Am 31. Januar 2006 wurde das erste und bis heute einzige Universitätsklinikum in der Bundesrepublik Deutschland privatisiert. Das Land Hessen verkaufte unter der CDU-Regierung von Roland Koch in einem bundesweit einmaligen Vorgang das Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) an einen börsennotierten Krankenhauskonzern, die Rhön-Klinikum AG. Der Kaufpreis betrug gerade einmal 112 Millionen Euro.
Wir sind sicher, dass wir damit ein weiteres hessisches Leuchtturmprojekt in der mittelhessischen Region schaffen.
Roland Koch, 2006
Fast zwei Jahrzehnte später scheint dieser Leuchtturm erloschen. Mehr noch: Im November 2021 forderten über 18.000 Menschen in einer beim Landtag eingereichten Petition erneut ein Ende der Privatisierung durch die Vergesellschaftung des UKGM nach Artikel 15 des Grundgesetzes. Und im April 2023 setzten die Beschäftigten des UKGM im größten Krankenhausstreik der hessischen Landesgeschichte den ersten Tarifvertrag Entlastung und Beschäftigungssicherung gegen einen privaten Krankenhauskonzern durch.
Die Geschichte des UKGM ist voll von solchen Auseinandersetzungen. Sie ist eine Geschichte der zahlreichen negativen Berichte über die Auswirkungen der Privatisierung, über kollektive Kündigungen ganzer Stationen aufgrund der Arbeitsbedingungen und über mehr als eine halbe Milliarde öffentlicher Gelder für einen privaten Konzern. Sie ist zugleich eine beeindruckende Geschichte davon, wie sich Menschen vor Ort für ein Uniklinikum in öffentlicher Hand und eine bedürfnisorientierte Gesundheitsversorgung organisierten, von Streiks, Demonstrationen und breiten gesellschaftlichen Bündnissen.
Im Kern ging es und geht es bei diesen Auseinandersetzungen um die grundsätzliche Frage: Soll mit der Gesundheit der Menschen Profit erwirtschaftet werden dürfen? Aus diesem Grund ist die Broschüre für alle interessant, die sich nicht nur in Mittelhessen für ein bedürfnisorientiertes, solidarisches und demokratisches Gesundheitswesen jenseits von Profiten und Konzernen starkmachen. Das UKGM ist ein Leuchtturm, der vor den Folgen der Privatisierung des Gesundheitswesens warnt. Zwei Jahrzehnte anhaltenden Widerstands dagegen sowie die von vielen unterstützte Forderung nach Vergesellschaftung und eine starke Krankenhausbewegung senden zugleich ein Licht der Hoffnung in die Republik. In der Broschüre sollen diese Erfahrungen systematisiert herausgestellt werden, damit Aktive in Krankenhausbewegungen und solche, die es werden wollen, auf dieser Grundlage strategische Entscheidungen für ihre Auseinandersetzungen treffen können.
Vor dem skizzierten Hintergrund sollen die Privatisierung des UKGM und die sozialen Kämpfe darum aus historisch-materialistischer Perspektive analysiert und bewertet werden. Historisch-materialistisch deshalb, weil die Grundlage, auf der die Auseinandersetzungen um das UKGM stattfanden und stattfinden, historisch gewachsen und gesellschaftlich bedingt ist. Die Grundlage für diese Analyse bildet die Historisch- Materialistische Politikanalyse (HMPA), wie sie im Umfeld der Forschungsgruppe «Staatsprojekt Europa« entwickelt wurde. Nach diesem Ansatz wird das UKGM als Forschungsobjekt in seiner heutigen Relevanz für die Region und darüber hinaus vorgestellt. Der Hauptteil der Arbeit besteht aus einer phasenorientierten Analyse der Auseinandersetzungen rund um die Privatisierung des UKGM, um abschließend Perspektiven zu dessen Rückführung in öffentliches Eigentum aufzeigen zu können.
Autor
Sebastian Durben ist gewerkschaftlicher Organizer und Politikwissenschaftler in der Tradition der Marburger Schule. Er hat die Beschäftigten des Universitätsklinikums Gießen und Marburg (UKGM) zuletzt in der Auseinandersetzung für einen Tarifvertrag Entlastung und Beschäftigungssicherung als Organizer begleitet und ist seit 2019 selbst Patient im UKGM. Hierüber entstand sein Engagement im Aktionsbündnis «Gemeinsam für unser Klinikum» sowie die Masterarbeit «Privatisierung und Widerstand am Universitätsklinikum Gießen-Marburg – soziale Kämpfe um Gesundheit in Mittelhessen», auf der diese Broschüre basiert.