Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Globalisierung - Kapitalismusanalyse - Gesellschaftstheorie Für eine »Initiative solidarische Gesellschaft«

Auch die Linke macht bisher keine gute Figur in der Krise. Gefordert ist jetzt eine »radikale Realpolitik« für öffentliche Güter und Wirtschaftsdemokratie. Kommentar von Mario Candeias

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Mario Candeias,

Erschienen

Oktober 2008

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Der Staat rettet den Kapitalismus. Nach 35 Jahren neoliberaler Liberalisierung und Globalisierung, nach einer nicht endenden Umverteilung von »unten« nach »oben« findet ein Politikwechsel statt: Nationale Rettungspläne und unbegrenzter Liquidität von Zentralbanken in Billionenhöhe, um Bankensystem und Märkte vor dem Zusammenbruch zu bewahren und die Kapitalvernichtung in Grenzen zu halten. Das verselbständigte »Reichland«, global mobil, abgesondert in mit modernsten Sicherheitstechnologien ausgestatteten Villen und Geschäftstürmen, unglaubliche Reichtümer akkumulierend, einflussreich und elitär nach eigenen Gesetzen waltend, fleht nun nach staatlicher Unterstützung – ohne nur einen Funken Macht, Einfluss oder Reichtum aufzugeben zu wollen.

Zugleich häufen sich seit Jahren die Meldungen über gesellschaftliche Krisen: Die Ungleichheit in den Ländern der OECD, nicht zuletzt in der Bundesrepublik, wächst mit zunehmender Geschwindigkeit. Seit Jahren wird die steigende Armut, insbesondere von Kindern, beklagt. Der Niedriglohnsektor weitet sich aus und prekäre Beschäftigung wird zum Normalarbeitsverhältnis. Die Bildungsmisere wird selbst von Konservativen als Folge von Klassenselektion begründet. »Unten« wächst die Zahl der Marginalisierten, die auf eine Integration in den Arbeitsmarkt – zu vernünftigen Bedingungen – oder auf eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht mehr zu hoffen wagen. Hartz IV ist zu einem Synonym für Armut und Gängelung geworden.

Studien belegen: wer in Deutschland arm wird, bleibt arm – die Aufwärtsmobilität, wie es im Soziologendeutsch heißt, ist hierzulande ausgeprägt gering, während die so genannten Mittelschichten ausdünnen. Besonders krass marginalisiert werden jene Jugendlichen aus armen Familien mit Migrationshintergrund, die schon im Bildungssystem mit häufigen Versagenserfahrungen und Diskriminierungen konfrontiert sind, die zu einer Verfestigung von Armutskarrieren führen. Die Polarisierung und Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

International muss die UNO konstatieren, dass die Milleniumsziele zur Bekämpfung von Hunger, Armut, Krankheit, Bildungsarmut usw. bis 2015 nicht mehr erreicht werden können. In Folge von Spekulationsblasen auf den Getreidemärkten und der Ausweitung des Anbaus von Biokraftstoffen statt Nahrungsmitteln kommt es vielmehr zu Hungerkrisen und -aufständen. Ebenso werden die gesetzten Klimaschutzvereinbarungen verfehlt,  auch die selbst erklärte ökologische Vorreiterin, die deutsche Kanzlerin, muss eingestehen, die eigenen Zielsetzungen kaum noch erreichen zu können. Die Aufzählung könnte fortgeführt werden. Während der Kapitalismus gerettet wird, werden die Grundlagen gesellschaftlicher Reproduktion zersetzt.

 

Benommene Linke

Doch es gibt keinen Aufschrei. Wie benommen, im besten Fall amüsiert über die Rechtfertigungsschwierigkeiten der Bankmanager, Zentralbanker und Finanzbürokraten, schaut die Bevölkerung zu, murrt über die Rettungspakete, aber zeigt sich einsichtig in ihre – tatsächlich unabweisbare – Notwendigkeit. Auch die internationale Linke wurde auf dem falschen Fuß erwischt, auch Die Linke. Hektisch rufen wir: »Haben wir doch schon immer gesagt«. Wir kritisieren das Krisenmanagement und weisen auf unsere alten Forderungen nach Re-Regulierung hin. Noch vor kurzem diskutierte Die Linke heftig, ob ein 20-Milliarden-Investitionsprogramm sinnvoll ist oder doch die Haushaltsdisziplin wichtiger. Nun sind die Neoliberalen, die heute keine mehr sein wollen, vorbeigeprescht, haben quasi links überholt. Rhetorisch wie praktisch kann die Linke gar nicht so schnell etwas entgegensetzen, wie von den Regierenden altes über den Haufen geworfen wird: restriktive Geld- und Hochzinspolitik – passé, Stabilitätspakt und Maastrichtkriterien – nicht so wichtig, Verstaatlichung von Risiken und Banken – warum nicht?, Bürgschaften höher als die Staatshaushalte – machen wir, Konjunkturprogramme – wie viel darf's sein?, ein neues Bretton-Woods – mindestens, europäische Wirtschaftsregierung – wird Zeit, Verstaatlichung von Schlüsselindustrien – war das nicht irgendwie sozialistisch?

Dieser Staatsinterventionismus funktioniert zwar nicht mehr im Sinne neoliberaler Dynamisierung der Märkte, aber doch in guter alter Manier eines »ideellen Gesamtkapitalisten« oder liberalen Keynesianismus, der Marktversagen kompensiert und die Umverteilung und Aneignung von Mehrwert für die Vermögenden weiter befördert, zugleich aber in die Investitions- und Akkumulationsstrategien des Kapitals direkt eingreift, insbesondere über die Kapitalbeteiligungen an Banken. „We are all Keynesians again“, schreibt der Economist (07.08.08). Der Staat ist wieder chic.

Schuld sind übrigens die bösen Spekulanten, arrogante Banker oder einfach »die Gier«. So lenken Staat und Regierungen von ihrer eigenen Verantwortung für die letzten Jahrzehnte neoliberaler Liberalisierung ab. Schließlich war die Politik alles andere als untätig, hat etwa Hedgefonds zugelassen oder die Rentenversicherung für die Kapitalmärkte geöffnet.  Doch auf diese Weise profilieren sich nun insbesondere die sozialdemokratischen Neoliberalen von gestern als die größten Kapitalismuskritiker: Münte hat schon immer die »Heuschrecken« angeprangert – auch wenn die längst nicht mehr fliegen, und Gordon Brown stilisiert sich als regulierender Retter der Weltfinanz gegen die City of London – obwohl er selbst zehn Jahre lang schärfere Kontrollen verhinderte. Nun entdecken sie ihre linke Seite, Keynes wird entstaubt und sogar der alte Marx soll doch – ein bisschen – Recht gehabt haben mit seiner Kritik: ein entfesselter Kapitalismus zerstört sich selbst, glaubt Steinbrück. Oh, das wollen wir doch nicht.

Norbert Walter, Chefvolkswirt der deutschen Bank, ist schon genervt von den vielen Keynes- und Marx-Zitaten und verweist seinerseits auf Adam Smith und seine »Theory of Moral Sentiments« – also doch eine Frage der Moral, des Versagens einzelner – die Märkte aber, die sind intakt, sie funktionieren, wenn man ihnen ein vernünftiges Korsett verpasst, meint die FDP schon immer gemeint zu haben. Sie wissen schon warum. Erinnern wir Steinbrück an den Sinn der marxschen Kritik – die Überwindung der »alten Scheiße« (MEW 3: 34-35) wie der kapitalistischen Produktionsweise überhaupt.

 

Radikale Realpolitik

Die Finanzkrise ist nicht nur eine Vertrauenskrise im Bankensektor: das Vertrauen der Bevölkerung in Märkte und Regierungen ist zumindest deutlich angekratzt, der Neoliberalismus diskreditiert. Dies eröffnet diskursiven Raum für linke Alternativen im Sinne radikaler Realpolitik, die bisher kaum genutzt werden konnten. Es bedarf einer Initiative für eine solidarische Gesellschaft, die über bisherige Vorschläge der Linken hinaus geht: es müssen ja nicht gleich 500 Milliarden sein, wie beim Rettungsplan der Regierung. Aber es müsste doch um die Frage gehen, wer in dieser Gesellschaft eigentlich über die gesellschaftlich notwendigen Investitionen entscheidet. Debatten über 30 Euro mehr bei Hartz IV oder 10 Euro mehr Kindergeld sind lächerlich angesichts der Mittel gegen die Finanzkrise. Warum überlassen wir den Finanzmärkten die – vermeintlich effiziente – Allokation der Ressourcen? Die Überakkumulation von Kapital produziert nur Wellen spekulativer Blasen, gefolgt von Kapital- und Arbeitsplatzvernichtung, während immer größere Bereiche gesellschaftlicher Reproduktion liegen bleiben oder kaputt gespart werden, z.B. Erziehung und Ausbildung, Umwelt, Hungerbekämpfung, Infrastrukturen und öffentliche Dienstleistungen. Mittlerweile beklagt sogar der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die Gefährdung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit durch mangelnde Investitionen in Kraftwerke, Strom- oder Straßennetze und fordert mehr staatliche Investitionen in die Infrastruktur. Es bedarf der Sozialisierung der Investition, der Verstaatlichung und demokratischen Kontrolle von Banken und Finanzinstitutionen.

Benötigt wird ein Rettungspaket, ein zukunftsorientiertes Investitionsprogramm für einen partizipativen Um- und Ausbau des Öffentlichen, von öffentlichen Unternehmen und öffentlicher Beschäftigung hin zu einer sozial-ökologischen Care-Economy; ein Rettungspaket für erneuerte solidarische Sozialversicherung für alle statt privater Eigenvorsorge; ein Rettungspaket für eine  Demokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft, für eine echte Partizipation von Bevölkerung und Beschäftigen an Entscheidungen in Politik und Betrieben; ein Rettungspaket gegen globale und gesellschaftliche Ungleichheiten für eine solidarische Weltwirtschaftsordnung und ein soziales Europa. Mindestens!