Publikation Globalisierung Erstes amerikanisches Sozialforum - Für die Souveränität des Südens gegenüber dem Norden

von Christiane Schulte

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor*in

Rosa-Luxemburg-Stiftung,

Erschienen

August 2004

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Im Juli 2004 fand das erste Sozialforum des gesamtamerikanischen Kontinents statt. Mehr als 10.000 Delegierte und Teilnehmerinnen und Teilnehmer  kamen in die ecuadorianische Landeshauptstadt Quito, um an 400 Veranstaltungen und Treffen teilzunehmen. Die größte Anzahl von Teilnehmern reiste aus dem Landesinneren Ecuadors und den anliegenden Ländern Peru, Kolumbien, Brasilien und Bolivien an. Als gesamtamerikanisches Forum geplant, war es am Ende ein lateinamerikanisches Forum.

Weltweiter Vernetzungsprozess Sozialer Bewegungen

Seit 2001 treffen sich globalisierungskritische Vertreterinnen und Vertreter von sozialen Bewegungen und lokalen Organisationen aus aller Welt im brasilianischen Porto Alegre und im indischen Mumbai zum Weltsozialforum. Was als Protestbewegung "Anti-Davos" vor dem schweizerischen Kongresszentrum mit 50 Personen begonnen hatte, ist inzwischen zu einem jährlichen Treffen von mehr als 100.000 Teilnehmern angewachsen. Einmal im Jahr, jeweils parallel zum Treffen der G-7 in Davos, kommen die Vertreter von Antifreihandels- und Antikriegsbewegungen, die Bauern-, Frauen-, Gewerkschafts-, Indígena- und Menschenrechtsorganisationen, die Ökologiebewegungen, Migranten und Jugendliche zusammen, um die weltweiten Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung zu analysieren und sich über Widerstandsformen und Alternativen zu verständigen. Inzwischen sind in vielen Kontinenten Sozialforen auf regionaler, nationaler und lokaler Ebene begründet worden. Als gemeinsame Nenner gelten dabei die Hauptlosungen "Eine andere Welt ist möglich" und "die Einheit in der Vielfalt". Die Charta von Porto Alegre gilt als Grundkonsens der Sozialforen.

Die offiziellen Veranstaltungen

Das amerikanische Sozialforum war dem Weltsozialforum ähnlich organisiert worden. Zu den fünf Hauptthemen (Wirtschaftsordnung, Neoliberalismus, Macht-Demokratie-Staat, Kultur und Kommunikation und Indígena- und Afroamerikanische Völker) fanden täglich und zeitgleich acht Podiumsdiskussionen, drei bis vier Dialogrunden und vier Konferenzen statt.  Namhafte Intellektuelle und Vertreter der Bewegungen stellten dem Auditorium kritische Analysen vor. Angesichts der Vielzahl von parallel stattfindenden Veranstaltungen gab es bei diesen Großveranstaltungen erfreulich wenig Gedränge, nicht einmal bei Frei Betto aus Brasilien, Francois Houtart aus Belgien, Walden Bello von den Philippinen oder Boaventura de Sousa Santos aus Portugal. Die  Veranstaltungen fanden in Quitos Neustadt in verschiedenen Universitäts- und Kulturgebäuden statt.

Die selbstorganisierten Seminare

Einen Kontrast zu den eher vortragsartigen Veranstaltungen der Intellektuellen bildeten die von Gruppen, Organisationen und Institutionen selbst organisierten Seminare und Workshops mit Netzwerkcharakter. An vier Tagen fanden jeweils nachmittags insgesamt mehr als 225 Seminare und Workshops zu vielfältigen Themen statt: gerechter Handel, Auslandsverschuldung, Rechte der Indígena-Völker, Aids, Fundraising, Soziale Bewegungen, Plan Kolumbien, Armutsbekämpfung, der venezolanische Prozeß, Wasser - Ware oder Menschenrecht, Sexuelle Rechte, alternative Kommunikation, Migrationsprozesse. Ein bunter Mix aus Themen, die einen lebendigen Eindruck von der Vielfalt der Lebenswelten und der aktuellen Probleme des amerikanischen Kontinents vermittelten.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat mit ihren Kooperationspartnern iBASE und der Perseu-Abramo Stiftung aus Brasilien gemeinsame Veranstaltungen zu den Themen Demokratie, Migration und Rassismus organisiert. Zudem hat sie zu einer Diskussion über die Auswirkungen des Irakkrieges auf die Demokratieprozesse in Lateinamerika eingeladen. Diese Veranstaltung, die  als einzige den Irakkrieg der USA und seine Folgen direkt thematisierte, stieß auf großes Interesse.

Die An- und Abwesenheit von Nordamerika

Die geringe Teilnahme von Vertreterinnen und Vertretern aus den USA und Canada wurde im Rahmen der offiziellen Veranstaltungen offenkundig. Die Podien waren mehrheitlich mit Referenten des mittel- und südamerikanischen Kontinents besetzt worden. In den Konferenzen sprachen je sieben Personen aus Ecuador und Brasilien, fünf Peruaner und Venezolaner, aber lediglich drei Kanadier und als einziger aus den USA, Jaribou Hill. Das führte automatisch dazu, dass im Mittelpunkt aller Diskussionen die wirtschaftlichen und politischen Probleme des lateinamerikanischen Kontinents standen. Die werden allerdings ganz wesentlich als durch die USA verursacht verstanden. Von den Einzelveranstaltungen war nur  knapp ein Zehntel von Organisationen aus Nordamerika organisiert worden. Ein junger Teilnehmer aus den USA nannte für die Abwesenheit seiner Landsleute drei Gründe: das zeitgleich stattfindende Sozialforum in Boston, den derzeitigen  Wahlkampf und mangelnde Identifizierung.  So waren die kritischen Intellektuellen und Bewegten aus den USA mehrheitlich abwesend, doch die Bedrohung durch die US-Hegemonie allgegenwärtig. Ausgerechnet vor der US-amerikanischen Botschaft wurden die Vertreter der Sozialen Bewegungen auf ihrem Protestmarsch durch die Innenstadt Quitos von der ecuadorianischen Polizei mit hochgiftigem Kampfgas angegriffen. Auf dem Banner der Frauen war zu lesen: "Ihr globalisiert die Armut und wir globalisieren den Widerstand".

Neoliberalismus - ein Übergriff auf die eigene Existenz

Zentrales Thema des Forums waren die Freihandelsvereinbarungen  als gesamtamerikanische Konstruktion (ALCA) oder in bilateraler Form (z.B. Zentralamerika oder mit dem Andenraum). Die Alternative  Freihandel oder  eine "gerechte Integration der amerikanischen Staaten" war das Thema von mindestens 25 Seminaren und verschiedenen Konferenzen, Panels und Dialogtischen. Von den Teilnehmenden wurden die gegenwärtigen Verhandlungsprozesse der Regierungen mit den USA oder der Europäischen Union über das gesamtamerikanische oder die regionalen Freihandelsabkommen als Übergriff auf die eigene Existenz und die lebensnotwendigen Ressourcen empfunden. Der größte Teil dieser Veranstaltungen war durch die Gruppen der Kontinentalen Sozialen Allianz (ASC) organisiert worden, die gegenwärtig eine der zentralen Bewegungen des Kontinents darstellen. Auf ihre Initiative hin vereinbarte die Versammlung der Sozialen Bewegungen am Ende des Forums Aktionen, um die Verhandlungen für die Freihandelsabkommen für Zentralamerika und den Andenraum zu stoppen.

Die geplanten Freihandelsabkommen werden besonders von den Indígena-Völkern stark thematisiert. Die Inwertsetzung, Vermarktung und Privatisierung von öffentlichen und natürlichen Gütern wie Gesundheit, Erziehung, Wasser und Biodiversität ebenso wie die  Patentierung des über Jahrtausende überlieferten traditionellen Wissensschatz (sabiduría) der Indígena-Völker in bezug auf Medizin und Biodiversität, die Teil einer kollektiven Identität darstellt, wird als äusserste Bedrohung empfunden. Im Rahmen einer im Kulturzentrum präsentierten Ausstellung zu Ernährungssicherheit und Saatgut, zu den Indigenas aus 13 mittel- und südamerikanischen Ländern Saatgut mitgebracht hatten, definierten sie sich als "permanente Wächter" der natürlichen und überlieferten Reichtümer, die nicht zur Ware degradiert werden dürften.

Anerkennung amerikanischer Vielfalt

Die starke Präsenz der Indígena-Völker und das Manifestieren ihrer kulturellen Vielfalt kennzeichnete dieses erste amerikanische Sozialforum auf besondere Art und Weise. Dies drückte sich in der öffentlichen Zeremonie der Quechua-Indianerpriester während der Einführungsveranstaltung auf der kolonialen Plaza San Francisco aus und zog sich gleich dem Rauch der während der Zeremonie verbrannten Gräser wie ein roter Faden durch die gesamte Woche. Als musikalischer Hintergrund andine Klänge statt Sambarhyhtmen wie in Brasilien. Nicht nur die wenigen europäischen und nordamerikanischen Teilnehmer, sondern auch viele südamerikanische Teilnehmer aus Brasilien, Kolumbien und anderen Ländern konnten hier eine ihnen bislang wenig bekannte Lebenswelt für sich entdecken. In diesem Sinne war das Forum ein tatsächlich interkulturelles Treffen: indianischer, afro- und hispanoamerikanischer Vielfalt mit ihren europäischen und asiatischen Wurzeln.

Städtische Armut und Jugendliche

Von großer Bedeutung war die Frage nach der Zukunft der Städte und der ihrer jungen Bevölkerung. Städtische Bewegungen von Süd- bis Mittelamerika hatten sich einen ganzen Tag zusammengesetzt, um über den jeweiligen Stand der Bewegungen zu informieren. Kinder überreichten im Rahmen des Kinderforums dem Nobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel eine Erklärung: Die Mehrheit der Kinder sind arm und die Mehrheit der Armen sind Kinder Sie fordern eine Meinungsfreiheit, die auch für sie gilt, Unterstützung für arbeitende Kinder, Partizipation von Kindern, ihren Zugang zu öffentlichen Gütern und Respekt gegenüber ihren besonderen Rechten als Kinder.

Selbstkritisch setzten sich während eines Treffen der Educación popular die Verantwortlichen für die Bildungsarbeit der Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen mit der eigenen Praxis der letzten Jahrzehnte auseinander. Dreihundert Personen hatten sich hier auf Initiative des Martin Luther King Zentrums aus Cuba zusammen mit dem Alforja-Bildungsnetzwerk, der brasilianischen Landlosenbewegung MST sowie Bewegungen aus Argentinien versammelt, um den Zusammenhang von Volksbildung und kritischem Denken zu besprechen. Sie fordern eine Pädagogik der Diversität, die von den verschiedenen lokalen Praktiken und Lebenswelten ausgeht und dem neoliberalen und hegemonialen Einheitsdenken die Stirn bietet, eine emanzipatorische Pädagogik, die Transformationsprozesse befördert. Auf die Bedeutung der educación popular hatte auch Boaventura de Souza Santos aus Portugal hingewiesen. Aus seiner Sicht müsse die Demokratie durch empanzipatorische Pädagogik wiedererlernt werden. Dabei sei es wichtig, sich auf die Menschenrechte zu stützen, da sie eine international legitime Sprache beinhalten. Das Menschenrechtskonzept müsse aber im gegenhegemonistischen Sinne überarbeitet  und um das Recht auf Entwicklung, Demokratie, Diversität erweitert werden.

Die Souveränität des Südens gegenüber dem Norden

Die Forderung nach Souveränität zog sich im doppelten Sinne durch die Veranstaltungen: Souveränität der Gesellschaften gegenüber den Regierenden bzw. Qualität der Demokratie und Souveränität der Staaten Lateinamerikas gegenüber den USA, der EU und den multinationalen Unternehmen. Atilio Borón betonte die Wichtigkeit von Nationalstaaten, konstatierte aber eine Zunahme von Souveränität der westlichen Industriestaaten und eine Abnahme von Souveränität der sogenannten peripheren Staaten. Auch die Demokratien im Norden würden gegenwärtig schwächer. Das bestätigte der Kanadier Vincent Dagenois. Die gegenwärtigen Demokratien seien so schwach, dass wesentliche Verhandlungen wie ALCA oder die regionalen Freihandelsprozesse ausserhalb des demokratischen Raumes verliefen, in Canada ebenso wie in Lateinamerika. Insofern sei auch die nordamerikanische Freihandelszone weniger ein ökonomisches, sondern eher ein Problem der Demokratie und der Volkssouveränität. Zur Relativierung der Idee eines gegenwärtig schwachen Staates in Lateinamerika führte Anibal Quijano während des gemeinsamen Seminars der Rosa-Luxemburg Stiftung mit iBASE aus Brasilien eine zunehmende Kontrollfunktion des Staates gegenüber der Gesellschaft an. Ohne politische Kontrolle sei Ausbeutung gar nicht möglich. Dem könnten die Bewegungen nur die Demokratisierung der Gesellschaft entgegensetzen, sie müssten aber aus den Fehlern der Linken in den letzten Jahrzehnten lernen. Nur zwei Staaten Lateinamerikas könnten momentan als außenpolitisch souverän gelten, Venezuela und Cuba. Reale Demokratie, so Leonel González aus Cuba, beinhalte Partizipation im Wirtschaftlichen, Sozialen und Politischen. In Cuba habe man konstruiert, was angesichts der außenpolitischen Bedingungen möglich war. Cuba sei kein perfektes Land, aber eines mit sozialer Gerechtigkeit. Edgardo Lander beschrieb den schwierigen Weg Venezuelas bei der Konstruktion von Demokratie und Souveränität. Dieser Weg habe seine Stärken und Schwächen, habe aber einen gesellschaftlichen Integrationsprozess und eine neue politische Kultur im Land bewirkt.

Wohin? Die Frage der Alternativen

Walden Bello aus den Philippinen verwies darauf, dass alternative Vorschläge zu dieser Art von neoliberaler Globalisierung vorliegen. Deglobalisierung bedeute die Schaffung von Bedingungen, die die nationalen, regionalen und lokalen Wirtschaftskreisläufe stärken. Dabei dürfe es  nicht um einen Prozess permanenter Preisverbilligung gehen, sondern um soziale Solidarität. "Der Markt muss wieder in die Gesellschaft gebracht werden". Zu den alternativen Vorschlägen gehören die Reorientierung von Exportmärkten hin zur Produktion für den internen Konsum, Agrarreformen und nationale Entscheidungsprozesse statt Marktentscheidungen. Das Problem bestehe darin, dass der globalisierte Kapitalismus keine Infragestellung seiner Prinzipien ermögliche und deshalb lokale und nationale Alternativwege bisher nicht möglich waren. Heute sei Importsubstitution durch die WTO verboten. Notwendig sei also die Schaffung eines pluralistischen Systems, in dem sich Regierungen und Organisationen gegenseitig mit dem Prinzip der "kollektiven Solidarität" kontrollieren. 

Für den Argentinier José Luis Coraggio muss eine neue Wirtschaftskonzeption um neue Kategorien, wie bspw.  die Kategorie "Arbeit" erweitert werden. Eine neue Wirtschaftskonzeption erfordere ein andere Gesellschaft und eine neue Politik, in der alle gleichwertige Staatsbürger sein müssen. Aníbal Quijano sieht Ansätze einer anderen Wirtschaftsform in der sich auf lokaler Ebene bereits vollziehenden Reziprozitätsbeziehungen, da viele Menschen nicht mehr mit dem Markt leben könnten. Nur in der Reziprozität sei auch Demokratie möglich.

Wie? Die Frage der Macht

Francois Hourtat erklärte die Zunahme von Widerstandsformen und -bewegungen aus der Tatsache, dass heute alle subalternen Klassen Opfer des Kapitalismus seien, nicht mehr nur diejenigen, die im direkten Lohn- und Klassenverhältnis stünden. Ausbeutungsverhältnisse entständen mittels Auslandsverschuldung, Agrarmärkte und durch die Privatisierung von öffentlichen Gütern. Die Bewegungen müssten sich mit der Machtfrage auseinandersetzen. Er hob die Wichtigkeit von Hegemonie im gramscianischen Sinne hervor, als intellektuelle und moralische Führung einer Gesellschaft. Insofern habe der Weltsozialforumsprozess dazu beigetragen, die neoliberale Hegemonie infrage zu stellen. Seine Schlußfolgerungen: Bewegungen und Parteien sollten ihre Komplementarität erkennen, strategische und spezifische Allianzen  bilden und Vereinbarungen über Teilziele treffen. Gilmar Mauro von der brasilianischen Landlosenbewegung (MST) stimmte mit Houtart darin überein, dass sich gesellschaftliche Veränderungen nur über den Disput politischer Macht ergeben könnten. So sind in der Konzeption der MST  Verhandlungen  immer auch das Ergebnis von starken gesellschaftlichen Kämpfen. In der notwendigen Beziehung zu den Parteien müssen die Sozialen Bewegungen ihre Autonomie behalten. Einheit bedeutet Diskussion, Unterschiedlichkeit und gleichzeitig die Fähigkeit zu gemeinsamen Aktionen. Jeder Akteur, so Gilmar Mauro, muss auf seinem Weg bereits in der Gegenwart eine Zukunftsvision entwickeln und sie leben. Sich darüber auszutauschen ist Sinn und Zweck der Sozialforen und es bleibt zu hoffen, dass ein nächstes amerikanisches Forum den Dialog mit den Nordamerikanern über dieses Thema ermöglicht.