Analyse | Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa - Europa2024 Spaniens zerrissene Linke erwartet wenig von den Wahlen

Kurz vor den Europawahlen im Juni kommt der Wahlkampf in Spanien nur sehr träge in Gang

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María del Vigo,

Yolanda Diaz spricht während der Versammlung von Sumar in Madrid, 23. März 2024.
Yolanda Diaz spricht während der Versammlung von Sumar in Madrid, 23. März 2024. Foto: IMAGO / Alberto Gardin

Den Umfragen zufolge wird Spaniens zersplitterte Linke im besten Fall vier Abgeordnete zur europäischen Linken beisteuern, im ungünstigsten Fall bloß «einen halben». Während Sanchez‘ sozialdemokratische PSOE ein Wiedererstarken erlebt, lösen sich die Parteien zu deren Linken zunehmend auf. Die extremen Rechten von Vox schüren durch Falschmeldungen die Spannungen im politischen Gegenlager und verdoppeln laut Umfragen, gleichsam wie die Mitte-Rechte Partido Popular, ihre Stimmen.

María del Vigo ist freiberufliche Journalistin und arbeitet als freiberufliche Kommunikationsberaterin im Madrider Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Kurz vor den Europawahlen am  9. Juni, scheinen in Spanien alle Anzeichen in die gleiche Richtung zu weisen: Wir stehen vor dem Abschluss eines Zyklus, in dem sich der so genannte «Raum des (politischen) Wandels» (espacio de cambio) in vielen Gebieten auf dem Rückzug befindet oder sogar verschwindet. Erhebliche interne Verwerfungen innerhalb der Linken, Rechte und Rechtsextreme Parteien, die sich hinter Falschinformationen verschanzen, und eine Sozialdemokratie, die sich jahrelang zurückgehalten hat, haben eine Gesellschaft hervorgebracht, die durch mediale und diskursive Polarisierung und die Politikverdrossenheit einer Mehrheit der Bevölkerung gespalten ist.

Mit dem Aufkommen von Podemos und den munizipalistischen Initiativen des «Raums des Wandels» seit dem Jahr 2014 wurde das Zweiparteiensystem in seine Schranken verwiesen. Zehn Jahre später scheint sich eine Rückkehr zum Zweiparteiensystem abzuzeichnen, und zwar sowohl auf gesamtstaatlicher Ebene als auch auf regionaler Ebene in den Gebieten, in denen es Spannungen aufgrund von Unabhängigkeitsbestrebungen gibt. Dort, wo der Kampf um die Macht zwischen einer rechten und einer linken Partei ausgetragen wird, die sich beide für die Unabhängigkeit einsetzen. Diejenigen, die sich über die Entstehung einer politischen Instanz gefreut hatten, die ein plurinationales Spanien als Lösung für die territorialen Spannungen vorsieht, sind verschwunden oder politisch verwaist.

Seitdem die Meinungsverschiedenheiten zwischen Sumar und Podemos zur endgültigen Spaltung beider Kräfte führten, fanden in Spanien drei Regionalwahlen statt: in Galicien, im Baskenland und in Katalonien. Die Ergebnisse fielen unterschiedlich aus, sind jedoch keineswegs schmeichelhaft. Die bevorstehenden Europawahlen am 9. Juni bieten auch für die spanische Linke kein besonders positives Szenario. Der Wahlkampf hat zwar noch nicht begonnen und die Programme wurden noch nicht veröffentlicht, doch wenngleich wir die Inhalte und einzelnen Vorhaben noch nicht analysieren können, liefert bereits die Zusammensetzung der Listen und Koalitionen einige interessante Erkenntnisse.

Sumar hat Estrella Galán, die Generaldirektorin der Comisión Española de Ayuda al Refugiado (Spanisches Hilfswerk für Geflüchtete, CEAR), als Spitzenkandidatin vorgeschlagen. Nach ziemlich komplizierten Verhandlungen, die offenbar niemanden zufrieden gestellt haben, belegt Catalunya en Comú (Jaume Asens) den zweiten Listenplatz, Compromís (Vicent Marzà) den dritten, Izquierda Unida den vierten (Manu Pineda), Más Madrid (Andere Nieva) den fünften und Verdes Equo den siebten (Florent Marcellesi). Den letzten Umfragen zufolge wird Sumar drei bis vier Sitze erhalten. Somit steht nicht fest, ob Izquierda Unida den Einzug ins Europaparlament schaffen wird.

Das Bündnis, mit dem Yolanda Díaz bei diesen Wahlen antritt, umfasst zudem regionalistische Kräfte wie die Chunta Aragonesista und die Partido Castellano-Tierra Comunera (PCAS-TC), die zwar keine Sitze gewinnen, aber einige Stimmen beisteuern werden.

Die Vielfalt der politischen Parteien innerhalb dieses Bündnisses würde sich auch in den Fraktionen des Europäischen Parlaments (EP) widerspiegeln, denen sich die Kandidat*innen angehörig fühlen. Durch die Belegung der Listenplätze zwei und drei mit Mitgliedern von Catalunya en Comú und Compromís, stehen Parteien zur Wahl, die bisher der EP Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz (Greens/EFA) angehörten. Die Nummer vier, Manu Pineda, war in der letzten Legislaturperiode Abgeordneter für Die Linke (The Left). Sumar hat bislang noch nicht geklärt, welcher Fraktion Listenanführerin Estrella Galán, beitreten wird. 

Podemos wird von der ehemaligen Gleichstellungsministerin Irene Montero angeführt und kandidiert gemeinsam mit der Alianza Verde, einer Abspaltung der ökologischen Partei Equo unter der Führung des Umweltschützers Juantxo López de Uralde. Hinter Montero folgen auf der Liste in dieser Reihenfolge die derzeitigen stellvertretenden Landessprecher:innen der Partei, Isabel Serra und Pablo Fernández, sowie Serigne Mbayé, Sozialaktivist, Regionalabgeordneter von Unidas Podemos in der Asamblea de Madrid zwischen 2021 und 2023 und derzeitiger Antirassismusbeauftragter von Podemos. Alianza Verde belegt mit Alba Ramos Solano, die im Boletín Oficial del Estado (offizieller Staatsanzeiger) als Unabhängige aufgeführt wird, erst den siebten Platz auf der Liste.

In der Vergangenheit haben Podemos‘ Ergebnisse die Umfrageerwartungen übertroffen, und Montero ist Expertin in der Führung von Wahlkämpfen. Momentan sieht die Realität jedoch so aus, dass Podemos knapp einen Monat vor den Wahlen in den Umfragen nur einen Sitz erhält. Unabhängig von deren Wahlergebnis, werden sich die Abgeordneten von Podemos, der Fraktion The Left anschließen.

Vor diesem Hintergrund würden im günstigsten Fall – und wenn man von optimistischsten Umfragen für The Left ausgeht – vier Abgeordnete aus dem spanischen Staat der Linksfraktion im EP beitreten: Irene Montero für Podemos; Estrella Galán und Manu Pineda für Sumar, sowie Pernando Barrena von Euskal Herria Bildu (baskische nationalistische Linke; EH Bildu). Letzterer kandidiert auf Listenplatz zwei im Wahlbündnis Ahora Repúblicas, in dem die Esquerra Republicana de Catalunya (ERC), EH Bildu, der Bloque Nacionalista Galego (BNG) und die Unabhängigkeitsbefürworter:innen der Balearen von Ara Mes vertreten sind. In früheren Legislaturperioden hat dieses Bündnis, an dem die Balearen noch nicht beteiligt waren, zwei Sitze errungen. Bisher galt die Vereinbarung, dass der zweite Sitz nach der Hälfte der Legislaturperiode rotiert, sodass alle drei Parteien vertreten sind. Diesmal erhält Ahora Repúblicas den Umfragen zufolge einen Sitz mehr, also insgesamt drei Sitze, sodass ein Abgeordneter von ERC, ein Abgeordneter von EH Bildu und ein dritter von BNG hinzukämen. Wenn diese Prognosen zutreffen, wird die bisherige Rotation in der nächsten Legislaturperiode nicht mehr erforderlich sein.

Im anderen Extremfall, also im für die Europäische Linksfraktion ungünstigsten Fall, könnte es passieren, dass Podemos keinen einzigen Sitz erhält, Sumar drei Sitze, Estrella Galán sich ebenfalls der Fraktion Die Grünen/EFA anschließt und Ahora Repúblicas zwei statt drei Sitze bekommt, was bedeuten würde, dass Barrena nur für eine Hälfte der Legislaturperiode im Amt wäre und dann zurücktreten müsste, um Platz für die Nächste auf der Liste zu machen: Ana Miranda von der BNG, die seit September 2022 Europaabgeordnete der Greens/EFA ist. In diesem Fall würde Spanien bloß «einen halben» Abgeordneten zur Fraktion Die Linke beisteuern.

Die Links-Rechts-Achse und die territorialen Spannungen

Wie zu Beginn dieses Beitrags erwähnt, fanden in den letzten Monaten bereits drei Regionalwahlen in Spanien statt. Auch wenn es sich um drei Autonome Gemeinschaften handelt, deren Ergebnisse so spezifisch sind, dass sie nicht auf das übrige Spanien oder auf die Europawahlen übertragen werden können, so weisen sie doch eine Tendenz zur Rückkehr zum Zweiparteiensystem auf.

In Galicien gelang es bei einer Wahlbeteiligung von 67,3 % weder Podemos noch Sumar, in die Institutionen einzuziehen. Im baskischen Parlament wurde der «Raum des Wandels» bisher von Elkarrekin Podemos (Unidas Podemos) mit sechs Abgeordneten vertreten. Diesmal wurde Podemos bei einer Wahlbeteiligung von 62,5 % aus dem Parlament ausgeschlossen, und Sumar erhielt nur einen Abgeordneten. Die für die regionale territoriale Souveränität eintretenden linken Parteien BNG und EH Bildu erzielten dagegen einen beachtlichen Zuwachs. Der BNG legte von 19 auf 25 und EH Bildu von 21 auf 27 Sitze zu, wobei die absolute Mehrheit in beiden Fällen bei 38 Sitzen lag.

Katalonien war das letzte Gebiet mit nennenswerten Spannungen aufgrund von Unabhängigkeitsbestrebungen, in dem gewählt wurde. Das Ergebnis fiel dort jedoch aus mehreren Gründen anders aus. Podemos verzichtete auf seine Kandidatur und Sumar gewann im Bündnis mit den Comunes und bei einer Wahlbeteiligung von 57,9 % sechs Sitze und verlor zwei. Die ERC verlor 13 ihrer 33 Sitze und damit auch die Regierungsverantwortung. Nun stellt sich die Frage, ob es in Katalonien zu einer linke Regierungsbildung kommen wird, die nationalistische und nicht-nationalistische Parteien zusammenführt, oder zu einer Regierung, die die Unabhängigkeit in den Vordergrund stellt, unabhängig davon, ob ihre Mitglieder progressiv oder konservativ sind.

Über die Linke hinaus

Im Moment profitiert vor allem Ministerpräsident Pedro Sánchez von der Auflösung der Linken. Für ihn scheint alles nach Plan zu laufen.

Vor einigen Wochen veröffentlichte Sánchez in einem unvorhersehbaren Schachzug ein Schreiben an die Bevölkerung, in dem er eine fünftägige Bedenkzeit ankündigte, während der er entscheiden werde, ob er den Regierungsvorsitz abgeben werde oder nicht. Begoña Gómez, Ehefrau des Ministerpräsidenten, war zuvor von der rechtsextremen Gewerkschaft Manos Limpias (Saubere Hände) wegen Vorteilsgewährung angezeigt worden.

Ein Paradebeispiel für Lawfare. Manos Limpias und ähnliche Organisationen sind in weitaus schärferer Form gegen öffentliche Vertreter:innen aus dem «Raum des Wandels» vorgegangen, die sogar gemeinsam mit Sánchez im Ministerrat saßen. Allerdings hat der Ministerpräsident Letztere nur halbherzig verteidigt.

Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, ob Sanchez tatsächlich mit dem Gedanken gespielt hat, die Moncloa (Regierungssitz) zu verlassen, oder ob es sich dabei bloß um eine gewagte Selbstvermarktungsstrategie handelte, seine Rechnung scheint zumindest aufgegangen zu sein. Trotz einer durch Falschinfomationen aufgeheizten öffentlichen Debatte und die Infragestellung der Unabhängigkeit der Justiz, konnte die PSOE bei den letzten Regionalwahlen deutlich zugelegen. Dem Centro de Investigaciones Sociológicas (Soziologischen Forschungszentrum) zufolge ist Sánchez nach wie vor der beliebteste spanische Politiker. Als Kandidatin für die Europawahl stellt er ein echtes Schwergewicht seiner Regierung vor: die amtierende dritte stellvertretende Ministerpräsidentin und Ministerin für den ökologischen Wandel, Teresa Ribera.

Den jüngsten Umfragen zufolge liegt die PSOE bei den Wahlabsichten der Bürger*innen an zweiter Stelle, etwa sechs Sitze hinter der Partido Popular, doch die Haltung der PSOE zeigt, dass sie diese Lücke schließen will. Momentan haben die Rechte und die extreme Rechte jedoch die Hoffnung auf eine Verbesserung im Vergleich zu den Wahlen 2019. Vox würde von drei auf sechs Sitze zulegen und die PP von 12 auf 25. Wenngleich dieser Zuwachs zum Teil auf das faktische Verschwinden von Ciudadanos (bisher Bestandteil der Liberalen Fraktion im Europäischen Parlament) zurückzuführen ist, die 2017 sieben Sitze errang, ist klar, dass die rechten Parteien, wie in anderen EU-Ländern auch, einen Aufwärtstrend erleben.

Die Bedeutung der (Nicht-)Beteiligung bei Wahlen

Bei den Europawahlen 2019 lag die Wahlbeteiligung in Spanien bei 60,70 % der zur Stimmabgabe aufgerufenen Bürger*innen, während die EU-weite durchschnittliche Wahlbeteiligung bei 50,66 % lag. Deutschland lag unter den 28 Ländern beispielsweise an dritter Stelle: 61,38 % der Wahlberechtigten gaben dort ihre Stimme ab.

Die aktuelle Eurobarometer-Prognose für Spanien geht für den 9. Juni von einer Wahlbeteiligung von 64 % aus und verweist auf die multiplen internationalen Krisen als Mobilisierungsfaktor. Auf jeden Fall ist diese Zahl überraschend, wenn man bedenkt, dass 2019 Spanien die Europawahlen parallel mit den Kommunalwahlen, und in 12 der 17 spanischen Regionen auch mit den Regionalwahlen durchführen ließ, um eine stärkerer Wahlbeteiligung zu erzielen. Bei der Wahl 2014, bei der nur über die Vertretung auf europäischer Ebene abgestimmt wurde, lag die Wahlbeteiligung bei lediglich 43,81 %.

Podemos kandidierte bei diesen Wahlen zum ersten Mal und errang fünf Sitze. Die Koalition, an der Izquierda Unida beteiligt war, errang insgesamt sechs Sitze. Jeder Sitz kostete damals etwa 250.000 Stimmen. Im Jahr 2019 waren 375.000 Stimmen erforderlich, um einen Vertreter ins Europäische Parlament zu entsenden. Letztendlich wird sich auch dieses Jahr erst an der tatsächlichen Wahlbeteiligung am 9. Juni zeigen, ob die Umfragen optimistisch oder pessimistisch waren.