Die ehemaligen Länder der Böhmischen Krone (Böhmen, Mähren und tschechisches Schlesien) waren vom Zweiten Weltkrieg ganz anders betroffen als die anderen Staaten Mittel- und Osteuropas, zu denen sie heute allgemein gehören. Im Gegensatz zu ihnen und insbesondere zu Polen, der Ukraine, Belarus, dem Baltikum und Russland hatte der Krieg im sog. Böhmischen Becken unvergleichlich weniger katastrophale Folgen.
Dr. Jaromír Mrňka. Institut für das Studium der totalitären Regime, Prag. Karlsuniversität - Zentrum für transdisziplinäre Erforschung von Gewalt, Trauma und Gerechtigkeit.
Der Vernichtungskrieg im Osten wirkte sich eher indirekt auf die Böhmischen Länder aus, und die Frontkämpfe selbst kamen dort erst im Frühjahr 1945 an. Die tschechische Kriegserfahrung war eher mit dem schmerzhaften Verlust der staatlichen Unabhängigkeit verbunden, zu deren neuralgischem Punkt die tschechisch-deutsche ethnisch gemischte Grenzregion der böhmischen Kronländer wurde. In diesem Sinne dauerte der Krieg hier viel länger als in anderen Teilen Europas. Er begann 1938 und endete erst mit dem Abschluss der Vertreibung der dort ansässigen Deutschen im Jahr 1946. Besetzungspolitik konzentrierte sich in den böhmischen Kronländern hauptsächlich auf die Nutzung lokaler Rohstoffressourcen, der wirtschaftlichen Produktionskapazitäten und die Ausbeutung der Arbeitskräfte. Durch die Auslöschung der Zentren des organisierten Widerstands und die Unterbindung weiteren Widerstands zwangen die Nazis den Rest der Gesellschaft gehorsam zusammenzuarbeiten. Die meisten Tschechen waren während des Zweiten Weltkriegs nicht an der Front, sondern arbeiteten in der Kriegsindustrie, und versuchten, irgendwie zu überleben.
Die Tschechoslowakei war bereits im Herbst 1938 zu einem der ersten Opfer der Expansion des Deutschen Reiches geworden, als sie gezwungen wurde, die böhmisch-mährische Grenzregion abzutreten. Die Idee des ersten Präsidenten, Tomáš Garrigue Masaryk, dass das demokratische Konzept des tschechoslowakischen Volkes, das auf humanistischen Politik beruht, die Unterschiede zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen überwinden würde, war damit definitiv am Ende. Seit Anfang der 1930er Jahre war der tschechoslowakische Staat bei der Bekämpfung der Folgen der großen Wirtschaftskrise und insbesondere bei der Abfederung von deren sozialen Folgen, die in den ethnisch gemischten Grenzgebieten besonders groß/gravierend waren, gescheitert. Teilweise führte die Unfähigkeit und teils auch die mangelnde Bereitschaft der Prager Zentralregierung, die Bedürfnisse der dort ansässigen Deutschen ernst zu nehmen, dazu, dass aus den sozialen Spannungen schnell Spannungen zwischen den Nationalitäten wurden. Die neu entflammte nationalistische Rhetorik, die zur Entstehung der sudetendeutschen Bewegung führte, wurde in Anbetracht der Erfolge Hitlers im benachbarten Deutschland «nazifiziert». Als sich Hitler nach dem Anschluss Österreichs 1938 auf die ihm verhasste Tschechoslowakei konzentrierte, die für ihn die Lebensunfähigkeit des Friedensvertrags von Versailles verkörperte, gewann sein sudetendeutscher Amtskollege Konrad Henlein für ihn die breite Unterstützung der ahnungslosen Deutschböhmen Deutschen für seinen Plan. Henlein gründete die Sudetendeutsche Heimatfront und war seit 1935 Führer der Sudetendeutschen Partei (SdP).
Durch die Eingliederung der sozialen Frage in das Programm der nationalen Unabhängigkeit stellte Henlein die Tschechen und Deutschen künstlich als uralte Erzfeinde gegeneinander und es gelang ihm auch, alle politischen Gegner ideologisch zu entwaffnen[1]. Die rechten Bürger- und Ständeparteien lösten sich nach und nach freiwillig in seiner Sudetendeutschen Partei auf, die wenige Monate nach Bekanntgabe ihres Sudetendeutschen Autonomieprogramms die Kommunalwahlen mit einem großen Vorsprung gewann.
Als letzte Verteidiger der republikanischen und demokratischen Werte konnten ihnen nur die deutschen Sozialdemokraten unter der Führung von Wenzel Jaksch widerstehen, denen es dennoch nicht gelang, die Mehrheit der Industriearbeiter, die die traditionelle Wählerschaft der Sozialdemokratie waren, von Henleins falschen Absichten zu überzeugen. Als im September 1938 nach den erfolglosen Sommerverhandlungen zwischen der Prager Regierung und den Henleinovci (Vertreter der SdP) in der Grenzregion Straßenunruhen ausbrachen, waren es die Mitglieder der sozialdemokratischen Republikanischen Wehr sowie der kommunistischen Antifaschistischen Wehr, die den sudetendeutschen Freikorps den größten Widerstand leisteten. Diese heutzutage fast vergessenen Helden des antifaschistischen Widerstandskampfes opferten ihr Leben neben Angehörigen der tschechoslowakischen Streitkräfte, die in den letzten Septemberwochen in die Grenzregion berufen wurden, als die Situation dort außer Kontrolle geraten war und sich in einen Bürgerkrieg zu wandeln drohte.
Die Vertreter der westlichen Verbündeten der Tschechoslowakei – Frankreich und Großbritannien – spielten in dieser Situation die Rolle nützlicher Idioten, die nämlich dachten, dass Zugeständnisse an Hitler die Bürger ihrer eigenen Länder vor einem weiteren verheerenden Krieg retten würden. Sie errichteten am 30. September 1938 in München ihr Denkmal für ihre naive Beschwichtigungspolitik, wo sie wohlweislich über den italienischen faschistischen Diktator Benito Mussolini mit Adolf Hitler ein Abkommen über die Übergabe des von Deutschen besiedelten tschechoslowakischen Grenzgebiets an das Deutsche Reich unterzeichneten. Die tschechoslowakischen Diplomaten waren nicht einmal zu den Verhandlungen geladen und die mobilisierte tschechische Armee war gezwungen, ohne einen einzigen Schuss das neue Reichsterritorium zu verlassen, nachdem sie über das Ergebnis der Verhandlungen informiert worden waren.
Hätten wir uns wehren sollen? Diese Frage der Auseinandersetzung ist für die tschechische Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs von zentraler Bedeutung. Und sie ist noch heikler, weil es hierauf keine eine zufriedenstellende Antwort gibt. Es bleibt eine Tatsache, dass sich die Tschechoslowakei der internationalen Entscheidung nicht widersetzte, weil sie dies auch gar nicht konnte. Andernfalls hätten deren Vertreter die Verantwortung für den Beginn eines Krieges übernehmen müssen, in dem sie völlig allein geblieben wären und riskiert hätten, dass ihr nicht gerade selbstverständlicher Staat von der Landkarte verschwindet. Wenn man «Münchner Verrat» ausspricht, dann ruft das bei vielen Tschechen heute noch immer den bitteren Beigeschmack von Hilflosigkeit hervor, da sie in ihrem kollektiven Gedächtnis das wohl größte Trauma ihrer jüngsten Geschichte darstellt.
Und nicht nur die Tschechen wurden «verraten». Die Deutschen im neu geschaffenen «Reichsgau-Sudetenland» verspürten die unsäglichen Folgen des Münchner Abkommens in Form des nationalsozialistischen Terrors viel früher als die Tschechen. Stille Zeugen waren die jüdischen Synagogen, die während der Reichsprogromnacht in Brand gesteckt wurden, aber auch unzählige Gegner des Nationalsozialismus aus den Reihen der Sozialdemokraten, Kommunisten und anderer Vertreter der Zivilgesellschaft oder Opfer der nationalsozialistischen «Rassenverfolgung» blieben vom Terror nicht verschont. Bei ihren Fluchtversuchen brachte der tschechoslowakische Staat sie allesamt unermüdlich über die neu gesteckte Grenze zurück, hinter der nur flüchtende Tschechen Schutz fanden. Die restlichen in der ehemaligen tschechoslowakischen Grenzregion verbliebenen Deutschen erwachten spätestens aus ihrem Traum vom Wohlstand unter dem Schutz des Reiches, als dieser zum Albtraum wurde und ihre Söhne in den Krieg ziehen mussten. Fast keiner dieser Opfer der Nazis und ihres Vernichtungskrieges wird gedacht. Die vertriebenen Deutschen machten sich nach dem Krieg zum kollektiven Opfer, aber sie beschuldigten viele Jahre lang eher den tschechoslowakischen Staat für ihre Nöte als Hitler-Deutschland und ihren übersteigerten Nationalismus. Und die Tschechen hatten eine ähnliche, aber gleichzeitig genau entgegengesetzte Geschichte. Viele wälzten die Schuld an der Zerschlagung ihres Staates und die Qualen der nachfolgenden nationalsozialistischen Besatzung auf die ehemaligen deutschen Nachbarn ab.
Der verstärkte Nationalismus wurde bereits unmittelbar nach dem Münchner Abkommen deutlich. Unter Kriegsgefahr schufen die Tschechen in den Überresten ihres Staates selbst eine nationalistische autoritäre Diktatur. Die stärkste Position wurde in den folgenden Monaten von einer politischen Strömung mit dem Vertreter der rechtsgerichteten Agrarpartei Rudolf Beran[2] eingenommen. Seine neue Partei der nationalen Einheit vertrat den Teil der Gesellschaft, der der nationalen Einheit und Aufrechterhaltung der Ordnung auf Kosten der Einschränkung der Freiheit zugeneigt war. Ihre politische Repräsentanz passte sich schnell dem Dritten Reich der Nazis an und veränderte in Abhängigkeit davon auch die interne Organisation des Staates, bspw. durch die Abschaffung des Parlamentes und der politischen Pluralität Die gesellschaftliche Spannung, die durch die angebliche demütigende Niederlage hervorgerufen wurde, löste Verachtung und Hass gegen die noch Verletzlicheren und Schwächeren aus. Noch vor der Besetzung war die Schattenseite der ersehnten nationalen Einheit die Verfolgung verschiedener sozialer Gruppen, was neben linken Gegnern oder Juden hauptsächlich Sinti und Roma und sog. Arbeitsscheue betraf. Die Vertreter der nationalistisch-konservativen Rechten begannen im Dezember 1938, Arbeitslager für sie vorzubereiten. Die Vertreter der Regierung von Beran versprachen sich davon sowohl die Verbesserung der Beziehungen zum gefürchteten Nachbarn, verloren aber auch das eigene Geschäft und mögliche Gewinne nicht aus dem Auge. Unter dem Deckmantel von Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit und Kriminalität schufen sie auch eine sprudelnde Quelle billiger Arbeitskraft und ein zweckmäßiges Instrument für die Verfolgung von Menschen, die ihrer Meinung nach keinen «ordentlichen Lebenswandel» führten.
Sie versuchten, jedwede Äußerungen von Feindseligkeit aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, die das NS-Reich als Provokation auslegen hätte können. Während die Sicherheitskräfte die antisemitischen Angriffe ignorierten, beobachteten sie jedoch genau die Kneipenscharmützel zwischen Tschechen und Deutschen oder die Manifestationen von Feindseligkeit gegenüber dem Dritten Reich. Den im tschechischen Hinterland lebenden Deutschen wurden keine Hindernisse bei der Umsetzung ihrer nationalsozialistischen Weltanschauung in den Weg gestellt. Man war eher wegen der Verteilung illegaler kommunistischer Flugblätter und anderer Vorwände für einen Konflikt mit den Nazis besorgt. Die weitere Entwicklung dieser kurzlebig und beschämenden tschechischen Nationaldiktatur wurde durch Hitlers Entscheidung beendet, die Tschechoslowakei endgültig auszulöschen. Nach der Unabhängigkeitserklärung der Slowakei, die zum Kriegsverbündeten des «Dritten Reiches» wurde, wurde das deutsche Protektorat im besetzten Böhmen und Mähren am 16. März 1939 ausgerufen. Die Nazis verwendeten hierbei vorsätzlich den Begriff des Protektorates, der von den westlichen Staaten in ihrer imperialistischen Kolonialpolitik häufig benutzt wurde, um die Weltöffentlichkeit vor einem schlechten Gewissen zu schützen, dass sie gegenüber diesem aggressiven Schritt in Richtung Krieg keinen Widerstand mehr leisteten. Die Situation verstärkte nur noch das tschechische Trauma von München, so dass sie gegen diesen endgültigen Verlust der Staatlichkeit wiederum nicht mehr ankämpfen konnten.
Daher beschlossen die Überbleibsel der politischen Vertretung, mit Staatspräsident Emil Hácha an der Spitze – einem Vorkriegsexperten für demokratisches Recht und nun ein gebrochener alter Mann, der naiv den Nazis diente, lieber doch der nationalsozialistischen Lüge über den angeblichen Schutz der tschechischen nationalen Interessen zu glauben. Als die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Gründung der Tschechoslowakei im Herbst 1939 zu öffentlichen, nationalen Demonstrationen und Protesten gegen die Besatzung wuchsen, bei denen tschechische Polizisten in die Menge schossen, wurde klar, dass die Nazis nicht beabsichtigten, mit jemandem zu verhandeln. Eine klare Antwort war die Schließung der tschechischen Hochschulen am 17. November 1939, begleitet von Verhaftungen im Rahmen der sog. Sonderaktion Prag, bei der über 1.200 Studenten in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt wurden. In der Zwischenzeit hatte sich in Paris bereits eine politische Exilinitiative gebildet, die ein Jahr später in London in eine tschechoslowakische Exilregierung umgewandelt wurde. Sie wurde vom letzten Präsidenten vor dem Münchner Abkommen, Edvard Beneš, angeführt, der nach dem Debakel seiner Bemühungen, die Tschechoslowakei zu erhalten, vor der faschistischen Gefahr ins Ausland geflohen war. Als sein Ziel erachtete er die diplomatische Annullierung des Münchner Abkommens und die Wiederherstellung der Tschechoslowakei innerhalb ihrer ursprünglichen Grenzen nach dem Krieg, woran er ab 1940 aktiv mit den vereinten Widerstandsorganisationen in den böhmischen Kronländern zusammenarbeitete.
Vernichtungskrieg in den Ostgebieten
Der Beginn des Vernichtungskrieges in den Ostgebieten wirkte sich auch erheblich auf die Lage im Protektorat Böhmen und Mähren aus. Um wichtige Kriegsproduktion und grundlegende Eisenbahnstrecken abzusichern, musste die nationalsozialistische Führung die tschechische Bevölkerung zu vollständigem Gehorsam zwingen und jedwede Sabotageversuche verhindern. Deshalb wurde im Herbst 1941 Reinhard Heydrich, der gefürchtete Architekt des nationalsozialistischen Sicherheitsapparats, an der Spitze der nationalsozialistischen Besatzungsverwaltung eingesetzt. Während nur weniger Monate des umgehend ausgerufenen Ausnahmezustands legte er zusammen mit der Gestapo, die bereits in den vorhergehenden Jahren lokale Geheimnetze gründlich aufgedeckt hatte, jegliches Potenzial für bewaffneten Widerstand vollständig lahm. Umfangreiche Verhaftungen, gefolgt von der Hinrichtung von 486 mutmaßlichen Widerstandsführern und der Verbringung weiterer 2.242 mit ihnen verbundener Personen in Konzentrationslager, versetzten die tschechische Öffentlichkeit in Angst und Schrecken. Dieser Terror war, wenn auch im Vergleich zu anderen besetzten Staaten unvergleichlich schwächer, bisher jedoch unvorstellbar und wirkte daher unerwartet lähmend. Die Vergeltung der Londoner Exil-Regierung bei der Suche nach Anerkennung durch die Alliierten war die Operation Anthropoid, bei der Ende Mai 1942 tschechoslowakische Fallschirmjäger Heydrich in Prag angriffen.
Das Ergebnis des bekannten Attentats auf einen der wichtigsten Vertreter des Deutschen Reiches in den böhmischen Kronländern war die endgültige Auslöschung jedweden organisierten Widerstands. Dem Kriegsrecht fielen neben den Bewohnern der ausradierten Gemeinden Lidice und Ležáky auch Hunderte zuvor festgenommener Widerstandskämpfer oder mutmaßlicher Anhänger der Fallschirmjäger oder Personen, die das Attentat begrüßten, zum Opfer. Insgesamt hatten die Nazis im Protektorat bis Juli 1942 weitere 1.585 Menschen hingerichtet, deren Namen zur Abschreckung mit Lautsprechern auf den Straßen ausgerufen und an Säulen ausgehängt wurden. Mit diesem Akt des Widerstandes ermöglichten sie sich die internationale Anerkennung der Exilregierung von Beneš und eröffnete dem Präsidenten den Weg, sich mit Joseph Stalin anzufreunden, den er als Hauptgaranten für seinen Plan zur Vertreibung der böhmischen Deutschen nach dem Krieg erwählte. Die verbleibenden Widerstandskämpfer im Protektorat zogen sich für die nächsten Jahre aufs Land zurück, wo sie vergeblich auf ausländische Unterstützung warteten, die sie jedoch von Beneš und den westlichen Verbündeten nie erhielten. Erst die sowjetischen Fallschirmjäger nahmen sich ihrer an, die gegen Ende des Krieges insbesondere im Osten der böhmischen Kronländer die Basis für den Partisanenkrieg zum Ende des Krieges bildeten.
Die tschechische Mehrheitsgesellschaft brachte sich nicht allzu sehr in den Widerstand ein und arbeitete mit gesenktem Haupt für das zusammenbrechende Großdeutsche Reich in der Kriegsindustrie. Die gewöhnlichen Tschechen waren am meisten damit beschäftigt, den Lebensunterhalt ihrer Familien aus den schwindenden Lebensmittelrationen zu gewährleisten, ohne sich dabei zu sehr auf die Nazi-Besatzer einzulassen. Sie beschränkten ihren Widerstand darauf, Witze über die Nazis und ihren Krieg zu reißen. Tapferere Tschechen versuchten sich an kleineren Sabotageakten in der Kriegsproduktion, deren Schwejkscher Ansatz am besten durch den Slogan «Arbeite langsam» beschrieben werden kann. Zu den häufigsten Kollaborationsmethoden gehörte neben der Anbahnung einseitig vorteilhafter Kontakte zu den Besatzern in der Regel auch die Anzeige verschiedener ähnlich fraglicher Widerstandshandlungen an die Besatzungsbehörden, am häufigsten jedoch direkt an die gefürchtete Gestapo. Am Ende entstand somit unter den Tschechen relativ leicht ein recht umfassendes Netzwerk bezahlter Vertrauter. Es gab jedoch auch diejenigen, die die Gestapo kostenlos mit Informationen belieferten, zum Beispiel zu jüdischen Nachbarn, die nicht den vorgeschriebenen gelben Stern trugen. Immerhin beweisen Ordner mit Hunderten von Anzeigen, die von den Besatzungsbehörden aufbewahrt wurden, dass viele Tschechen zu dem arisierten jüdischen Eigentum, wenn die Deutschen es denn zugelassen hätten, nicht Nein gesagt hätten.
Kriegsende
Die Tschechen erhoben sich erst im letztmöglichen Moment - Anfang Mai 1945 - zu einem Kampf gegen die Nazis. Da das Kommando der Wehrmacht bei der verzweifelten Verteidigung während des Rückzugs in der «Festung Böhmen und Mähren» wahrscheinlich aus der lokalen Bevölkerung keinen Widerstand mehr erwartete, ging man gegen die zivilen Anhänger der Partisanen und Aufständischen umso erbarmungsloser vor. Die Methoden des Vernichtungskampfes der Ostfront gelangten zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit den sich zurückziehenden Truppen ebenfalls in die böhmischen Kronländer. Bevor das sog. Dritte Reich endgültig zusammenbrach, gelang es Kämpfern spezialisierter Einheiten zur Bekämpfung von Partisanen, die mährischen Dörfer Zákřov oder Javoříčko auszurotten, und Soldaten der SS-Kampfgruppen massakrierten während der Niederschlagung des Prager Aufstands Dutzende Zivilisten, die sich versteckt hatten. Am Ende des Krieges machte sich die jahrelang aufgestaute Frustration der tschechischen Bevölkerung Luft, die nicht nur Hitlers Büsten zerschmetterten und Hakenkreuzfahnen verbrannten, sondern auch mutmaßliche SS-Männer auf Kandelabern in den Straßen von Prag anzündeten. Die Aufständischen und weitere tschechische Bewaffnete begannen, ihre ehemaligen deutschen Nachbarn zusammenzutreiben und brutal zu foltern, von denen nur wehrlose Frauen, Kinder und ältere Menschen im ehemaligen Fronthinterland zurückgeblieben waren. Auf dem Land wurden Partisanen zu Vollstreckern ähnlicher Vergeltungsmaßnahmen.
Zusammen mit der eintreffenden tschechoslowakischen Auslandsarmee wurden diese bewaffneten Personen von Frühjahr bis Sommer 1945, noch vor der internationalen Entscheidung über die Zwangsumsiedlung der deutschen Minderheiten, zu Vollstreckern der tschechischen ethnischen Säuberung. In der Grenzregion der böhmischen Kronländer, wo der Krieg angefangen hatte, ging er noch lange nach der angeblichen Befreiung weiter. Bis zum Herbst 1945 wurden 700.000 bis 800.000 Menschen gewaltsam aus den böhmischen Kronländern vertrieben, während weitere 30.000 bis 40.000 Menschen deutscher Nationalität ermordet wurden oder in direkter Folge ethnischer Gewalt verstarben.
Der Krieg in der Erinnerung
Das tschechische Erleben des Zweiten Weltkriegs war aufgrund des Fehlens des aktiven Kampfes eher passiv. Die nach dem Krieg folgende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wurde somit in mindestens zwei grundlegenden Fragen betreffs der kollektiven Selbstwahrnehmung grundlegend beeinflusst. Die Tschechen sahen sich in erster Linie als Verteidiger der Freiheit und Demokratie, die dem nationalsozialistischen Deutschland zum Opfer gefallen waren. Deshalb erhoben sie in ihrer nationalen Geschichte vereinzelte Helden auf den Thron, die tatsächlich aktiv gegen den Nationalsozialismus gekämpft hatten oder bestraften alle wahrhaften oder mutmaßlichen Verräter und Kollaborateure schwer. Da sie sich so verzweifelt nach Anerkennung ihres eigenen Leids sehnten, machten sie sich auch die Opfer der Nazi-Verfolgung zu eigen, die sie im Krieg eigentlich bereitwillig geopfert hatten. Zu den tschechoslowakischen Opfern des Zweiten Weltkriegs wurden somit offiziell auch die Opfer rassistischer Verfolgung unter den Sinti/Roma und Juden hinzugezählt, an deren Mord die Tschechen zwar keinen direkten Anteil hatten, aber in vielen Fällen den Besatzungsbehörden dabei behilflich waren. So bleibt die falsche Berauschung von den fast 350.000 tschechischen Opfern des Nationalsozialismus immer noch im öffentlichen Bewusstsein, von denen jedoch über 270.000 Menschen Opfer rassistischer Verfolgung durch die Nazis waren. Da die Tschechen derart beharrlich an ihrem Opferstatus festhalten, weisen sie noch bis heute zumeist die Verantwortung für die Opfer der nationalen Säuberung nach dem Krieg zurück.
Anstatt sich damit auseinanderzusetzen, warum die tschechische Gesellschaft die Ideale der Demokratie so leicht über Bord geworfen und gehorsam dem Nationalsozialismus gedient hatte, besprechen sie lieber ständig, ob «wir uns (nach München) hätten verteidigen sollen». Vielleicht hängen diese beiden Fragen am Ende dennoch tatsächlich zusammen. Aber wir sollten uns eher fragen, warum wir uns dem Nationalsozialismus nicht wirklich widersetzt haben.
[1] In den letzten Wahlen vor dem Krieg, 1935, hatte die SdP 60% von allen deutschen Stimmen gewonnen
[2] Konservativer Politiker der Zwischenkriegszeit, seit 1. Dezember 1938 Ministerpräsident der tschechoslowakischen Regierung, zwischen 15. März und 27. April 1939 Ministerpräsident der ersten Protektoratsregierung.