Publikation International / Transnational - Asien - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Corona-Krise - Westasien im Fokus Von tödlichen Wasserhähnen und fiktiven Krankenhäusern

Der Irak in der Corona-Krise

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Ansar Jasim,

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«Streik ist deine Ablehnung der Korruption» (November 2019 auf dem Tahrir-Platz in Bagdad)

Bild: Ansar Jasim

Während andere Länder bereits die Spitze erreicht haben, scheint der Irak nach anfänglichen Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen mit täglich mehr als 1000 Neuinfektionen in diesen Tagen die zweite Ansteckungswelle zu erleben. Der Irak hat eine tragische Geschichte im Bereich der Umweltzerstörung und Gesundheitsversorgung, welche das Land noch anfälliger macht für die derzeitige Corona-Krise.

Viele Krankheitsfälle werden nicht aufgezeichnet, denn im Irak gibt es kaum einen Sektor, dem so wenig Vertrauen entgegengebracht wird wie der Gesundheitssektor. In der Corona-Krise kommt zusammen, was für viele Iraker*innen bereits offensichtlich ist: wie die Ausbeutung der lokalen Ressourcen durch internationale Firmen und durch die nationalen Eliten die notwendige Infrastruktur zerstört, um Krisen standhalten zu können.

Den Zusammenbruch von Iraks Gesundheits- und Umweltsystem zu verstehen, ist wichtig, um die Ausgangssituation des Landes in der derzeitigen Epidemie zu verstehen. Dies erfordert, dass man sich Dekaden von Krieg, Ressourcenausbeutung und massiver Korruption, die durch das nach 2003 etablierte Machtverteilungssystem gefördert wird, genau anschaut.

«Jetzt töten uns selbst die Wasserhähne»

Die WHO definiert ein «Gesundheitssystem» als alle Aktivitäten, dessen primärer Zweck die Förderung, Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit ist. Die Wasserversorgung gehört somit eindeutig zu den Corona-Präventivmaßnahmen. Aber wie ist es um die Wasserversorgung im Irak bestellt?

«In Basra waren die ganzen Kriege nicht genug, uns zu töten. […] Jetzt töten uns selbst die Wasserhähne, jene Wasserhähne, die die Wasserquelle unserer Häuser sind», wird Khalid Tawfiq Hadi von der BP (British Petroleum)-kritischen Kampagne «Behind the Logos» zitiert. Die Wasserressourcen stehen unter Druck: Potentiell stehen 66Prozent des Restwassers des Tigris-Flusses zur Nutzung durch die Ölprovinz in Basra zur Verfügung. BP selbst nutzt große Mengen Wasser, um die Ölproduktion im Rumaila-Ölfeld am Laufen zu halten. Dank einer gesteigerten Zuführung von Wasser, über 720.000 Barrel pro Tag (bpd) in den Jahren 2016 und 2017, konnte BP seine Produktion mehr als verdoppeln. Es werden jedoch lokale Wasserressourcen nicht nur ausgebeutet, sondern auch aktiv verschmutzt.

Ein unabhängiges zivilgesellschaftlich geleitetes Fact-Finding-Team erstellte 2018 den Humanitarian Situation Report. Es stellte zum ersten Mal Fakten zum Ausmaß der Wasserverschmutzung in Basra fest, welche alleine 2018 zur Erkrankung von über 100.000 Personen geführt hatte. Zudem liegen erhöhte Krebs- und Asthmaerkrankungen vor, ebenso wie Geburtendefekte und Allergien bei Menschen, die in der Nähe von Ölförderungsanlagen lebten. Wasserproben aus Basra haben das Wasser als nicht «für den menschlichen Konsum» geeignet beschrieben. Der Salzgehalt sei 20-mal höher als von der irakischen Regierung empfohlen und somit toxisch: der Salzgehalt komme nicht vom Salzwasser, das durch den Arabischen Golf einströmt, sondern durch industrielle und petrochemische Abfälle. Der Bericht weist darauf hin, dass die Ölfirmen in Basra kontaminierte Materialien nicht ordnungsgemäß beseitigen, sondern direkt im Fluss Schatt al-Arab entsorgen oder durch die regulären Abwasserkanäle der zivilen Infrastruktur. 2018 habe Basras Gesundheits- und Umweltkomitee pro Tag vier neue Krebsfälle aufgrund der mit der Ölindustrie zusammenhängenden Luftverschmutzung registriert. Irakische Medien, die über solche Vorfälle berichteten, seien Bedrohungen ausgesetzt – auch weil die politischen Parteien mit den internationalen Firmen verbunden seien. Es scheint deutlich, dass das irakische Ölministerium weder Interesse noch einen Mechanismus hat, die Ölfirmen an das Gesetz zur Verbesserung der Umwelt und ihres Schutzes (Gesetz Nr. 23/ 2009) zu binden. Bei den monatelangen Demonstrationen 2018 in Basra waren auch die Felder von BP und Exxon Mobile von Protesten betroffen. Präventivmaßnahmen gegen Corona sind für die Einwohner*innen von Basra aufgrund der fehlenden Versorgung mit sauberem Wasser somit fast unmöglich.

Vom Niedergang der Gesundheitsversorgung

96,4 Prozent der Iraker*innen haben keine Krankenversicherung. Die Menschen haben zwei Optionen: sie können zur Behandlung ins Ausland gehen oder aber sie begeben sich in die von der Zentralregierung finanzierten Krankenhäuser. Erstere Option ist im Kontext der Mensch-zu-Mensch Übertragung von Corona nicht zielführend und aufgrund der geschlossenen Grenzen zudem nicht praktikabel. Eine nationale Krise wie die Corona-Epidemie zeigt, dass dieser Coping-Mechanismus, der nur die individuelle Gesundheit betrifft, keine Lösung für eine Epidemie ist: es braucht ein universelles Gesundheitssystem. Daneben gibt es noch private Klinken, die aber aus eigener Tasche bezahlt werden müssen. Ein Kaiserschnitt kostet etwa 600 USD, eine einfache Einlieferung oft schon 300 USD – für die meisten Haushalte unerschwinglich. Zudem gibt es keine gesetzlichen Regulierungen für die privaten Krankenhäuser. Eine Behandlung durch den privaten Gesundheitssektor bei Corona-Erkrankung ist für die meisten also unerschwinglich. In staatliche Krankenhäuser besteht jedoch kaum Vertrauen. Das hat gute Gründe.

Der Irak hatte nach dem Sturz der Monarchie 1958 ein universelles Gesundheitssystem aufgebaut. In den siebziger und achtziger Jahren erreichte die medizinische Grundversorgung ungefähr 90 Prozent der Bevölkerung, finanziert durch die wachsenden Öleinnahmen. Der Irak hatte in den siebziger Jahren ein funktionierendes Wasser- und Abwassersystem und auch ein Stromnetzwerk, an das ein wachsender Teil der irakischen Bevölkerung angeschlossen war. In den siebziger Jahren wurde ein sehr zentralisiertes Gesundheitssystem aufgebaut, in dem das Gesundheitsministerium die Planung auf allen Ebenen vornahm und die Gesundheitsdirektionen diese auf lokaler Ebene verwaltete. Kapazitäten und Ressourcen waren auf Bagdad konzentriert.

Laut den Daten des Gesundheitsministeriums verfügte der Irak 1989 über 172 staatliche Krankenhäuser und 1200 Center für medizinische Grundversorgung bei einem jährlichen Budget von 450 Millionen USD. Der Iran-Irak-Krieg von 1980-1988, den Saddam Hussein nur ein Jahr nach seinem Machtantritt begonnen hatte, führte vor allem dazu, dass das Staatsbudget andere Bereiche mehr begünstigte als den Gesundheitsbereich. Die Ausbildung von gut trainierten Spezialist*innen in den achtziger Jahren muss auch im Kontext des Iran-Irak-Kriegs gesehen werden, aufgrund der schieren Menge an Verletzten brauchte der Irak mehr chirurgische Spezialist*innen. Dies ging aber auch einher mit massiven Einschränkungen für die Ärzt*innen, u.a. Ausreiseverbote, um einen brain drain zu verhindern.

Die Folgen der Sanktionen

Die amerikanischen Bombardierungen im Zuge des sogenannten Golfkrieges von 1991 zerstörten gezielt die Infrastruktur: Krankenhäuser, Kläranlagen und Stromanlagen. Die Resolution 661 von 1990 schränkte die irakischen Im- und Exporte massiv ein. Dies betraf auch den Verkauf von Erdöl, der 90 Prozent des irakischen BIP ausmachte. Mangelernährung und medizinische Unterversorgung prägten die über 13 Jahre dauernde Sanktionsperiode, die bis 2003 anhielt. Aus medizinischer Perspektive hatte dies Langzeiteffekte, die auch die nachfolgenden Generationen betreffen. Aufgrund der mangelnden Öleinnahmen wurde das Budget des Gesundheitsministeriums bis zu 91 Prozent auf lediglich 16 Millionen USD gekürzt. Gehälter von Ärzt*innen fielen auf ca. 30 USD/ Monat und weniger, Krankenpflegepersonal verdiente nicht mehr als fünf USD. Es gab einen regelrechten Exodus von Arbeiter*innen im Gesundheitsbereich.

Der Krieg von 2003 und seine Auswirkungen

Weder vor noch nach der amerikanischen Invasion von 2003 wurden irakische Gesundheitseinrichtungen geschützt: 7 Prozent wurden während der Invasion zerstört, 12 Prozent durch anschließende Plünderungen. Der Verfall der medizinischen Infrastruktur ist nicht einfach Ergebnis der Situation nach 2003, sondern erscheint eher einem gezielten Vorgehen der Shock and Awe-Strategie (Naomi Klein) geschuldet.

Der Entbaathifizierungsprozess der USA im Irak tat sein Übriges: in diesem Prozess wurden 20-120.000 Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen. Ein Drittel der Beschäftigten des Gesundheitsministeriums kam nach dem Erlass der Entbaathifizierungsrichtlinie[1] nicht mehr zur Arbeit.[2]

Die Zentralisierung des Gesundheitsbereichs betraf auch die Versorgungsseite: Medikamente und medizinisches Zubehör durften und dürfen ausschließlich über die 1964 gegründete KIMADIA (State Company for Marketing Drugs and Medical Appliances) gekauft werden. Staatliche Krankenhäuser und Ärzt*innen sind bis heute offiziell darauf angewiesen, dass bestimmte Medikamente von KIMADIA gekauft werden, tatsächlich aber enthält die Medikamentenliste nur vier der 59 für die Krebstherapie essentiellen Medikamente, und 2019 etwa hat die Regierung sogar lediglich 37 der 59 aufgelisteten Medikamente gekauft. Dies führt dazu, dass den Krankenhäusern wesentliche Medikamente fehlen und ein blühender informeller Medikamentenmarkt entstand: 40 Prozent der Medikamente auf dem irakischen Markt sind Schmuggelware. Irakische Firmen bedienen mit veralteter Technik lediglich acht Prozent der Nachfrage. Ärzt*innen kaufen oft selbst Medikamente für ihre Patient*innen, obwohl sie gesetzlich nur jene Medikamente nutzen dürften, die aus dem Krankenhaus selbst kommen. Alles andere ist illegal.

Ein weiterer Schritt, der die Versorgung mit Medikamenten eingeschränkt hat, war der systematische Versuch der Coalition Provisional Authority (CPA), den irakischen Markt mit amerikanisch-produzierten Medikamenten zu überströmen: hierzu wurde die vom Gesundheitsministerium erlassene nationale Arzneimittelliste überarbeitet. Enthielt sie vorher vor allem Medikamente aus der regionalen Produktion, so verlangte die CPA vom US-Verteidigungsministerium (statt von der WHO) eine «Verbesserung» der Liste. Die Anzahl der Medikamente wurde massiv reduziert und auf Medikamente des US-amerikanischen und europäischen Markts zugeschnitten. Allerdings wurde dieser Schritt nach der Übergabe der CPA an die irakische Übergangsregierung vom Gesundheitsminister rückgängig gemacht.

Ein Posten der Bereicherung: das Gesundheitsministerium und das Muhassasa al-ta´ifiya- System

Vom nationalen Budget hat der Staat im Jahr 2019, einem Jahr der relativen wirtschaftlichen Stabilität für den Irak, lediglich 2,5 Prozent des 106,5-Milliarden-Budgets dem Gesundheitsbereich zugewiesen. Im Vergleich haben die Sicherheitskräfte 18 Prozent bekommen und das Ölministerium 13,5 Prozent. Im regionalen Vergleich liegt der Irak mit der Investition von lediglich 161 USD pro Kopf somit noch einmal weit hinter den Nachbarn Jordanien und Libanon. Aber ist das überhaupt relevant für die tatsächliche Gesundheitsversorgung?

Im Irak sind die Posten von Ministerien integrierter Teil der politischen Ökonomie des nach 2003 eingeführten Muhassasa-Systems, des informellen Quotensystems, eingerichtet durch die USA und finanziert durch Iraks Ölrenten: der sogenannten konfessionellen Machtteilung basierend auf einem klientelistischen System. Es ist die Strategie des Staates, Machtressourcen zwischen den regierenden Parteien durch eine Quote aufzuteilen. Die Gruppen erhalten den ihrer politischen Repräsentation entsprechenden Prozentsatz an Ministerien: das Budget der Ministerien wird entsprechend dem Wahlerfolg der Parteien, die die Ministerien kontrollieren, aufgeteilt.

Dieses System durchzieht das gesamte politische und wirtschaftliche Feld und macht auch vor dem Gesundheitsministerium nicht halt. Es wird in zwei Bereichen deutlich sichtbar: Erstens werden Jobs im Sinne eines Patronagesystems geschaffen. Die «Klient*innen» der politischen Parteien bekommen eine Anstellung in einem Ministerium oder den ministerialen Firmen im Gegenzug für Loyalität. Zweitens kommt es zu Betrug bei Verträgen: die Politiker*innen, die ein Ministerium kontrollieren, schließen Verträge mit Firmen ab, die sie entweder selbst kontrollieren oder die durch ihre Verbündeten kontrolliert werden. Somit kommt es, dass die Ministerien oft Verträge mit Angehörigen der Parteien schließen, die eben jenes Ministerium kontrollieren. Der Politikwissenschaftler Toby Dodge erklärt, dass diese so erhaltenen Ressourcen eine fundamentale Quelle der Finanzierung der politischen Parteien und Milizen darstellen, die das politische Feld im Irak kontrollieren. Er schätzt, dass diese Formen von Korruption ungefähr 50 Prozent des Staatseinkommens verschlingen.

Bereits 2006 wurden die Sadristen[3] für ihre Unterstützung für Nuri al-Maliki[4] als neuem Ministerpräsidenten mit verschiedenen ministerialen Portfolios belohnt, so auch dem Gesundheitsministerium: über Korruption füllten sie ihre Taschen, und das Ministerium wurde mit Loyalist*innen Sadrs besetzt, es wurden auch Kämpfer der Sadr-loyalen Jaish Al-Mahdi in großer Zahl in den Facilities Protection Services der Ministerien, die sie kontrollierten, beschäftigt[5]. Dies führte dazu, dass Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen in den folgenden konfessionellen Spannungen zu «militarisierten Outposts» wurden und dass Krankenhäuser im Sinne konfessionalistischer Ideologie funktionalisiert wurden: in solchen Einrichtungen wurden als sunnitisch gelesene Personen nicht behandelt.

Wie massiv die Korruption ist, lässt sich anhand der Gesundheitsministerin der Islamischen Da´wa-Partei (2014-2016), Adeela Hamoud, nachvollziehen. Nach dem Brand in einer Entbindungsstation in Bagdads größtem Krankenhaus, dem Yarmouk Krankenhaus, bei dem elf Babys ums Leben kamen, war sie gezwungen zurückzutreten, was ihr den Spitznamen «Ministerin des Todes» eingebrachte. Ein weiteres geflügeltes Wort sind «die Slipper von Adeela», was auf ein korruptes Geschäft zurückgeht, bei dem sie für 900 Millionen USD medizinische Schuhe aus Portugal zum Preis von 27 USD pro Stück kaufte, während der eigentliche Wert auf 2 USD geschätzt wurde. Weitere Deals umfassen die Vergabe von Aufträgen mit einer 15-Prozent-Kommission an Firmen, deren Inhaber Teil des parlamentarischen Gesundheitskomitees sind. Die Liste geht endlos weiter: ein 400-Millionen-Geschäft zur angeblichen Ausstattung von Krankenhäusern mit medizinischem Equipment. Hier wurden mehrere Verträge mit scheinbar unterschiedlichen Firmen mit verschiedenen Namen geschlossen, die jedoch alle den gleichen Besitzer (Emad Mausumi) haben. Auf die Kappe der Ministerin geht auch der Bau von drei fiktiven Krankenhäusern mit Kosten in Höhe von 400 Millionen USD.

Der Skandal wurde erst nach den Wahlen 2018 aufgedeckt. Der neue Gesundheitsminister war ein parteiloser Technokrat, der auf Druck der Straße – nach monatelangen Demonstrationen – eingesetzt wurde. Er besuchte die angeblichen Krankenhäuser und fand stattdessen brachliegendes Land, eine Müllhalde und ein Bauskelett vor. Adeela floh derweil nach Jordanien, um einer möglichen Strafe zu entgehen, und droht von dort aus, dass sie bei einer Rückkehr in den Irak mit den schmutzigen Geschäften aller Minister*innen aufräumen werde. Keine Überraschung, dass seit Jahren auf den Demonstrationen im Irak der Slogan «Im Namen der Religion habt ihr uns bestohlen» ertönt.

Medizinisches Personal und die Revolution in Zeiten von Corona

Aufgrund der mangelnden Ausstattung und schlechten Situation in den Krankenhäusern sowie der bescheidenen Gehälter der Ärzt*innen (ein*e Ärzt*in in einem staatlichen Krankenhaus verdient derzeit ca. 700 USD) wundert es nicht, dass sie immer wieder zu Demonstrationen und Streiks aufrufen. Bereits im Juli und September 2019, also über zwei Monate vor dem Ausbruch der Oktoberrevolution im Irak, protestierten die Ärzt*innen vor dem Gesundheitsministerium, verlangten höhere Gehälter und ein größeres Budget für den Gesundheitssektor. Im Februar 2020 wollten sie dann die Krankhäuser bestreiken, um ein Zeichen gegen die enorme Korruption im Gesundheitsministerium zu setzen. Sie verschoben den Streik aber auf März, um dem Gesundheitsministerium mit dieser Warnung die Möglichkeit zu geben, auf ihre Forderungen zu reagieren, wie aus ihrem Statement hervorgeht. Aber dann kam Corona dazwischen.

Die Ärzt*innen sehen ihre Demonstrationen und Streiks als einen der Funken der irakischen Oktoberrevolution, und tatsächlich schlossen sie sich direkt den landesweiten Protesten und Protestcamps an und begannen selbstorganisiert auf den Plätzen des Landes eine medizinische Versorgung aufzubauen. «Als Aktive im Gesundheitsbereich war klar, dass wir nun unsere Rolle ausfüllen mussten. Meine Rolle war für die Protestierenden auf den Straßen, Material zur Prävention zu besorgen: Gesichtsmasken gegen das Gas, mit dem wir beschossen wurden, Handschuhe, damit wir die Gaskanister fangen und wegwerfen könnten», erzählt Naziah, 27 Jahre alt, die im Gesundheitsministerium angestellt ist. «Wir haben überall medizinische Miniklinken aufgebaut», berichtet sie weiter.[6] Die Oktoberrevolution lässt sich in viele kleine Revolutionen unterteilen: so wie die Kulturschaffenden das Kinozelt geschaffen haben, in dem sie den Aufbau einer korruptionsfreien und von unten geleiteten Kulturszene diskutieren und kreieren wollen, so scheint das auch im Gesundheitsbereich ähnlich zu sein. In der Erklärung der Streikankündigung der Ärzt*innen heißt es: «Wir akzeptieren nicht mehr, Partner*innen im Leid und dem Schmerz zu sein. […] Wir akzeptieren die Politik der Hörigkeit nicht mehr. Wir werden nicht mehr einfach den Tränen der Familien zuschauen, [die Angehörige verlieren] aufgrund der gescheiterten Leitung des Gesundheitssystems.»

Eine Kampagne von feministischen Aktivist*innen auf dem Tahrir-Platz machte auch darauf aufmerksam, wer die Kosten der derzeitigen Corona-Krise trägt. Innerhalb der «Internationalen Woche des Kampfes gegen den Imperialismus» waren sie Teil einer Kampagne unter dem Hashtag #WerTrägtDieKostenFürCorona und riefen zu Solidarität mit den Arbeiter*innen auf, die die größte Last in dieser Krise trügen.

Das System gerät ins Wanken, Arbeiter*innen fordern weiterhin ihre Rechte

Die Wirtschaftskrise, die mit Corona ausgelöst wurde, bringt auch das Muhassasa-System ins Wanken, da aufgrund der fehlenden Erdölrenten das Patronagesystem nur schwer aufrechterhalten werden kann. Jeder Dollar, um den der Preis für Rohöl fällt, reduziert das Staatseinkommen um 1,25 Milliarden USD, was laut einer Studie der Arab Reform Initiative zu einem Verlust von 41,5 bis 52,5 Milliarden USD für den Irak in den nächsten 12 Monaten führen wird. Da das System somit keine Ressourcen hat, um sich Loyalitäten zu erkaufen, ist davon auszugehen, dass in den nächsten Monaten eher eine größere Repression zu sehen sein wird, da das System keine andere Möglichkeit als diese sieht, auf die immer weitgehenderen Forderungen der Protestierenden zu antworten.

Schon jetzt reagiert das System mit Entlassungen und dem Stopp von Gehaltszahlungen. So wurden bereits 10.000 bis 15.000 Arbeiter*innen der ungefähr 80.000 Arbeiter*innen der Erdölindustrie (Sicherheit und Transport einbezogen) entlassen – trotz Arbeitsverträgen. Wohlgemerkt handelt es sich hierbei um die nationalen Partner*innen der internationalen Firmen, die im Irak in der Erdölförderung aktiv sind. Ebenso streiken die Reinigungskräfte in der Provinz Wasit, nicht nur gegen die Korruption, sondern auch für die Anwendung der Entscheidung Nr. 315/ 2019 des Parlaments, durch die Tagelöhner*innen feste Verträge bekommen sollten. Interessant ist, dass diese Entscheidung 2019 wohl auf Druck der Straße hin gefallen ist, nun aber gerade in diesen Krisenzeiten die Umsetzung der Entscheidung eingefordert wird. Zudem wird ein Gesetz für einen Mindestlohn von mindestens 320 USD/ Monat gefordert. Gerade in der jetzigen Krise sind die Reinigungskräfte jene, die an vorderster Front dem Virus ausgesetzt sind und sich nicht mit leeren Versprechen besänftigen lassen.

Verantwortungen sind einfach zu benennen und dürfen nicht verdeckt werden unter unklaren Begriffsbestimmungen wie Umweltzerstörung und Korruption: Die Verursacher der Umweltzerstörung in Basra können eindeutig benannt werden. Wie fatal diese Zerstörungen kurz- und langfristig sind, wird derzeit deutlicher denn je, steht nun den Bewohner*innen von Basra ja nicht einmal sauberes Wasser zur Verfügung, um den Minimalschutz durch Hygiene zu erfüllen. Gleichzeitig lässt sich die Performanz des Gesundheitssektors nicht einfach mit einer Erhöhung des ministerialen Budgets oder internationalen Hilfsgeldern verbessern. Es ist eindeutig ein strukturelles Problem der Ordnung nach 2003. Die Protestierenden und Streikenden, die dem ein Modell von Selbstorganisation entgegensetzen, müssen von uns unterstützt werden.


[1] Die Verfügung Nummer 1 der CPA-Entbaathifizierungsrichtlinien von Mai 2003 löste die Baath-Partei auf und entließ nicht nur die vier höchsten Stufen der parteiinternen Hierarchie aus dem Staatsdienst, sondern belegte sie auch mit einem künftigen Beschäftigungsverbot im öffentlichen Sektor. Der öffentliche Sektor war einer der wichtigsten Arbeitgeber im Irak.

[2] Dodge, T. (2013) Iraq: From war to a new authoritarianism, Kapitel 4.

[3] Anhänger*innen des schiitischen Geistlichen und Milizenführers Muqtada as-Sadr.

[4] Politiker der Islamischen Dawa-Partei und von 2006-2014 irakischer Ministerpräsident.

[5] Dodge, T. (2013) Iraq: From war to a new authoritarianism, Kapitel 2.

[6] Gemeinsames Interview der Autorin mit Schluwa Sama, November 2019, Bagdad.