Interview | Asien - Palästina / Jordanien - Westasien im Fokus Kampf ums Wasser in Palästina

Interview mit dem Wasserexperten Clemens Messerschmid

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Trinkwasserversorgung aus Tankwagen in einem Dorf in den südlichen Hebronbergen
Die israelische Militärverwaltung verhindert seit 1967 systematisch die palästinensische Grundwassererschliessung in der West Bank, vor allem Brunnen und besonders im westlichen Becken – bis heute. Trinkwasserversorgung aus Tankwagen in einem Dorf in den südlichen Hebronbergen, Foto: Nasser Nawaj’ah, B‘Tselem

Clemens Messerschmid ist ein deutscher Hydrogeologe, der seit über 20 Jahren in Ramallah lebt, arbeitet und forscht. Im November 2019 hielt er im Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah einen Vortrag zu den Auswirkungen der israelischen Politik auf die Wasserversorgung der Palästinenser*innen. Mit ihm sprach Joshua Spieker, Praktikant beim Regionalbüro und Student der Politikwissenschaften und Orientalistik.
 

Joshua Spieker: 1995 wurden im zweiten Osloer Abkommen auch die Wassernutzungsrechte für Israelis und Palästinenser*innen festgelegt, dennoch sorgt die prekäre Wasserversorgungslage in den palästinensischen Gebieten in Verbindung mit der restriktiven Politik Israels immer wieder für mediales Aufsehen. Was sind die zentralen Gründe für diesen Missstand?

Clemens Messerschmid: Das ist ein Missverständnis, in Oslo wurde die Wasserversorgung nicht neu festgelegt. Vor allem in der wichtigsten Frage, dem Zugang zu Ressourcen, gibt es eigentlich keinerlei Unterschied. In Oslo wurde lediglich eingeführt, dass sich eine sogenannte «Palästinensische Wasserbehörde» gründen darf. Diese soll für die Versorgung der Bevölkerung zuständig sein, allerdings ohne dabei irgendein Recht auf zusätzlichen Zugang zu Wasser zu erhalten.

In Zahlen ausgedrückt: In Oslo wurde beschlossen, dass sich im Laufe der sogenannten «Interimsperiode», also bis Mitte 1999, die Wasserversorgung in der Westbank um 28,6 Millionen Kubikmeter im Jahr erhöhen sollte. Das Ganze sollte zusätzlich zu den bereits damals offiziell bestehenden 118 Millionen Kubikmetern an palästinensischem Wasserzugang durch Brunnen und Quellen sein; das war der sogenannte «unmittelbare Bedarf». Zusätzlich wurden als «zukünftiger Bedarf» weitere 70 Millionen Kubikmeter in Aussicht gestellt, wobei allerdings im Oslo-Vertragswerk unklar blieb, ob dieser «zukünftige Bedarf» schon während der Interimsperiode des Osloer Abkommens gelten sollte oder erst danach. Jedenfalls kann man sagen, dass etwa 100 Millionen Kubikmeter zusätzlich vertraglich festgeschrieben wurden: 118 plus 100 wären 218 Millionen Kubikmeter.

Und wie viel haben wir heute? Wir haben 93 Millionen Kubikmeter jährlich aus allen palästinensischen Brunnen und Quellen. Wir haben also nicht nur die Minimalziele und -vereinbarungen von Oslo kolossal verfehlt, sondern sogar in Absolutzahlen deutlich weniger Wasser als vor dem Osloer Abkommen – und das bei rasant steigender Bevölkerungszahl. Es hat sich nichts geändert, außer dass jetzt die Palästinenser*innen verantwortlich sind, allerdings ohne irgendeine Souveränität oder Autorität.

Wieso ist die Situation im Gazastreifen noch dramatischer als in der Westbank?

Es gibt zwei Aspekte: den technischen und den politischen. Technisch gesehen hat Gaza einen Vorteil, dass nämlich die Israelis dort nicht so strikt Brunnenbohrungen verhindert haben. Und heute kann jeder in Gaza einen Brunnen bohren. In Gaza gibt es nicht zu wenige, sondern zu viele Brunnen; das glatte Gegenteil der Westbank. In Gaza ist der Gesamtwasserverbrauch pro Kopf sogar etwas höher als in der Westbank, zumindest war dies so vor den Stromkürzungen, die viele Brunnen lahmlegten. Andererseits hat man in Gaza ein Riesenproblem mit der Wasserqualität, sodass dieses Wasser eigentlich fast durchgängig ungenießbar ist. 97 Prozent der Versorgungsbrunnen für Trinkwasser haben einen Salzgehalt oberhalb der Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Vor allem die Ärmsten können sich noch nicht einmal das Wasser aus Kanistern leisten. Die Leute in den Flüchtlingslagern haben sogar noch «Glück», denn in den Camps gibt es oft von der UN unterhaltene öffentliche Wasserhähne, an denen man sich kostenlos Wasser holen kann.

In Gaza ist die gesamte Lebenssituation absolut verheerend, beileibe nicht nur in Bezug auf Wasser. Noch schlimmer als der Wassermangel wird im Augenblick der Strommangel im täglichen Leben empfunden. Mit Wasser haben die Palästinenser*innen mehr coping mechanisms gefunden, also mehr Bewältigungsmöglichkeiten als mit Strommangel.

Gaza ist wasserarm, die Westbank ist wasserreich. Gaza ist aber dicht bevölkert, vor ein paar Jahren hatte es dieselbe Fläche und Einwohnerzahl wie München. Entgegen der landläufigen Darstellung ist das aber keine weltweit einzigartige Bevölkerungsdichte, jedenfalls dann nicht, wenn man den gesamten Streifen im Weltmaßstab als Stadt und nicht als Land betrachtet. Das Problem entsteht, wenn man Gaza als Land betrachtet und behandelt, dann ist es unausweichlich unrettbar. Würde man Gaza hingegen als Stadt betrachten und wie jede andere Stadt der Erde behandeln, nämlich als ein Gebiet, dass von außen versorgt wird, wäre Gaza sofort zu helfen, ohne Probleme. Der entscheidende politische Unterschied zur Westbank besteht darin, dass die Westbank von Israel besetzt ist und jetzt sogar Stück für Stück annektiert werden soll. Israel will dort unbedingt möglichst viel Einfluss und Kontrolle haben und hat damit auch ein wenig Verantwortung für die Versorgung der dortigen Bevölkerung – zumindest mit minimalen Mengen an Trinkwasser. Über Gaza hingegen behauptet Israel: «Wir sind keine Besatzungsmacht mehr; wir haben damit nichts zu tun» – wenngleich das gegen internationale Standards und Völkerrecht verstößt. Und dasselbe macht die sogenannte westliche «Weltgemeinschaft».

US-Präsident Trump hat 2018 fast alle Hilfsgelder für Palästina eingestellt. Hatte dies Auswirkungen auf die Wasserversorgung in der Region?

Wenn kein USAID-Projekt mehr stattfindet, fällt das größte oder zweitgrößte Geberland weg. Man sollte aber vielleicht auch erwähnen, dass der Geberstaat Deutschland 2018 das Wasserprojekt der GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) in der Westbank sang und klanglos dichtgemacht hat[1]. Sie haben alle Projekte eingestampft. Ich sehe dem seit über 20 Jahren zu: Die Wasserversorgung verschlechtert sich Tag für Tag, und wir Deutschen leugnen das einfach. Der vormalige Entwicklungsminister Niebel (FDP) sagte in einer Antwort auf eine diesbezügliche Kleine Anfrage der LINKEN[2] zur systematischen und systemischen Wassermisere der Palästinenser*innen sogar sinngemäß, dass uns dies nichts angehe. Er formulierte einfach das Mandat unserer deutschen Wasserprojekte um und gab als neue Vorgabe die Zielstellung aus, den durch und durch illegalen israelischen Zugriff auf die Ressourcen vor den Palästinenser*innen zu schützen.

Der politische Teil von Donald Trumps so genanntem «Jahrhundertplan» ist nach wie vor nicht veröffentlicht[3] und damit ist und bleibt zunächst auch unklar, wie genau sich die Trump-Administration zu Gebietsansprüchen der Palästinenser*innen* und Israelis positioniert. Inwieweit beeinflussen eine mögliche Grenzziehung und israelische Annexionspläne, wie z.B. im Jordantal, die Wasserversorgung der Palästinenser*innen?

Der Plan ist zwar offiziell nicht raus, aber jede*r, der/die wissen will, was drinsteht, braucht nur ins Internet zu schauen. Auch das israelische Außenministerium hat ihn «geleakt», und er war in israelischen Zeitungen auf Englisch zu lesen.

Weiterhin: Israel will diesen Plan überhaupt nicht. Israel wird ihn ablehnen, weil sie nicht zulassen möchten, dass irgendetwas den Namen Palästinensischer Staat trägt, selbst wenn der Plan noch so eine Zumutung für die Palästinenser*innen ist. Netanjahu ist lange damit durch, mit Verhandlungen, Frieden, Zweistaatenlösung – «peace shmeace», wie die Israelis höhnen. Keiner weiß es besser als unsere Bundesregierung in Person von Außenminister, Kanzlerin usw., denen Netanjahu das jedes Mal offen ins Gesicht sagt, und trotzdem tun sie so, als gäbe es weiter einen Friedensprozess.

Aber zu deiner Frage: Beeinflusst die Annexion des Jordangrabens die Wasserversorgung? Nun, unmittelbar nicht, denn die Palästinenser*innen haben ohnehin seit über 50 Jahren keinen Zugriff auf ihr eigenes Wasser, weil sie unter Besatzung leben. Aber perspektivisch ändert es alles, weil der Jordangraben einer der wenigen Orte in der Westbank ist, in denen große Grundwasserschätze liegen, die gefördert werden könnten, wenn das nicht länger gewaltsam durch Israel und seine Militärbesatzung mit ihren entsprechenden «military orders» verhindert werden würde.

Was müsste geschehen, um die Wasserversorgung der Palästinenser*innen nachhaltig zu sichern?

Wenn Delegationen hierher nach Palästina kommen, ob von der Linkspartei oder auch Politiker*innen von SPD, FDP, Grünen, dann sage ich immer: Es gibt drei Dinge, die wir brauchen, um die Wasserversorgung der Palästinenser*innen nachhaltig zu sichern bzw. den Wassernotstand dauerhaft zu beheben. Drei Punkte, das klingt erst mal super, alle packen ihren Stift und den Block aus, drei Punkte kann man mitschreiben. Die drei Punkte sind erstens: neue Brunnen, zweitens: mehr Brunnen und drittens: noch mehr Brunnen. So einfach! Sie machen dann meist etwas enttäuschte Mienen, denn das ist ja bekanntlich «unrealistisch», zumindest nach deutscher Staatsräson.

Ich will das noch einmal wassertechnisch erklären: In Palästina, in der Westbank, gibt es kein Oberflächenwasser außer dem abgeschnittenen Jordan, der gar nicht mehr bis zur Westbank kommt, weil Israel oben am Tiberiassee (oder biblisch: See Genezareth) alles abpumpt. Es gibt hier nur Grundwasser, aber davon gibt es reichlich. In Ramallah fällt mehr Regen als in London, es ist also nicht gerade Wüste. Dieses Regenwasser versickert aber hier oben in der Westbank. Wir haben hier extrem durchlässigen Kalk, eben Karst. Nur dürfen die Palästinenser*innen seit über 50 Jahren nicht ran. Bohren, noch mal bohren und noch mal bohren, das wäre die simple, die selbstverständliche Lösung!

Oder anders ausgedrückt: Palästina bzw. die Westbank ist das einzige Land der Welt, in dem die sogenannte «blaue Revolution» nicht stattgefunden hat. Damit ist die systematische Erschließung von Wasserressourcen und Grundwasserressourcen mit Hilfe von einfachen Brunnenbohrungen und motorisierten Pumpen gemeint. Das hat in den 50er und 60er Jahren überall in der sogenannten «Dritten Welt» stattgefunden. Das ärmste Dorf im hintersten Winkel Indiens gräbt einen Brunnen, wenn es Wasser braucht. Genau das ist hier verboten. In Mali, Niger, Tschad bohrt man halt einen Brunnen. Es gibt die bekannten Spendenaufrufe von karitativen Organisationen für das Brunnenbohren in der Sahelzone: Mit 120 Dollar ist man dabei. In der Westbank, im sogenannten «Westlichen Aquifer», dem Hauptbecken, gab es seit 1967 keinen einzigen neuen Brunnen für Palästinenser*innen. 


[1] Anmerkung d. Interviewers: Nach Angaben des Auswärtigen Amts, hat das BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zwischen 1980 und 2018 über eine Milliarde Euro für Vorhaben in Palästina aufgewendet. Das Wasserprojekt der GIZ ist 2017 in der Westbank ausgelaufen.

[2]Anmerkung d. Interviewers: Kleine Anfrage der LINKEN aus dem Jahr 2010. Dirk Niebel (FDP) war von 2009 bis 2013 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

[3] Der Plan wurde Ende Januar 2020 veröffentlicht [Anm. d. Red.].