Publikation Parteien / Wahlanalysen - International / Transnational - Asien - Palästina / Jordanien - Westasien im Fokus Ein Schritt vorwärts, zwei zurück

Palästinensische Politik zwischen politischer Misere und historischer Tragik

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Autorin

Helga Baumgarten,

Erschienen

Juni 2019

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Hebron Style
Die Menschen in Palästina haben keine Erwartungen an die neue palästinensische Regierung unter Mohammad Shtayyeh. Laut aktuellen Umfragen räumt man ihm kaum Chancen ein, irgendwelche positiven Veränderungen durchsetzen zu können. Hebron Style (Straßenszene in Hebron), CC BY-SA 2.0, Montecruz Foto

Mitte April 2019 wurde in Ramallah die von Rami Hamdallah angeführte «Regierung des Nationalen Konsenses» abgelöst durch eine neue Regierung mit Mohammad Shtayyeh, Fatah, als Premierminister. Shtayyeh scheiterte mit seinem Versuch, ein Kabinett zu bilden, an der alle politischen Kräfte, von Hamas über die Linke bis hin zur Fatah, mitarbeiten. Seine Regierung ist damit letztendlich eine Fatah-Regierung mit einigen unabhängigen Ministern sowie je einem Minister der «Palästinensischen Volkspartei» (ehemalige Kommunist*innen), der «Fida» (Abspaltung von der Demokratischen Front) und der «Palästinensischen Front des Volkskampfes» (winzige Splittergruppe, links-nationalistisch). Sowohl die Hamas in Gaza als auch die palästinensische Linke, also Volksfront und Demokratische Front, kritisieren Shtayyeh und beschuldigen ihn, die Spaltung zwischen dem Gazastreifen und der Westbank, zwischen Fatah und Hamas, zu vertiefen. Das ist einerseits richtig, andererseits darf nicht vergessen werden, dass sein Vorgänger Hamdallah lediglich theoretisch für den nationalen Konsens stand. In der Realität hat sich die Spaltung zwischen Gaza und der Westbank seit 2006 Jahr für Jahr vertieft und der Konflikt zwischen Fatah und Hamas parallel dazu massiv verschärft.

Erwartungen an die neue Regierung

Welche Chancen hat vor diesem Hintergrund der neue Premierminister und was kann er konkret erreichen? Die Erwartungen der palästinensischen Gesellschaft sind denkbar negativ wie aktuelle Umfragen zeigen. Man räumt ihm kaum Chancen ein, irgendwelche positiven Veränderungen durchsetzen zu können. Die Kritik macht sich dabei zum einen an der Dominanz der Fatah in der neuen Regierung fest sowie an der Ausgrenzung des Gazastreifens bzw. der Unfähigkeit oder mangelnden Bereitschaft, die politische und geographische Spaltung zwischen den beiden palästinensischen Teilgebieten zu überwinden. Shtayyeh kündigte inzwischen einige Veränderungen an, die auch schon konkret umgesetzt wurden: Die neuen Regierungsmitglieder werden zum Sparen, insbesondere auch im persönlichen Bereich, verpflichtet: Keine neuen Limousinen, keine Flüge in der Business- oder Ersten Klasse, Sparpolitik auf allen Ebenen. Das entscheidende Ziel Shtayyes dürfte jedoch der Versuch sein, in der palästinensischen Gesellschaft neues Vertrauen in ihre politische Führung zu schaffen. Dass er damit Erfolg haben wird, ist eher unwahrscheinlich.

Rolle des Präsidenten 

Schließlich liegt die Führung der palästinensischen Politik nach wie vor praktisch ausschließlich in der Hand von Präsident Mahmud Abbas. Er mischte sich offensichtlich massiv in die Regierungsbildung ein und verhinderte unter anderem, dass Shtayyeh den  Finanzminister der Regierung Hamdallah durch einen von ihm favorisierten Spezialisten ablöste. Nach Einschätzung von palästinensischen Insidern steht und fällt aber der Erfolg von Shtayyeh mit dessen Durchsetzung gegenüber dem Präsidenten. Abbas macht jedoch keinerlei Anstalten, seine autoritäre Kontrolle über die politische Elite, über die palästinensische Politik generell und über die Westbank als Ganzes zu lockern oder aufzugeben. Auch in der Frage der Nachfolge - immerhin wird Abbas in diesem Jahr 84 Jahre alt – zeichnet sich nicht ab, wer ihn ablösen könnte. Es werden zwar Namen gehandelt, aber es gibt schlicht keine*n designierte*n Nachfolger*in oder eine Führungspersönlichkeit, über die Konsens in der palästinensischen Elite, vor allem in der Fatah-Elite, bestünde. Damit stehen die Chancen für eine Transformation des autoritären Systems Abbas denkbar schlecht. Hinzu kommt ein kaum vorstellbarer abgrundtiefer Hass, den Abbas gegen die Hamas hegt. Dies wiederum macht eine Aussöhnung mit der Hamas und eine erneute Bindung zwischen dem Gazastreifen und der Westbank unmöglich. Andererseits fordert die palästinensische Gesellschaft von ihrem Präsidenten sowie von der neuen Regierung genau das: die Aussöhnung zwischen Fatah und Hamas und ein klares Bekenntnis zur Einheit von Gazastreifen und Westbank. Dafür steht nicht zuletzt auch die palästinensische Linke (siehe Interview mit Mustafa Barghouti im Dossier Westasien).

Forderungen der palästinensischen Gesellschaft

Im Mittelpunkt der aktuellen politischen Diskussion steht für die Palästinenser*innen derzeit jedoch die Frage, welche neuen Katastrophen der US-amerikanische sogenannte «Deal des Jahrhunderts» mit sich bringen wird für ihr Streben nach Freiheit und staatlicher Unabhängigkeit. In diesem Kontext ist die Reise von Abbas nach Qatar im Mai dieses Jahres zu sehen. Qatar war zu der «ökonomischen Konferenz» in Bahrein, die von den USA einberufen worden war, nicht eingeladen und die Palästinenser*innen hatten ihr eine klare Absage erteilt. Sie lehnen es ab, sich durch finanzielle Hilfen von ihren politischen Zielen abbringen zu lassen. Diese Haltung verbindet sie stärker mit Qatar, welches als Unterstützer der palästinensischen Sache gilt. Was den «Jahrhundert-Deal» betrifft, so herrscht innerhalb der palästinensischen Politik und Gesellschaft eine ablehnende Haltung. Konsens besteht darin, darauf zu beharren, allen Widerständen zum Trotze, einen unabhängigen Staat in Westbank, Gazastreifen und Ost-Jerusalem zu errichten. Innenpolitisch jedoch gibt es zahlreiche Konfliktlinien, so zeigen periodische Umfragen im Gebiet der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) deutlich, dass die Gesellschaft seit Jahren zwei zentrale Probleme massiv kritisiert, nämlich die Korruption in palästinensischen Institutionen und auf der Regierungsebene sowie die Sicherheitskooperation zwischen der PA und Israel. Außerdem wird Abbas scharf wegen seiner Politik der Sanktionen gegen den Gazastreifen kritisiert. Schließlich lehnt die Gesellschaft die Auflösung des 2006 gewählten Parlamentes durch Abbas im letzten Winter ab und betrachtet sie als illegal und als Verstoß gegen die palästinensische Verfassung.

Wahlen unter Besatzung

Das wirft die Frage nach Wahlen auf, genauer gesagt nach Wahlen im Kontext eines gewaltförmigen Besatzungssystems. Einerseits besteht seit Jahren ein Konsens in der palästinensischen Gesellschaft, dass Wahlen überfällig und baldmöglichst durchzuführen sind. Allerdings besteht die Mehrheit der Bevölkerung darauf, dass, wenn es Wahlen gibt, diese gleichermaßen in der Westbank, im Gazastreifen und in Ost-Jerusalem abgehalten werden müssen. Dies wiederum erachtet die große Mehrheit der Menschen als unwahrscheinlich. Man glaubt nicht, dass Abbas mit Blick auf den Gazastreifen zu Zugeständnissen bereit ist und man geht davon aus, dass Israel keine Wahlen in Ost-Jerusalem erlaubt. Aus diesem Grund optiert wiederum eine Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung derzeit gegen die Durchführung von Wahlen. Dahinter verbirgt sich ein komplexes Stimmungsbild: Zwar werden in den Umfragen einerseits Wahlen gefordert, gleichzeitig wird deren Durchführung aber als unwahrscheinlich betrachtet. Zudem würde eine beträchtliche Mehrheit, selbst wenn alle Bedingungen erfüllt sind, nicht wählen gehen. Die öffentliche Meinung spiegelt hier sehr deutlich die Problematik von Wahlen unter den Bedingungen von Besatzung, unter der Palästinenser*innen seit langen Jahren leben müssen, wider. Was nützen Wahlen, wenn der Souverän nicht das gewählte Parlament, sondern vielmehr eine Besatzungsmacht ist? Und was sollen Wahlen verändern, wenn die Mehrheitsverhältnisse sich seit 2006 nicht wirklich geändert haben, also der Patt zwischen Fatah und Hamas weiterbesteht und die Wahrscheinlichkeit, dass Hamas die Wahlen wieder gewinnen wird, relativ groß ist? Damit wäre man zurück beim Status quo ante: Die Palästinenser*nnen wählen, aber die Mächte, die ihre Geschicke kontrollieren, also Israel und in zweiter Linie die ominöse «internationale Gemeinschaft», heißen diese Wahlen nicht gut und erkennen – in altbekannter kolonialer Manier – die Ergebnisse nicht an.

Wie umgehen mit der festgefahrenen Situation?

Welche Optionen haben die Palästinenser*innen unter diesen Bedingungen, gerade auch unter der neuen Regierung Shtayyeh? Eine Möglichkeit, und vielleicht derzeit die dominante Option in der Gesellschaft, ist es, sich auf sich selbst, die eigene Familie, das Privatleben, das individuelle Fortkommen zu konzentrieren, aus dem Erleben heraus, dass man an der generellen Lage, an den bestehenden Machtverhältnissen doch nichts ändern kann. Die palästinensische Linke versucht hier entgegenzusteuern, allerdings mit nur punktuellen Erfolgen. In immer neuen Anläufen kritisiert man die Regierung Abbas, drängt man auf Einhaltung der Verfassung, nimmt man die Forderungen aus der Gesellschaft auf und fordert eine Aussöhnung mit der Hamas und versucht man, partizipatorische Spielräume zu vergrößern. International setzt die palästinensische Linke in ihrem Widerstand gegen die Besatzung auf die Bewegung «Boycott, Divestment, Sanctions» (BDS). Die Unterstützung dafür aus Südafrika und generell aus dem globalen Süden ist überwältigend. Das Gegenteil trifft für den Norden des weltweiten kapitalistischen Systems zu. Mit Entsetzen reagierte die palästinensische Linke – und mit ihr große Teile der israelischen Linken – sowie die palästinensische politische Führung auf den jüngsten Mehrheitsbeschluss des deutschen Parlamentes, in dem die BDS-Bewegung als antisemitisch abgestempelt wurde. Palästinenser*innen vermissen aus Deutschland, zumindest von der deutschen Linken, Solidarität für den Widerstand gegen ein Jahrzehnte andauerndes gewaltförmiges Besatzungssystem, für den Widerstand gegen systematische Verletzungen internationalen Rechtes, für die Einforderung von Menschenrechten, von Freiheit und Demokratie. Die palästinensische Linke kann da den Genoss*innen in Deutschland nur mit Rosa Luxemburg antworten: Trotz alledem!
 

Helga Baumgarten, Politologin und Historikerin,  ist affiliiert mit der Universität Birzeit in der Westbank, an der sie lange Jahre gelehrt hat. Ihre Publikationen thematisieren den Nahostkonflikt, die palästinensische Nationalbewegung, den politischen Islam und politische Transformationsprozesse in Westasien. Auf Deutsch erschienen zuletzt von ihr «Kampf um Palästina: Was wollen Hamas und Fatah?“» (Herder Verlag, 2014) sowie der Artikel «Das System Oslo» (INAMO 79, 2014).