen Regierungen der jüngeren Vergangenheit. Die PD liegt knapp über 20 Prozent, und selbst mit ihren sporadischen Verbündeten aus den Reihen von M5S und AVS liegt das «breite» oppositionelle Lager nur bei rund 40 Prozent, und damit einige Punkte hinter der rechten Koalition. Aber noch beunruhigender ist ein allgemeinerer Trend zur Resignation. Schlein versprach bei ihrer Wahl, Nichtwähler*innen zu mobilisieren. Doch es ist unklar, ob dieses Vorhaben glückt: Nur knapp 50 Prozent der Wahlberechtigten wollen laut Schätzungen im Juni wählen. Seit den Parlamentswahlen von 2022 ist die Wahlbeteiligung bei jeder Wahl auf regionaler Ebene niedriger als bei der vorangegangenen Wahl.

Ketten durchbrechen

Schlein hat in vielen Fragen eine viel härtere oppositionelle Haltung eingenommen als frühere PD-Größen wie Enrico Letta. Im vergangenen Februar sagte dieser der New York Times, dass er Meloni in Bezug auf Wirtschaftspolitik und EU-Diplomatie für «besser als erwartet» halte. Viele Liberale haben die Unterstützung der Premierministerin für die NATO und die Ukraine (und Israel), die sie lange vor den Wahlen 2022 erklärt hatte, als Bestätigung für die erlösende Erzählung einer Rückkehr in den Schoß der westlichen Staatengemeinschaft angeführt. Da spielt es auch keine Rolle, dass sie die Theorie vom «Großen Austausch» schon lange propagiert, dass ihre Minister*innen sie immer wieder anführen oder sie die Kernideen in einem Buch vom vergangenen September noch einmal dargelegt hat. Meloni ist schließlich Pro-Establishment und «pro-europäisch» – vor allem, wenn mit «europäisch» die Zusammenarbeit gegen die Bedrohung durch China oder die Bedrohung durch muslimische und afrikanische Migration gemeint ist.

Diese Eingliederung in den Mainstream, die auch von Spitzenbeamt*innen der Europäischen Volkspartei und der Biden-Regierung vorangetrieben wird, beruht auf der Loslösung des pragmatischen Individuums «Giorgia» von ihren extremistischen Verbündeten. Vielleicht sollten wir uns nicht allzu sehr wundern, wenn dies irgendwann auch mit Marine Le Pen passiert. Aber selbst jetzt gibt es einen unaufgelösten Widerspruch in dem Bemühen, Meloni zu einer akzeptablen Verbündeten zu erklären und andere als rechtsextrem zu ächten. Geht es nach von der Leyen oder EVP-Chef Weber, so können die Konservativen mit Leuten wie Meloni, die «pro EU, pro NATO, pro Ukraine, pro Rechtsstaat» eingestellt sind, Bündnisse schließen – aber nicht mit denen, die sich bei ID beteiligen, und schon gar nicht mit der AfD. Doch Melonis eigene EKR-Fraktion hat erst im Februar Éric Zemmours Partei Reconquête aufgenommen, und die Fratelli d’Italia sagen, sie würden auch Viktor Orbáns Fidesz nicht abweisen.

Melonis enge Beziehungen zu Orbán, die sich auch während ihrer Amtszeit fortsetzen, waren im Wahlkampf sehr präsent. Im Mittelpunkt stand Ilaria Salis, eine antifaschistische Lehrerin, die sich im vergangenen Februar am Protest gegen den Nazi-Gedenkmarsch «Tag der Ehre» in Budapest beteiligte, anschließend aber wegen versuchten Totschlags angeklagt wurde, weil sie sich angeblich einem körperlichen Angriff auf Rechtsextreme angeschlossen hatte. Bilder von ihr vor Gericht, die sie in Handschellen und Fußfesseln zeigten, lösten in Italien einen Schock aus. Meloni wurde zum Eingreifen aufgefordert. Doch die Premierministerin betonte die Unabhängigkeit der ungarischen Justiz und versuchte, den Fall zu «entpolitisieren». So reagierte sie auch vergangenen Monat als bekannt wurde, dass Salis Spitzenkandidatin für die grün-linke AVS im Nordwesten Italiens werden würde, in der Hoffnung, dass ihre Wahl sie aus dem Gefängnis befreien wird.

Am 15. Mai gab ein ungarisches Berufungsgericht bekannt, dass Salis bis zu ihrem Prozess in Budapest unter Hausarrest gestellt wird. Ihr droht weiterhin eine lange Haftstrafe, zusätzlich zu den 15 Monaten, die sie bereits hinter Gittern verbracht hat. Ihr Fall – und die Attacken des Lega-Chefs Salvini, der ihre Zukunft als Lehrerin infrage stellte – hat dazu geführt, dass sich Linke außerhalb der AVS dieser Liste zuwandten. Sie hat somit eine gute Chance, einige Abgeordnete ins Europaparlament zu schicken, darunter Salis selbst. Besonders bemerkenswert war die Entscheidung von Potere al Popolo (Macht dem Volk), einer linksradikalen Partei, die ursprünglich um das Sozialzentrum Ex OPG in Neapel herum entstanden ist und die die Grün-Linken sowie ihre Vorläufergruppierungen als Satelliten der PD darstellen. Auf ihren Wahlplakaten heißt es: «Wir werden für Ilaria Salis stimmen (auch wenn wir die Grün-Linken nicht mögen), denn ihre Freilassung ist wichtiger».

Diese Unterstützung für ein vermeintlich weniger radikales Bündnis wurde insbesondere aus den Reihen der Rifondazione Comunista (Kommunistische Neugründung) kritisiert, die sich – obwohl sie sich verstärkt an der Kampagne für die Freilassung von Salis beteiligt – stattdessen hinter das linke Wahlbündnis Pace-Terra-Dignità (Frieden-Erde-Würde) unter der Leitung von Talkshow-Moderator Michele Santoro stellt. Diese linke, pazifistische Allianz lehnt die militärische Unterstützung Italiens für die Ukraine ab, fordert einen Waffenstillstand, ohne eine genaue Vorstellung vom Kriegsende zu bieten, und verurteilt den israelischen Krieg in Gaza aufs Schärfste. In dem Bündnis versammeln sich weitere linke Kleinparteien wie etwa Mera25, doch konnte nicht die Einigkeit kleiner Gruppierungen erzielt werden, wie sie früher durch Wahlvereinigungen wie die Unione Popolare gelungen ist (damals mit Potere al Popolo, das nun teilweise an die Stelle der Unione tritt). Laut Umfragen ist es unwahrscheinlich, dass dieses Bündnis im Juni Europaabgeordnete entsenden wird.

Nach der Wahl

Der italienische Wahlkampf dreht sich mehr als die meisten anderen um das Schreckgespenst einer großen Verschiebung innerhalb der europäischen Wahlarithmetik – und eines nach rechts driftenden Bündnisses auf EU-Ebene. Obwohl Finnland und Schweden seit 2022 von gemäßigt bis extrem rechten Koalitionen regiert werden und Spanien in absehbarer Zukunft folgen könnte, scheint es bisher unwahrscheinlich, dass dies unmittelbar nach der Wahl im Juni auf EU-Ebene durchschlagen wird. Eine Annäherung zwischen den Fratelli d’Italia, (Teilen der) EKR und der EVP scheint jedoch sehr wahrscheinlich, nicht unbedingt als formell erklärter Pakt, aber zumindest in Bezug auf die Abstimmung über viele wichtige Gesetze und Nominierungen. Das gilt auch in einem allgemeineren Sinne. Selbst wenn das gesamte rechte Spektrum von deutschen Christdemokrat*innen über Meloni und Le Pen bis zur AfD etc. auf etwa 50 Prozent der Sitze kommt, werden sie sich nicht offen zusammenschließen. Sie würden jedoch eine Sperrmajorität bilden.

Der italienische Wahlkampf ist stark personalisiert und neigt wenig dazu, große Themen zu diskutieren. Auch die sich abzeichnenden größeren Fragen (Verfassungsreform und Jobs Act) dürften durch das eher stumpfe Instrument der Volksabstimmungen angegangen werden. Melonis Versprechen eines einmaligen Bonus von 100 Euro (vor Steuern) für arbeitende Familien verdeutlicht das Fehlen nachhaltiger staatlicher Antworten auf das grundlegende Problem prekärer, schlecht bezahlter Arbeit. Es sieht allerdings so aus, als könnte die Opposition auch in dieser Hinsicht viel mehr tun, sogar über die Forderung nach einem Mindestlohn hinaus. Da die EU wahrscheinlich wieder auf Sparmaßnahmen setzen wird, könnte Italien als Hauptnutznießer der Konjunkturprogramme nach der Pandemie bald in unruhigeres Fahrwasser geraten. Dann werden wir sehen, ob die gemäßigte Linke ihr Schicksal wieder in die Hände von «Pro-EU»-Technokrat*innen legen oder stattdessen zeigen wird, dass sie aus den vielen Momenten gelernt hat, in denen sie zuvor die italienische Arbeiterklasse im Stich gelassen hat.
 

Übersetzung aus dem Englischen von André Hansen und Camilla Elle für Gegensatz Translation Collective.