Publikation Digitaler Wandel - Globalisierung - Digitalisierung der Arbeit Nichts Böses sehen

Software unterstützt Unternehmen bei der Koordination ihrer Lieferketten, die wiederum den globalen Kapitalismus am Laufen halten. Doch wie funktioniert dieser Code – und was verbirgt er?

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Reihe

Online-Publ.

Autorin

Miriam Posner,

Erschienen

September 2018

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Bild: CoreDESIGN / Shutterstock.com

Als ich bei einem Arbeitsaufenthalt in Amsterdam mitten in der Nacht die Hotel-Minibar durchforstete, stieß ich auf eine Schokoladentafel mit dem ungewöhnlichen Namen Tony’s Chocolonely. Ich musste kurz auflachen, so treffend war der Name – denn wer Schokolade aus einer Minibar isst, muss in der Tat ein wenig lonely, ein wenig einsam sein. Und aus einer Laune heraus gab ich den Markennamen kurzerhand bei Google ein.

Die angezeigten Ergebnisse waren ernüchternder als erhofft. Der Gründer von Chocolonely, Teun (Tony) van de Keuken, schuf sein Unternehmen mit dem Ziel, die erste (die «lonely only») Schokoladentafel zu produzieren, die ohne Arbeitsausbeutung auskommt. Dem Unternehmen zufolge sorgte das für einen Rechtsstreit: Bellissimo, ein Schweizer Schokoladenhersteller, verklagte Chocolonely in 2007 und ließ dabei angeblich verlauten, es sei «unmöglich, eine Schokolade zu produzieren, die frei von Sklavenarbeit ist».

Ähnliche Behauptungen hatte ich bereits hinsichtlich anderer Branchen gehört. Da gab es zum Beispiel das Fairphone, von dem bei seiner Einführung 2013 behauptet wurde, das erste ethisch vertretbar produzierte Smartphone auf dem Markt zu sein. Der Hersteller musste dann allerdings einräumen, dass eine Lieferkette unmöglich ganz ohne unfaire Arbeitsbedingungen auskommen kann. Hinzu kommen regelmäßige Berichte von Ausbeutungsverhältnissen, die in den Lieferketten von Unternehmen wie Apple oder Samsung zum Vorschein kommen, Unternehmen also, die behaupten, sich nach Kräften darum zu bemühen, die Arbeitsbedingungen in ihren Fabriken zu prüfen.

Nach meinem anfänglichen Zynismus stellte sich mir jedoch die Frage: Was, wenn wir diese Unternehmen beim Wort nehmen sollten? Was, wenn es wirklich unmöglich ist, Einfluss auf die gesamte Lieferkette zu nehmen?

Was mich dabei verwirrte, war, wie verlässlich Lieferketten sind – oder zumindest zu sein scheinen. Die Welt ist völlig unberechenbar – da gibt es Erdbeben, Streiks, Schlammlawinen und alle anderen erdenklichen Tragödien –, und doch kann ich mich als Konsumentin mehr oder weniger darauf verlassen, dass ich das, was ich will, dann bekomme, wann ich will. Wie sollte es möglich sein, die Ankunftszeit meines Pakets auf die Stunde genau zu terminieren, aber praktisch nichts über die Bedingungen am Produktionsstandort zu wissen?

In den letzten zwanzig Jahren war in Forschung und Öffentlichkeit gleichermaßen ein wachsendes Interesse an der physischen Infrastruktur globaler Lieferketten festzustellen. Im Podcast Containers des Journalisten Alexis Madrigal ging es beispielsweise um die Frage, wie Güter in so kurzer Zeit derartige Strecken zurücklegen. Die Autorin Rose George reiste für ihr Buch «Ninety Percent of Everything» gar auf einem Containerschiff mit. Und «The Box» von Marc Levinson wurde zur Überraschung seines Verlags Princeton University Press zum landesweiten Besteller. Erst kürzlich erschien mit Deborah Cowens «The Deadly Life of Logistics» ein erstaunlich fesselnder geschichtlicher Abriss dieser so wichtigen Branche.

Diese Bücher geben uns einen Eindruck der physischen Infrastruktur, die den globalen Kapitalismus überhaupt erst möglich macht. Der Datenfluss dieser Infrastruktur ist aber noch immer weitestgehend unerforscht. Welche Wege finden Informationen entlang der Lieferketten, so dass ich just zu der Zeit ungeduldig an der Türschwelle warten kann, in der mein neues iPhone tatsächlich eintrifft – und dennoch scheint niemand zu wissen, wie es zu mir gekommen ist?

Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage kam ich zu der überraschenden Erkenntnis, dass nicht nur wir Konsument*innen von dieser selektiven Blindheit betroffen sind, sondern auch die Unternehmen, die die Lieferketten in Anspruch nehmen. Und es ist dieser eingeschränkte Blick, der allenthalben Verbreitung gefunden hat, der den globalen Kapitalismus überhaupt erst möglich macht.

Ein Netzwerk von Wasserstraßen

Supply-Chain-Management (SCM) ist eine gewaltig große und zugleich sehr verschwiegene Branche. Sie gehört zu den heute am schnellsten wachsenden Unternehmensbereichen und ist Thema unzähliger Bücher, Zeitschriftenbeiträge und Blogs. Es ist sogar möglich, einen Studienabschluss darin zu bekommen.

Die meisten Unternehmen hüten sich jedoch davor, allzu viel von ihren Arbeitsabläufen preiszugeben. Das hat nicht nur mit ihrer Angst davor zu tun, dass Missstände aufgedeckt werden, sondern auch damit, dass eine verlässliche und effiziente Lieferkette einen echten Wettbewerbsvorteil für ein Unternehmen darstellt.

Nehmen wir Amazon als Beispiel: Statt als Einzelhandelsunternehmen lässt sich dieser Konzern viel eher als die Lieferkette schlechthin begreifen. Sein Wettbewerbsvorteil liegt in der Fähigkeit, beispielsweise einen Packen Handtücher mit enormer Geschwindigkeit und zu niedrigsten Preisen bis an die Haustür liefern zu können. Kein Wunder also, dass sich das Unternehmen sehr bedeckt hält, wenn es um die Infrastruktur der eigenen Lieferkette geht. Nur wenige Menschen außerhalb von Amazon wissen viel über die Software, die Amazon dafür nutzt, seine Logistikaktivitäten zu koordinieren.

Im Universum der Lieferketten gibt es große technologiegetriebene Konzerne wie Amazon und Apple, die ihre eigene Lieferketten-Software schreiben und pflegen, und dann gibt es alle anderen. Und beinahe alle anderen greifen auf SAP zurück. SAP, die Abkürzung für Systeme, Anwendungen und Produkte, ist ein Riese. Und statt einfach nur eine einzelne Software zu sein, ist es viel eher ein Konglomerat ineinander greifender Anwendungen, die über eine gemeinsame Datenbank zusammenhängen. Unternehmen kaufen SAP in Form von «Modulen», und das Lieferkettenmodul lässt sich dann in das übrige Paket integrieren. Die übliche Reaktion, wenn Leute, die bereits Erfahrung mit SAP hatten, den Namen hören, ist ein tiefer Seufzer — denn wie jede große Unternehmenssoftware hat auch SAP den Ruf, nervenaufreibend zu sein.

Dennoch ist SAP mit seinen Modulen für Finanzen, Beschaffungswesen, Personalwesen und Supply-Chain-Management allgegenwärtig. «Sehr viele Unternehmen nutzen SAP für Aufgaben wie Finanzen», so Ethan Jewett, SAP-Berater und Softwareentwickler, der Unternehmen bei der Integration von SAP-Modulen unterstützt. «Wenn die Software aber bereits für einen Unternehmensbereich genutzt wird, liegt es nahe, sie auch für die anderen Bereiche zu nutzen.»

Leonardo Bonanni ist der Gründer und CEO eines Unternehmens mit dem Namen Sourcemap, das Unternehmen beim Mapping der eigenen Lieferketten unterstützt. Bonanni führt die Schwierigkeit der Unternehmen, ihre eigenen Lieferketten selbst abzubilden, auf die SAP-Architektur zurück. «Es ist witzig, weil die DNA der Software deutlich durchscheint», sagt Bonanni. «Wenn du einen Blick auf SAP wirfst, siehst du, dass die Datenbank tatsächlich noch auf Deutsch geschrieben ist. Und die Beziehungen umfassen alle genau ein Glied. Sie waren nie dafür gedacht, eine so große Zahl von Menschen zu berücksichtigen und für so viele Bereiche des Unternehmens von Interesse zu sein.»

Wie unvollkommen die Software auch immer sein mag, sie ist dennoch von grundlegender Bedeutung, denn Lieferketten sind unglaublich komplex, selbst im Fall von Low-Tech-Gütern. Es mag sein, dass ein Unternehmen die Übersicht behalten kann über alle Fabriken, die das Endprodukt herstellen, aber was ist mit deren Zulieferern? Und den Zulieferern der Zulieferer? Und was mit den Rohmaterialien?

«Es ist ein gigantisches Unterfangen», sagt Bonanni. «Selbst ein kleines Textilunternehmen kann mehr als 50.000 Zulieferer in der Lieferkette haben. Dabei hast du vielleicht mit etwa 200 bis 500 Vertreter*innen oder Mittler*innen persönlichen Kontakt. Aber wenn du mit jeder Person in Kontakt treten müsstest, die irgendwie beteiligt war, müsstest du dich entweder auf eine ganz winzige Produktpalette beschränken oder einen unglaublichen Gewinn einfahren, um das zusätzliche Personal für diese Aufgabe bezahlen zu können.»

Wir nennen sie «Lieferketten», aber das Bild ist eigentlich irreführend. Tatsächlich ähneln sie viel stärker verzweigten Flusssystemen mit Tausenden kleiner Seitenarme, die aus weiteren Unterlieferanten bestehen, die sich in größere Ströme von Montage, Produktion und Vertrieb ergießen.

Bonanni betont, dass Arbeitsrechtsverletzungen eher skandalisiert werden, wenn sie bei großen, prestigeträchtigen Unternehmen wie Apple oder Samsung vorkommen. In anderen Branchen, wie der Textilindustrie oder der Landwirtschaft, bleiben die Arbeitsverhältnisse eher verborgen. Rechtsverletzungen sind dort aber an der Tagesordnung. «In der Textilbranche wird jedes Quartal eine komplett andere Kleidungspalette produziert, weswegen es mit jeder Saison eine neue Lieferkette gibt. Bei den Lebensmitteln sind Millionen von Bauern involviert. Entsprechend gibt es viel zu viele Knoten, als dass sich das ohne Computer überblicken ließe. Und bevor ein Monitoring überhaupt einsetzen könnte, hat sich die Lieferkette bereits gewandelt – und genau das sind die Stellen, wo wir viele Probleme und Instabilität feststellen.»

Viele von uns haben ein Bild von Lieferketten mit hochmodernen Fabriken, wie jenen von Foxconn. In Wahrheit sind die Knoten der modernsten Lieferketten weit weniger beeindruckend: kleine, werkstattartige Zulieferer, die aus Garagen oder Nebengebäuden heraus operieren. Die Verbreitung und Dezentralisierung solcher improvisierten Werkstätten bietet eine Antwort auf die Frage, warum es Unternehmen so schwer fällt, ihre eigenen Lieferketten zu überblicken, und warum die Lieferketten selbst so widerstandsfähig sind. Wird ein Knoten im Netzwerk durch ein Feuer oder einen Streik ausgeschaltet, springt ein anderer Zulieferer ein, ohne dass das Unternehmen, das die Güter in Auftrag gegeben hat, überhaupt davon erfährt.

Es gibt keinen Kontrollturm, der über die Liefernetzwerke wacht. Stattdessen brauchen einzelne Knoten nur mit ihren Nachbarknoten zu kommunizieren, wodurch Güter durch ein System gespeist werden, das in seiner Gänze betrachtet, unglaublich komplex ist. Lieferketten sind genau deswegen so robust, weil sie dezentralisiert und selbstheilend sind. Und in diesem Sinne ähneln sie mit ihrer über die gesamte Welt verteilten Infrastruktur sehr dem unsichtbaren Netzwerk, das all dies möglich macht: dem Internet.

Gold muss Gold sein

Werden die Güter schließlich in Form von Waren Teil der Lieferkette, erfordert der Masseneinkauf, dass jegliche Informationen über Ursprung und Produktionsweise gelöscht werden. Ethan Jewett erklärte mir dieses Problem anhand eines theoretischen Kaufs von Gold:

In gewissem Sinne ist alles Gold gleich, es geht also darum, einfach nur das billigste Gold zu erwerben. Für eine andere Perspektive ist jedoch bedeutsam, wie es aus der Erde geholt und später transportiert wurde. Und entsprechend ist jedes Stück Gold einzigartig. Aus dieser Einzigartigkeit jedes Goldstücks ergibt sich aber zugleich die Schwierigkeit, Dinge, die vom Produktionsblick aus praktisch dasselbe sind, überhaupt vergleichbar zu machen.

Um aber als Ware gehandelt zu werden, muss Gold jedoch Gold sein.

Als Jewett mir das so erklärte, klickte etwas bei mir. Das System, das er da beschrieb, war – mit einem Wort zusammengefasst – modular. Modulare Systeme bieten eine Lösung zur Unterteilung von Informationen, die allen geläufig ist, die mit Computer-Programmen und Systemarchitekturen zu tun haben. Sie lösen das Komplexitätsproblem, indem sie Informationen in eine «Black Box» packen, sprich, sie teilen Codes oder Informationen in separate Einheiten auf. Programmierer*innen brauchen dann nur über das jeweilige Software-Modul Bescheid zu wissen, mit dem sie arbeiten, da die Komplexität des Gesamtsystems eine einzelne Person überfordern würde. Modularität ist die Lösung der Wahl, um komplexe Systeme und eine Überfülle an Informationen unter einen Hut zu bekommen.

Der Computer-Historiker Andrew Russell sagte mir, dass «Blackboxing dabei hilft, eine Menge gedanklichen und informationellen Ballast zu vermeiden, weil man nur mit den Ergebnissen zu tun hat, die die Box ausgibt; es ist nicht nötig zu wissen, was in ihr vorgeht». Modularität, wie von Russell dokumentiert, tauchte zunächst als Begriff in der Architektur auf. Sie fand dann im Militärbereich Anwendung, wo sie zur Beschreibung von dem Projekt Tinkertoy gebraucht wurde, einem Programm, das nach dem Zweiten Weltkrieg darauf abzielte, austauschbare und in sich abgeschlossene elektronische Bauteile zu entwickeln. Von da ausgehend verbreitete sich die Idee von Modularität mit rasanter Geschwindigkeit, als Modell zum Verständnis und zur Strukturierung von allem Möglichen – von Organisationen über die Wirtschaft bis hin zum Stricken. «Es ist ein Merkmal für Modernität geworden», so Russell.

Lieferketten sind von Grund auf modular angelegt. Denken wir nur mal an die Entwicklung von Containern. Revolutionär war daran nicht, dass sie etwas aufbewahren konnten, sondern dass sie über standardisierte Maße für einen beliebigen Inhalt verfügen und abgeschlossen und transportiert werden können. Auf ihnen beruht die Globalisierung – denn erst sie machen eine globale Reichweite möglich –, weil sie etwas verstecken. Es ist nicht mehr nötig zu wissen, was drin steckt, nur noch, wohin es transportiert werden muss.

Wie können wir also die Komplexität eines Systems bewältigen, mit dem Güter aus unterschiedlichsten Ecken der Erde beschafft werden sollen? Ganz einfach: Wir führen ein modulares System ein. Wenn jeder Teil in seiner eigenen «Black Box» steckt, brauchen wir nichts weiter zu wissen, als dass er unseren Anforderungen entspricht. Informationen zu Herkunft, Arbeitsbedingungen und Umweltauswirkungen sind hinderlich, wenn es darum geht, Güter schnell zu beschaffen und zusammenzusetzen. «Es gäbe eine Million Wege, um die Dinge so zu tun, dass all diese Informationen vorhanden sind», so Russell. «Dann gäbe es einen kontinuierlichen Überblick. Aber was dabei verloren geht, ist der Vorteil der unbegrenzten Größe des Warenflusses.» Und Skalierbarkeit ist in einer globalisierten Wirtschaft natürlich das A und O.

Auf der einen Seite erscheint alles recht logisch und klar: Um Komplexität zu bewältigen, haben wir gelernt, Güter und Prozesse in austauschbare Teile zu zerlegen. Aber die Auswirkungen dieser Entscheidung sind umfassend und tiefgreifend.

Und damit wird uns auch klarer, warum es unter anderem so schwer ist, auf die Verzweigungen eines Zulieferernetzwerks «hinunterzublicken». Und es erklärt auch, warum transnationale gewerkschaftliche Organisierung so schwer ist: Um den Anforderungen des Marktes besser gerecht zu werden, haben Werkstätten gelernt, austauschbar zu werden. Zuweilen macht es sogar den Anschein, dass wir Modularität auch auf psychologischer Ebene aufgenommen haben – denn obwohl die Welt vernetzter ist denn je zuvor, scheint es uns Schwierigkeiten zu bereiten, uns konkret vorzustellen und auszudrücken, wie wir zu den Menschen in anderen Produktionsnetzwerken weltweit in Beziehung stehen.

Vorhang auf für die Blockchain

Wenn es Technologie ist, die uns die selektive Blindheit beschert, die die Dimension globaler Lieferketten möglich macht, kann Technologie dann auch das Problem der Verleugnung lösen? Kann Software, die die Black Box erst geschaffen hat, uns dabei helfen, sie zu öffnen?

Unter SCM-Fachleuten war in letzter Zeit sehr viel die Rede vom Einsatz von Blockchains und dem Internet der Dinge, oder kurz IoT (Internet of Things). Mittels IoT-Technik könnten kleine Sender an Bauteile geheftet werden, mit denen ihr Standort nachzuverfolgen und zu überwachen wäre. Blockchains könnten jedem Bauteil, das sich entlang einer Lieferkette bewegt, eine eindeutige und verfolgbare ID-Nummer zuweisen sowie ein Protokoll, in dem jede Übergabe verzeichnet werden würde. Den Befürworter*innen dieser Technologien zufolge würden sie für umfassende Transparenz und nie dagewesene Sicherheit in globalen Lieferketten sorgen.

Blockchain ist die Technik, die der Kryptowährung Bitcoin zugrunde liegt. Die Idee dabei ist, dass bei jedem «Stopp» entlang einer Kette von Nutzer*innen, eine mit einem bestimmten Bitcoin (oder Bauteil) verknüpfte Datenbank den Besitzerwechsel registriert. Die Identität der einzelnen Nutzer*innen könnte entweder verschlüsselt oder transparent erfasst werden. In beiden Fällen wäre ein Verzeichnis der Transaktionen für alle in der Kette einsehbar und praktisch fälschungssicher.

Blockchain bietet Sicherheit im Zeitalter der Dezentralisierung und könnte es Unternehmen zumindest theoretisch ermöglichen, die Sicherheit, Zusammensetzung und Herkunft hergestellter Waren zu verifizieren. Supply Chain 24/7, ein Newsletter der Branche, nennt Blockchain eine «bahnbrechende» Technologie, «die das Potenzial hat, die Lieferkette zu transformieren».

IoT ist ein gänzlich anderer Ansatz für ähnliche Probleme. Ein Unternehmen, das irgendwo entlang der Lieferkette sitzt, bestückt ein Bauteil mit einem kleinen Sender, zum Beispiel einem aktiven RFID-Tag, mit dem eine Kontrollstelle den Standort und Status des Bauteils in Echtzeit verfolgen kann. Dank Sensoren könnte ein Unternehmen sogar die Umgebung des Bauteils kontrollieren, etwa Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Das klingt doch wie eine maßgeschneiderte Lösung für unser Problem: Mit diesen kleinen Sendern könnten Unternehmen endlich den Überblick erhalten, den sie angeblich anstreben.

Die Lieferketten-Expert*innen, mit denen ich darüber sprach, zeigten sich jedoch skeptisch. Um Blockchains wirklich wirkungsvoll implementieren zu können, so Bonanni, müsste jeder Zwischenhändler seine Geschäftspraktiken offenlegen, andernfalls würde in der Datenbank lediglich eine Zeichenfolge auftauchen. «Sollte es gelingen, Zulieferer von Transparenz zu überzeugen, dann wären Blockchains in der Tat eine Möglichkeit, zu verifizieren, dass das, was du bekommst, von der Person stammt, die es dir geschickt hat, und das wäre äußerst wertvoll», so Bonanni weiter. «Sollten sie sich aber nicht damit einverstanden erklären, dann weißt du lediglich, dass du bekommen hast, was du wolltest. Aber sie werden dir weder sagen, woher sie das Teil bekommen haben, noch von dem diese Person es hat.»

Bei IoT tritt dasselbe Problem auf. Ohne aktive Beteiligung der Zulieferer wird IoT «eine weitere Technologie, die es zu fälschen gilt», sagt Bonanni. «Das eigentliche Problem, nämlich der Mangel an Sichtbarkeit, wird dadurch nicht gelöst.» Und angesichts des enormen Drucks, der auf Zulieferern lastet, Güter schnell und flexibel bereitzustellen, ist es schwer vorstellbar, dass Unternehmen mehr Informationen preisgeben als absolut nötig.

Ein System, bei dem IoT und Blockchains umfassende Daten zu Arbeitsbedingungen und ‑sicherheit bereitstellen, ist also durchaus denkbar, allerdings lässt uns die Realität des globalen Kapitalismus eher vermuten, dass IoT uns mit größerer Wahrscheinlichkeit intelligente Toaster bescheren wird als sozialverantwortliche Lieferketten.

Ein System besserer Vorhersagen

Die Innovation im SCM-Bereich schreitet zwar weiter voran, aber keinesfalls in Richtung der von Tony’s Chocolonely anvisierten Transparenz. Logistik-Fachleute sind aktuell besonders von Algorithmen für maschinelles Lernen begeistert, die in der Lage sind, Vorhersagen oder Entscheidungen zu treffen, indem sie aus einem gegebenen Datensatz «lernen».

Kundenseitig ist maschinelles Lernen bereits großflächig im Einsatz. Beispielsweise nutzen Unternehmen wie Target diese Technik, um zu erraten, dass Kund*innen, die eine parfümfreie Lotion, Vitamine, Handdesinfektionsmittel und weiche Polster kaufen, vermutlich ein Kind erwarten. In der SCM-Welt jedoch könnte maschinelles Lernen jedoch problemlos Informationen dazu liefern, welche Zulieferer und welche Routen am schnellsten und zuverlässigsten sind. Unternehmen könnten «die Performance eines jeden Zulieferers, Transporteurs, Spediteurs, Hafens, jeder Spur, Straße, Produktionsstätte und jedes Lagers in der erweiterten Lieferkette unter wechselnden Bedingungen vorhersagen», so die Einschätzung der SCM-Analyse-Firma Transvoyant.

Auf Grundlage maschinellen Lernens könnten Unternehmen historische Daten zu Produktionsstätten und Gütern nutzen, um Risikobewertungen für die einzelnen Zulieferer zu errechnen. Egal welche Wetterphänomene, veränderten politischen Rahmenbedingungen oder wirtschaftliche Faktoren zutage treten, eine Aktualisierung der Risikobewertungen könnte zu einer automatischen Neukonfiguration der Lieferkette zugunsten weniger risikoreicher Anbieter führen. Faszinierende Aussichten: Lieferketten, die sich in Abhängigkeit globaler Risikofaktoren dynamisch neu ausrichten, genau so wie Google Maps das Auto auf kleinere Straßen umleitet, wenn die Hauptverkehrsader verstopft ist.

Obgleich die Effizienz dadurch sicherlich verbessert würde, wäre es im Gegenzug praktisch sogar noch schwerer möglich, den Zulieferer eines LCD-Bildschirms für ein Smartphone zu identifizieren. So würde das Problem selektiver Blindheit, das bereits tief in den globalen Lieferketten verankert ist, nicht gelöst, sondern verschlimmert.

Tatsächlich bleibt der Einsatz maschinellen Lernens am produktionsseitigen Ende von Lieferketten zum großen Teil Spekulation. Wenn Unternehmen nicht einmal die grundlegendsten Fakten über die Zulieferbetriebe kennen, ist es schwer vorstellbar, wie die Daten, die für ein effizientes Modell maschinellen Lernens erforderlich sind, zusammenkommen sollten.

Seine Anziehungskraft auf SCM-Expert*innen bleibt dennoch unbestritten, schließlich bietet es die Art von Sichtbarkeit, über die Unternehmen sprechen, wenn sie Transparenz in der Lieferkette fordern: Nicht die Informationen, mit der Kund*innen die Herkunft ihrer Süßigkeiten bestimmen können, sondern die Informationen dazu, wie sie diese am schnellsten und billigsten bekommen. Im SCM-Kontext ist selbst Sichtbarkeit höchst selektiv.

Das Sehen erlernen

Mit anderen Worten sind die Herausforderungen nicht nur technischer, sondern auch politischer Natur. Und die politischen Hindernisse sind enorm. Angesichts fehlender Bestrebungen zur demokratischen Kontrolle über Lieferketten erscheinen sie uns als selbstgesteuerte Prozesse – beinahe schon als Naturphänomene denn als Kräfte, die wir selbst ins Leben gerufen haben.

Der Guardian berichtete 2014, dass burmesische Migrant*innen zur Sklavenarbeit auf Krabbenkuttern vor der thailändischen Küste gezwungen wurden. Laut Logan Kock von Santa Monica Seafood, einem wichtigen Importeur von Meeresfrüchten, «ist die Sichtbarkeit der Lieferkette ziemlich wolkenbehangen, besonders wenn die Tiere nicht direkt an der Küste gefischt werden». Mich erschütterte, wie Kock sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse in eine meteorologische Metapher verpacken konnte: nämlich als etwas, das Lieferketten passieren kann, nicht als etwas, das diese selbst verursachen.

Kork hat natürlich Recht darin, dass die Sichtbarkeit in Lieferketten getrübt ist – jedenfalls, was bestimmte Aspekte angeht. Denn unsere Entscheidung für weltweite Lieferketten und für ein bestimmtes konzeptionelles Modell zur ihrer Verwaltung ist auf Kosten der Möglichkeit gegangen, detaillierte Informationen zu erhalten, die eine gerechtere und angemessenere Regelung erlaubt hätten.

Wenn Unternehmen wie Santa Monica Seafood sich auf ihre Unwissenheit hinsichtlich der arbeitsrechtlichen und umweltbezogenen Verstöße berufen, die in ihren Lieferketten alltäglich sind, bin ich tatsächlich geneigt, ihnen zu glauben. Es ist in der Tat möglich, eine höchst effiziente Lieferkette zu haben und so gut wie nichts darüber zu wissen. Das ist nicht nur möglich, sondern die Grundbedingung für das Funktionieren des Kapitalismus im weltumspannenden Maßstab.

Nun ist es nicht so, dass dezentralisierte Netzwerke unabänderliche Tatsachen sind. Sie sind das, zu dem wir sie gemacht haben. Das erinnerte mich an etwas, was die Ethnologin Anna Tsing über Walmart anmerkte. Tsing wies darauf hin, dass Walmart die absolute Kontrolle über bestimmte Aspekte seiner Lieferkette einfordert, wie etwa Preise und Lieferzeiten, während es gleichzeitig weit von sich weist, über andere Aspekte Bescheid zu wissen, wie Arbeitsbedingungen und Zulieferernetzwerke. Tsing bezog sich dabei zwar nicht auf Daten, aber ihre Erkenntnis scheint sich auch auf die Architektur von SAPs Lieferkettenmodul anwenden zu lassen: Ihre von geschäftlichen Vorgaben definierte Struktur hindert die Software daran, Informationen zu Arbeitsbedingungen in allzu weiter Entfernung entlang der Lieferkette zu erfassen.

Dieser eigentümliche Zustand des Wissens bei gleichzeitigem Nicht-Wissen ist nicht etwas, für das sich einzelne Unternehmen entscheiden, sondern ein Gesamtsystem, das gewachsen ist, um die Vielfalt an Gütern bereitzustellen, die wir verlangen, und mit der Geschwindigkeit, die wir möchten. Dieses System ist in die Software eingebettet, aber auch in die Containerschiffe, das sichtbarste Aushängeschild der Globalisierung.

Wir wissen sehr viel darüber, welche Art von Dingen wir wann bekommen können. Abgesehen von der vagen Vorstellung, dass diese «aus Übersee» stammen, können aber nur erstaunlich wenige von uns den tatsächlichen Produktionsstandort benennen. Sind transparentere – und fairere – Lieferketten möglich? Vielleicht. Wie der Chocolonely-Prozess jedoch belegt, würde es auch bedeuten, eine Menge Informationen ans Tageslicht zu bringen, bei denen viele Unternehmen große Geschicklichkeit entwickelt haben, sie zu verleugnen – ein Begriff, der in der Freudschen Tradition für die Weigerung steht, etwas zu sehen, was uns traumatisieren könnte.

 

Miriam Posner lehrt im Rahmen des «Digital Humanities»-Programms an der University of California, Los Angeles. Ihr Text erschien auf Englisch im «Logic Magazine» Nr. 4.