Peter Birke, Arbeitssoziologe und Gewerkschafter, zum Schwanken der Arbeiterbewegung zwischen Internationalismus und nationaler Abschottung, zum Verhältnis von betrieblichen Kämpfen und Migration und zur Frage, warum die sozialen Bewegungen keinen Abschied vom Proletariat nehmen sollten.
Unter dem Titel «Die Erweiterung des Terrains. Migrationspolitik als Transformationsprojekt. Eine Baustellenbesichtigung» befragt unser Autor Günter Piening zehn ausgewiesene Expert*innen im Bereich der Migrations- und Rassismusforschung zu Perspektiven (post-)migrantischer Interventionen. Die einzelnen Gespräche thematisieren das europäische Grenzregime, globale Bürgerrechte, die Rolle des Wohlfahrtstaates in den Klassenauseinandersetzungen, die Solidarität in betrieblichen Kämpfen, die Geschlechterfrage in postkolonialen Verhältnissen, die Kämpfe der Geflüchteten um Teilhabe und die Stärke (post-)migrantischer Lebenswelten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Migration als ein Vermögen begreifen, die soziale Frage in einem demokratisierenden Sinn zu beantworten. Unser Dossier «Migration» setzt damit der gesellschaftlichen Polarisierung, die gegenwärtig vor allem um die Frage von Einwanderung, Teilhabe und Bürgerrechte kreist, eine linke Position jenseits national-sozialer Kurzschlüsse entgegen.
Bis Ende Juni 2017 veröffentlichen wir jeden Montag eines der insgesamt zehn Expertengespräche.
Günter Piening: Die Arbeiterbewegung und die Migrant*innen - das ist ein schwieriges Verhältnis. Auch viele linke Initiativen haben darum «Abschied vom Proletariat» genommen und suchen strategisch eher Ansatzpunkte in der «Autonomie der Migration», dem Eigensinn migrantischer Kämpfe. Schlimm?
Peter Birke: Ich sehe das gar nicht als Gegensatz. Migrantische Kämpfe waren und sind auch immer Klassenkämpfe, es ging und geht immer erstens um die «große» soziale Frage und zweitens um die Durchsetzung von sozialen Rechten einer oder mehrerer Gruppen, deren Position innerhalb der Arbeitswelt prekär ist. Daran ändert sich auch angesichts der Tatsache ja nichts, dass Opponenten migrantischer Kämpfe identitär oder rassistisch argumentieren, und dass es sich bei diesen Opponenten auch um Kollegen handeln kann.
Und ich denke auch, ganz im Gegenteil, dass der Begriff der «Autonomie der Migration» in den vergangenen Jahren an Bedeutung (und auch an neuen Bedeutungen) gewonnen hat. Geprägt wurde er ja in einer Situation, als es um eine Wiederentdeckung der Rebellion von Gastarbeitern der 1960er und frühen 1970er Jahren ging, also wesentlich um die Arbeit von migrantischen sozialen Zentren, den Wohnkämpfen wie im Frankfurter Westend, vor allem aber sicherlich den Arbeitskämpfen wie bei Pierburg in Neuss oder Ford in Köln 19731. Vor allem bei Gruppen wie Kanak Attak war die historisierende Aneignung dieser Kämpfe zugleich Schaffung von Bezugspunkten für die eigene aktuelle Praxis.
Ich habe das damals skeptisch gesehen, aber nicht, weil der Zugang über die «Autonomie der Migration» als solcher falsch ist, sondern weil mir ein Bezug auf aktuelle Konflikte oft gefehlt hat. Ein Beispiel waren die komplizierten Konstellationen wie auf den Baustellen – als Anfang der 2000er Jahre aus der IG BAU teils mit rassistischen Motiven gegen illegalisierte Arbeiter agiert wurde, sind wir mit einer historisierend-symbolischen Politik alleine nicht viel weiter gekommen. Man muss ja sehen, dass der Kern solcher Konflikte der Versuch war, «legale» gegen «illegale» Arbeiter zu mobilisieren und dass bei Protesten gegen «Illegalisierte» unter anderem auch Menschen aus früheren Generationen von migrantischen Beschäftigten beteiligt waren. Natürlich haben Initiativen wie der Polnische Sozialrat in Berlin, Gruppen wie der Blaue Montag aus Hamburg oder aus dem Express-Umfeld sich mit den «Illegalisierten» solidarisiert. Die Frage, wie sich in der betrieblichen Hierarchie auf unterschiedlichen Stufen befindliche Menschen aber auch über solche Erklärungen hinaus im Alltag solidarisieren können, haben wir damals nicht beantwortet.
Migration und Arbeitsmarktpolitik
Und diese Frage ist in letzter Zeit eher wichtiger geworden, finde ich. Im Laufe der 2000er Jahren ist diese Frage aber, in den linken politischen Gruppen, aber auch in der akademisierten Migrationsforschung, kaum bearbeitet worden. 2015 und 2016 haben dann erneut illustriert, wie Migration, Arbeitsverhältnisse und Sozialpolitik verbunden sind. 2016 starteten die Versuche des Staates, die neue Migration zu reglementieren und verwertbar zu machen. Dabei spielen Arbeitsmarkt und Sozialpolitik eine zentrale Rolle. Entscheidungen zu Aufenthaltsrechten der Geflüchteten, zur Einschränkung der Vorrangprüfung u.a. sollen diese Migration arbeitsmarkt- und sozialpolitisch regulieren. Die Verwertung der Arbeitskraft bleibt zentral, wenn man sich mit migrantischen Kämpfen beschäftigt. Die Herausforderung besteht aktuell darin, die Frage nach betrieblichen Kämpfen wieder in diesen Kontext vom Eigensinn von Migration und der Migrationsforschung zurückzuholen.
Müsste die Aufforderung nicht eher in die andere Richtung gehen und der Eigensinn der Migration in den Konzepten der Arbeiterbewegung ernst genommen werden? Migration wird dort vorwiegend als Bedrohung, als Kapitalstrategie zur Schwächung der nationalen Arbeiterklasse interpretiert. Es liegen doch unüberbrückbare Interessenkonflikte zwischen den Forderungen nach einem «Recht auf Freizügigkeit» auf der einen und einer Arbeiterbewegung, die eine Stärkung des Schutzes vor Konkurrenz und Abschottung des nationalen Wohlfahrtsstaates fordert.
Ich würde das nicht so scharf zeichnen. Ich sehe diese Abschottungstendenz, bin mir aber nicht sicher, wie fest sie ist. Man darf sich das nicht so vorstellen, dass es eine relativ homogene «deutsche» Arbeiterklasse gibt und abgegrenzt dazu eine migrantische Unterschichtung. In den betrieblichen Konflikten ist es eher eine vielschichtige Landschaft. Die Frage, wie das Verhältnis zwischen einer in der nationalstaatlichen Logik Arbeiterbewegung und einer de facto multinationalen Arbeiterklasse organisiert ist, scheint mir vielmehr Tag für Tag neu ausgehandelt zu werden. Es entsteht eine Situation, die offen ist für rassistische Abwehr von Migration insgesamt oder bestimmter Formen der Migration, die aber meines Erachtens genau so offen ist für eine Solidarisierung auf der Grundlage verallgemeinerter Klasseninteressen.
Konflikt und Solidarität am Beispiel der Fleischindustrie
Ich möchte das am Beispiel der Fleischindustrie im Oldenburger Münsterland illustrieren, die wir derzeit untersuchen. Fleischunternehmen aus Dänemark und Holland, wo die entsprechenden Tätigkeiten hochlohnig sind, haben ihre Produktion dorthin verlagert. In der unmittelbaren Produktion wird dort fast ausschließlich mit migrantischen Kräften gearbeitet. Die Arbeiterschaft ist extrem segmentiert in unterschiedliche Stufen: feste Beschäftigung, Leiharbeit, Werkvertragsarbeit, und dann schließlich Werkverträge, die mit entsandten Beschäftigten zu Niedriglöhnen ausgeführt wird usw. Eine jede Gruppe kann scheinbar schnell ersetzt werden, wenn irgendwo Unruhe entsteht. Protestieren die Werkvertragsarbeiter eines rumänischen Sub-Subunternehmen, sind sie schnell draußen und werden durch eine andere Konstruktion ersetzt. Dass Geflüchtete in dieser Auslagerungskette auftauchen, ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
Es entstehen de facto nicht nur multinationale Belegschaften, sondern auch permanente Kämpfe um die sozialen und rechtlichen Positionen der Arbeitenden. Die Kapitalseite arbeitet mit diesen Positionen, um die Arbeitskraft mobil, flexibel und möglichst billig auszubeuten. Es kann aber zurecht vermutet werden, dass in der boomenden Exportindustrie auch eine Abhängigkeit von verlässlichen, eingearbeiteten Arbeitskräften entsteht. Im betrieblichen Alltag ist es keinesfalls so, dass, selbst bei Massenarbeit wie in der Zerlegung, Arbeitskräfte einfach ubiquitär ausgetauscht werden können. Die Arbeitenden haben also auch eine Machtposition, die es zu entdecken und zu verteidigen gilt. Das zeigt sich ja an Protesten gegen Lohnbetrug, miese Wohnverhältnisse, schlechte Arbeitszeiten. Zwar gibt es kein Wundermittel, das uns zeigt, wie diese Proteste organisiert und verallgemeinert werden können. Aber wir sollten unser Interesse auf diese Frage lenken. Dazu gehört auch die Frage, welche Rolle Arbeitsrechte und Aufenthaltsrechte aktuell in Arbeitskämpfen spielen können.
Ich würde nie behaupten, dass betriebliche Arbeitsverhältnisse als solche Kollektive hervorbringen. Das wäre völlig falsch. Aber aber es gibt Konflikte, in denen etwas Gemeinsames entstehen kann. Der Klassenkampf, der da stattfindet, ist also ein Klassenkampf – nicht zwei, nicht drei. Wenn nun Geflüchtete beschäftigt werden, kommt zu dieser Landschaft prekarisierter Beschäftigungsverhältnisse eine weitere Dimension hinzu: Extrem unterschiedliche Aufenthaltstitel – zwischen Bleiberecht und Abschiebungsandrohung –, die unterschiedliche Arbeitsrechte generieren. Wir können zumindest vermuten, dass da neue Konkurrenzen und neue Kämpfe entstehen. Es lässt sich kaum vorhersagen wie das passiert, aber wir sollten uns als linke Akademiker/innen dafür interessieren.
Wie verallgemeinerbar sind solche offenbar sehr auf lokale Netzwerke angewiesenen Ansätze von Solidarität?
Diese Reorganisierung der Arbeit durch Auslagerungsprozesse findet überall statt, auch in der Automobil- und Chemieindustrie, auch in der Altenpflege. Politisch bedeutet das, dass wir nicht mit zwei Klassen konfrontiert sind, dem «deutschen» und dem «migrantischen» Arbeiter, sondern mit Klassen im wirklichen Plural. Alle Strategien, die das Ziel haben, keine Minoritätspolitik zu machen, müssen mit der Herausforderung umgehen, dieser Tendenz zur allseitigen Fragmentierung mit einem gemeinsamen Konzept zu begegnen. Linke Betriebspolitik muss es also auch sein, sich mit korporatistischen Strategien, die in Krisenzeiten Kernbelegschaften mit Kurzarbeit erhalten und die prekär Beschäftigten feuern, auseinanderzusetzen. Solidarische Strategien müssen Probleme von fragmentierter, teilweise entrechteter Beschäftigung angehen, indem sie die Vorstellung stärken, dass es nur eine Belegschaft, nur einen Arbeitskonflikt gibt.
Arbeitskämpfe und soziale Kämpfe
Heute ist es fragwürdig geworden, von Arbeitskonflikten nur im engen, «betrieblichen» Sinne zu sprechen. Meines Erachtens ist eine der wirklich bedeutenden Erkenntnisse aus der Forschung über die historische «Autonomie der Migration» jene, dass die sozialen Konflikte, die dort thematisiert wurden, quer zu dieser Einhegung in betriebliche Verhältnisse liegen. Bei Ford ging es um «eine Mark mehr», das stimmt, aber zugleich zeigt jede einigermaßen ernsthafte Analyse, dass der große Streik von August 1973 die ganzen Lebensverhältnisse thematisiert hat – auch die Wohnsituation, auch die gesundheitlichen Probleme, die die Arbeit verursachte, auch die Frage, wie man mit wenigen Wochen Urlaub und Wechselschicht den Kontakt zu Familien und Freunden aufrecht erhalten kann. Im Grunde greifen Arbeitskämpfe immer über Arbeitskämpfe heraus. In Großstädten kann man doch heute selbst in Auseinandersetzungen um Lohnverhältnisse nichts mehr gewinnen, wenn man nicht berücksichtigt, dass die Mieten so immens gestiegen sind, dass man nicht einmal zur Armutsbevölkerung gehören muss, um seine oder ihre Wohnung nicht mehr bezahlen zu können.
Aber soweit, dass auch die Forderung nach «Bürger*innenrechten für Alle» Teil der gewerkschaftlichen Politik wird, reicht die Offenheit wohl nicht...
Da wäre ich mir nicht so sicher. Die Forderung nach allgemeinen Bürgerrechten, nach der Abschaffung der Verknüpfung von Aufenthalt und Arbeits- und Lebensmöglichkeiten, so abstrakt wie sie zunächst klingen mag, ist ja durchaus Teil von gewerkschaftlichen Initiativen. Ich glaube, dass da aktuell eine wichtige Auseinandersetzung stattfindet, nicht zuletzt auch innerhalb der Gewerkschaften. Insgesamt haben wir ja aus den Gewerkschaften kaum Töne gehört, die eine Abwehr der neuen Migration fordern. In dieser Hinsicht waren die DGB-Gewerkschaften in den 1960ern viel reaktionärer als heute. Eher ist es so, dass die Forderungen wie etwa der Migrationsausschüsse bei ver.di und IG Metall nach «gleichen Rechten, gleichen Löhnen, am gleichen Ort» abstrakt bleibt, wenn sie nicht mit betrieblichen Kämpfen verknüpft werden können. Aber man muss da auch Gewerkschafter/innen eine gewisse Ratlosigkeit zugestehen, die hat die Linke ja insgesamt gegenüber der neuen Migration gezeigt. Diese Ratlosigkeit ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass es noch kaum allgemein wahrgenommene Beispiele für die Organisierung von Randbelegschaften gibt – den Teilen der Belegschaft also, die ja in einigen Branchen schon die Mehrheit ausmachen. In diesem Kontext macht die Forderung nach sozialen Rechten für alle schon Sinn, weil die staatliche Politik durch Aufenthaltstitel Entrechtungen aufbaut, die für die betriebliche Praxis relevant werden.
Rassismus in den Betrieben
Wie viel Rassismus spielt bei den Belegschaften in die Interpretation der Verhältnisse hinein? Ich erinnere mich an eine Untersuchung aus 2003, dass 19% der Gewerkschaftsmitglieder eine rechtsextreme Einstellung haben.
Es stimmt, viele Gewerkschaftskollegen sind zurecht erschreckt über die Haltung vieler Beschäftigter zur aktuellen Migration. Man sollte das auch nicht verharmlosen. Heute greift man zwar auch auf Bundesebene mit durchaus fortschrittlichen Positionen etwas in die Diskussion zur aktuellen Migration ein. Aber es gibt eben auch die betriebliche Ebene, wo es schwierig ist, diese moralisch richtige Position zu verankern. Wie aber kann man antirassistische Politik im Betriebskontext entwickeln, welche sozialen Voraussetzungen gibt es? Das ist eine zugegeben sehr schwierige Frage. Ich bin aber überzeugt davon, dass der zweifellos vorhandene Rechtsextremismus in Teilen der Arbeiterschaft nur zurückgedrängt werden kann, wenn man ihn nicht alleine als Ausdruck mangelnder politischer Aufklärung begreift.
Wie wichtig wäre bei dieser Verankerung ein neuer Blick auf Migration durch die organisierte Arbeiterbewegung? Weg vom Bedrohungsszenario der Gastarbeiterära. Die Fakten sind doch eindeutig: Die Qualifikation der Einwanderer*innen liegt über der der Autochthonen. Heterogenität selbst ist ein Stück Lebensqualität in modernen Gesellschaften? Täte ein Stück mehr Migrationsforschung der Arbeiterbewegung und der ihr nahe stehenden Forschung nicht gut?
Die gewerkschaftsnahe Arbeitsforschung muss sich meines Erachtens in der Tat vorhalten lassen, dass sie fast immer ihren Bezugspunkt in den autochthonen Arbeitern hatte. In vielen, auch arbeitssoziologischen, Forschungen, ist Migration unsichtbar geblieben. In vielen Betriebsfallstudien der 80er, 90er tauchten Migrant/innen nicht auf. Aber inzwischen betonen wir in unserer Forschung doch stärker nicht alleine die Bedeutung migrantischer Subjektivität und den Eigensinn migrantischen Lebens in der Bundesrepublik, sondern wir sehen auch Migration und transnationale Vergesellschaftung als wesentlichen systematischen Faktor in betrieblichen Konflikten. Ähnliches gilt, nur andersherum, in der Migrationsforschung: Dort werden Subjektivitäten von Geflüchteten manchmal sehr stark gespielt – diese Erläuterung dieser Subjektivitäten dient dann letztlich nur dazu, zu zeigen, wie nützlich diese Menschen sind...
Aber ich rede doch nicht von Nützlichkeit – ich rede davon, dass eine auch durch Einwanderung pluralisierte Gesellschaft jenseits des Ökonomischen eine Qualität hat, die auch mit kommuniziert werden muss. Wer will denn zurück in diese muffige Welt der Sechziger, die die AfD in ihrem Programm beschreibt? Oder umgekehrt: Was habe ich mit einem Arbeiter zu tun, der dahin zurück will?
Das meine ich auch nicht, auch wenn ich mir nicht so sicher bin, ob man sich wirklich auf diesen Gegensatz einlassen sollte – die Welt der sechziger Jahre ist ja nun auch eine Welt der Rebellion, darauf sollten wir bestehen. Aber ich meine nicht, dass die Frage nach der Nützlichkeit an sich verwerflich ist.
Nützlichkeitsdiskurse
Man muss sie vielmehr zuspitzen. Wie ist es gemeint, wenn wir die Qualität von Einwanderung betonen, den demokratischen Gewinn, das Positive an Heterogenität? Was erwartet man, was heißt das für den Alltag. Wenn wir den syrischen Arzt toll finden, weil er gut ausgebildet ist und eine Sprache spricht, die derzeit nachgefragt ist, dann sollten wir das verknüpfen mit der Frage nach der Auseinandersetzung um Qualität der Arbeit in einem Gesundheitswesen, das von Privatisierung und permanenter Verschlechterung von Arbeitsbedingungen geprägt ist. Dass «Integration» gelingt, ist auch in diesem Fall nicht alleine eine Frage der «Human Resources», sondern auch eine Frage danach, wie das Gesundheitswesen grundsätzlich so funktionieren kann, dass die dort arbeitenden Menschen so arbeiten können, dass sie die Verantwortung für die von ihnen betreuten Menschen übernehmen können. In der Migrationsforschung wird diese Verknüpfung selten gemacht. Aber das zeigt nur, wie wichtig es ist, Arbeits- und Migrationsforschung zu verzahnen, um diese Verknüpfung mit Konzepten zu untersetzen.
Zurück zur Situation in den Betrieben. Dominieren dort rechtspopulistische Antworten auf die Migration oder eher an Solidarität ausgerichtete Reaktionen?
Beides. Na ja, beides kann ja nicht «dominieren», aber vielleicht ist die Frage auch falsch gestellt. Solche Haltungen sind von einer großen Ambivalenz geprägt.
Es gibt nicht die eine Stimmung in den Belegschaften. Eribon2 spricht sicher mit einem gewissen Recht davon, dass es in einem Betrieb zwei Zeiten gibt: eine Zeit, in der sich verschiedene Gruppen gegenseitig ausschließen, bekämpfen; und eine Zeit, in der sie sich solidarisieren. Für beides gibt es interessenbezogene Fundamente. Diese Ambivalenz finden wir auch in empirischen soziologischen Forschungen. Einerseits werden Einwanderer*innen als Bedrohung, als Lohndrücker gesehen; andererseits gibt es die Forderung nach «gleichen Rechten» in der Arbeit.
Wichtig wäre es, exemplarische Lernprozesse zu organisieren, die diese Widersprüche aufgreifen, ohne sie zu verstärken. Warum, so wäre zu fragen, bleibt eigentlich die Forderung nach sozialen Rechten für Alle, dieser alter Grundsatz der Arbeiterbewegung, so abstrakt und wird nur konkret, wenn es ums staatliche Kollektiv geht? Oder: Warum schaffen wir es, erfolgreich für den Mindestlohn zu agitieren, aber selbst linke Gewerkschafter wissen in einem Automobilbetrieb nicht, wie viel Leiharbeiter es dort gibt?
Vielleicht liegt es daran, dass der Kernbelegschafter davon ausgeht, dass er die Besserstellung verdient hat und der andere nicht. Das hat in Deutschland doch eine lange Tradition, die sich bis heute fortsetzt. Ähnliche Haltungen gibt es bei der Frage, wer in den Genuss des Wohlfahrtsstaates kommen soll und wer nicht. Das sind doch tief verwurzelte Leitbilder in der deutschen Arbeiterbewegung, die auf nationale Ausgrenzung und nicht auf internationale Solidarität mit den Habenichtsen verweisen.
Migration und Wohlfahrtsstaat
So einfach ist es nicht, denn die Haltung der Arbeiterbewegung zum nationalen Wohlfahrtsstaat war und ist janusköpfig. Ja, es gibt einerseits die Vorstellung, dass der Wohlfahrtsstaat die Rechte auf Ressourcen nach Staatsbürgerschaften organisiert. Darauf bezieht sich der Rechtspopulismus, der gern protzt, er setze die sozialdemokratische Tradition fort und verteidige die nationalen Ressourcen gegen den Zugriff des Fremden. Es ist sicher richtig, dass der Rechtspopulismus daraus auch eine gewisse Stärke bezieht, siehe etwa die tiefe Verankerung dieser Position in universalistischen Wohlfahrtsstaaten wie in Norwegen oder Dänemark – der Siegeszug der Rechten hat dort ja schon in den 1990er Jahren angefangen. Aber ich bin mir sicher, dass man diese «universalistische» Position auch anders deuten kann. Das zeigt ja schon Marx' Kritik am Gothaer Programm der Sozialdemokratie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Marx lehnt dort die Vorstellung, dass «Arbeit alle Werte» schaffe, mit mehr als deutlichen Worten ab. Im Prinzip plädiert er für eine kühle Analyse der Ausbeutung von Lohnarbeit und setzt sich zugleich für eine Position ein, die Universalismus nicht als merkwürdig verformtes Privileg männlicher Haushaltsvorstände begreift. Diesen Text müssten wir heute neu diskutieren. Die Diskussion um Bürgerrechte für Alle und Citizenship kann hier ansetzen, denn Universalismus sagt ja nichts anderes als das: Soziale Rechte gründen sich in der gemeinsamen Existenz in einem Gemeinwesen und müssen darum für Alle gelten. Viele Konflikte in der Geschichte der Arbeiterbewegung können im Spannungsverhältnis dieser beiden Pole gelesen werden. Es wäre wichtig, diesen Konflikt immanent anzusprechen und Positionen, die Wohlfahrt als universales Prinzip, das ein Recht für alle Anwesenden begründet, versteht, zu stärken. Wer diese Diskussion erfolgreich führen will, müsste und könnte an diese universalistischen Wurzeln der Arbeiterbewegung anknüpfen.
Aber wer ist ansprechbar für eine solche universalistische Perspektive? Verweist dies nicht auf die Organisierung eines links-demokratischen Projektes jenseits der Arbeiterklasse, wenn es um Freizügigkeit und Citizenship geht?
Das entspräche einer gewissen Tendenz innerhalb der Linken, auf Dissidenz zu setzen, auf eine antinationalistische antirassistische Minoritätspolitik. Das ist inhaltlich sympathisch, gibt aber eine wichtige Position auf.
Krisen und ihre Chancen
Und wie oft haben wir uns eigentlich in den letzten Jahrzehnten schon «vom Proletariat» verabschiedet? Hello goodbye – das wird doch langsam öde – es wiederholt sich. Sollten wir nicht lieber offen nach den Möglichkeiten fragen, die wir trotz der Rechtsentwicklung behalten? Denn das, was von oben «Flüchtlingskrise» genannt wird, ist doch nur eine Krise im Rahmen der multiplen Krise. Sie kann nur begriffen werden im Kontext der gesamten Krisenpolitik seit 2010. Mit ihren weltweiten Folgen, hier nur das Stichwort Syrien, mit den Entwicklungen in den Ländern des Nordens. Diese Krisen sind auch für die politische Linke eine Chance, einige Grundfesten der eigenen Politik neu zu überdenken. Wir sollten doch nicht so tun, als hätten wir in Bezug auf Arbeitspolitik alles versucht und seien jetzt zu der Einsicht gekommen, dass es das nicht bringt. Im Gegenteil, wir sollten nicht damit aufhören, sondern mal ernsthaft darüber nachdenken, wo wir anfangen könnten. Es wäre schlecht, wenn wir bestimmte Teile, die früher mal als treibende Subjekte der Geschichte mystifiziert wurden, nun völlig aus dem Gesichtsfeld verbannen.
Eribon2 hat vielleicht recht, wenn er sagt, dass die französischen Arbeiter, die heute Front National wählen, in einigen Jahren vielleicht linksradikal denken. Auch unsere Forschung zeigt, knackig formuliert: Die Arbeiter sind total unzuverlässig. Die machen an einem Tag das eine, am nächsten Tag das andere. Das heißt nicht, dass es willkürlich ist, sondern zeigt nur, dass in den Kämpfen die widersprüchlichen Orientierungen mitschwingen. Man weiß eben nicht, an welchem Pol sie sich orientieren werden. Es gibt Tendenzen, aber keinen Automatismus. Politik auf der Grundlage von sozialen Konflikten ist heute unglaublich prekär und flüssig. Dieser Ambivalenzen muss man gewahr werden. Manchmal stellen wir erst auf den zweiten Blick fest, wo wir uns in der Bandbreite zwischen rassistischer Ausgrenzung und Einforderung von universalen sozialen Rechte befinden und wo Anknüpfungspunkte für solidarisches Handeln entstanden sind.
Peter Birke ist Historiker und Politologe und arbeitet am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI). Seine Forschungsschwerpunkte sind historische Arbeitssoziologie, Arbeit und Migration, Stadtsoziologie und urbane soziale Bewegungen.
Das Interview fand statt am 13.1.2017.
Anmerkungen:
1) Zum Ford-Streik s. auch «Sechs bis acht Kommunisten, getarnt in Monteursmänteln» auf http://www.kanak-attak.de/ka/text/fordstreik.html . Zu den migrantischen Betriebskämpfen der sechziger und siebziger Jahre s. insbesondere Bojadžijev, Manuela, Die windige Internationale: Rassismus und Kämpfe der Migration (Münster 2008)
2) Eribon, Didier 2016. Rückkehr nach Reims. 7. Auflage. Berlin: Suhrkamp.