«Hallo Welt! Wie geht es Euch unter Lockdown? Grüße aus Gaza!» Ironische Kommentare wie dieser zur weltweiten Coronakrise fanden sich in den vergangenen Wochen zuhauf in den sozialen Medien in Gaza. Diese leichte Schadenfreude von Menschen, die seit beinahe 13 Jahren in einem von Israel und Ägypten fast hermetisch abgeriegelten Gebiet leben, kommt nicht von ungefähr. Nicht umsonst wird der Gazastreifen des Öfteren als größtes Freiluftgefängnis der Welt bezeichnet. Die große Mehrheit der jungen Menschen unter 25 Jahren hat Gaza noch nie verlassen. Dass gerade diese Abriegelung in den ersten Wochen als Vorteil gesehen wurde, ist unter diesen Umständen in der Tat auch eine Ironie des Schicksals. Wie viele Kommentator*innen in den sozialen Medien anmerkten, sollte man davon ausgehen können, dass auch ein Virus die Grenzen nicht überschreiten kann, wenn ein Großteil der Menschen seit Jahren den Gazastreifen nicht verlassen konnte und er damit quasi unter «Quarantäne» steht.
Ute Beuck ist Leiterin des Regionalbüros Palästina und Jordanien der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah.
Unter dieser augenscheinlichen Leichtigkeit lag aber immer die Gewissheit, dass das Virus nicht aufzuhalten sein wird, wenn es die engen Straßen und überbevölkerten Wohnviertel erreicht. Der Gazastreifen ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, mit einer öffentlichen Infrastruktur, die durch die Abriegelung und mehrere militärische Konfrontationen durch Israel bereits seit Jahren am Limit funktioniert. Bereits im Jahr 2012 wurde in einem Bericht der Vereinten Nationen darauf hingewiesen, dass der Küstenstreifen im Jahr 2020 nicht mehr bewohnbar sein wird. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 40 Prozent (60 Prozent bei jungen Leuten), über die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, 97 Prozent des Wassers sind nicht trinkbar, Elektrizität ist nur für wenige Stunden am Tag verfügbar.
Mangelhafte Gesundheitsversorgung
Nach einem im Januar 2020 veröffentlichen Bericht des Euro-Mediterranean Human Rights Monitors ist der Gesundheitssektor im Gazastreifen am stärksten durch die israelische Blockade betroffen. Nur knapp 50 Prozent der notwendigen Medikamente waren Anfang des Jahres in Gaza verfügbar, Wartezeiten für Operationen liegen bei bis zu 16 Monaten. Viele komplexere Behandlungen können vor Ort gar nicht durchgeführt werden und erfordern eine Überweisung in die Krankenhäuser des palästinensischen Westjordanlandes, nach Israel oder Jordanien. In dem Fall ist eine Genehmigung durch die israelischen Behörden erforderlich, die schon in «normalen» Zeiten nur unter Schwierigkeiten und mit Einschränkungen zu erhalten ist. Israels Verbot, Technologie mit einem möglichen «doppelten Verwendungszweck» einzuführen, hat die Verfügbarkeit von Geräten wie Röntgenscannern und medizinischen Radioskopen stark eingeschränkt. Der Einsatz der verfügbaren Geräte leidet unter den permanenten Stromausfällen. Die Entscheidung der Regierung von Donald Trump im Jahr 2018, die US-Finanzierung für das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) einzustellen, das allein im Gazastreifen 1,4 Millionen Palästinenser*innen unterstützt, wirkt sich auch auf die Fähigkeit der Organisation aus, die Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.
Angesichts dieser Zustände schauen die Palästinenser*innen mit Sorge auf Länder wie Italien und Spanien, die im Vergleich zu ihrer eigenen Situation über ein modernes Gesundheitssystem verfügen und von den Anforderungen, die die Pandemie seit Wochen stellt, hoffnungslos überrollt werden. Im Gazastreifen sind 60 Intensivbetten, die für die Behandlung von Corona-infizierten Patient*innen gebraucht würden, für eine Bevölkerung von zwei Millionen Menschen verfügbar. Diese Betten sind auch in Nicht-Pandemiezeiten durchgehend belegt. Seit am 21. März die ersten Fälle von Infizierungen mit dem Corona-Virus bei Reiserückkehrern in den Gazastreifen festgestellt wurden, bereitet sich nun auch unter der kriegs- und krisenerfahrenen Bevölkerung ernsthafte Unruhe aus. Zwischenzeitlich wurde bestätigt, dass mehrere palästinensische Sicherheitsbeamte, die mit den beiden Reisenden in Kontakt kamen, ebenfalls infiziert sind. Nach Angaben offizieller Stellen wurden alle Personen rechtzeitig unter Quarantäne gestellt und konnten damit das Virus nicht weitergeben. In der Bevölkerung wird diese Aussage bezweifelt.
Desinfektionsmittel oder Lebensmittel?
Die Hamas-Regierung versucht das Gefühl zu vermitteln, die Lage unter Kontrolle zu haben. Als die palästinensische Regierung im Westjordanland am 6. März den Ausnahmezustand verhängte, wurde dies von der Hamas mit dem Hinweis abgelehnt, dass man vorbereitet sei. Seit der Bekanntgabe der ersten Fälle wurden nun auch von der Hamas Richtlinien erlassen, Menschenansammlungen zu verbieten, einschließlich Hochzeiten im privaten Rahmen und Moscheebesuche. Restaurants, Cafés, Einkaufszentren etc. wurden geschlossen. Die Zahl der Menschen, die sich auf der Straße bewegen, ging allerdings schon vor dem Erlass dieser Anweisungen merklich zurück. Auch Schulen, Universitäten und viele Firmen des Privatsektors haben ihre Arbeit bereits vorher eingestellt oder zumindest stark eingeschränkt. Wer kann, deckt sich vorsorglich mit Lebensmitteln und Desinfektionsmitteln ein, obwohl keine Anzeichen von Versorgungsengpässen erkennbar sind. Wie in der Vergangenheit scheint das eigentliche Problem hierbei auch weniger ein Mangel an Lebensmitteln zu sein, als dass vielen die finanziellen Mittel fehlen, um Vorräte anlegen zu können. Mit dem krisenbedingten Rückgang von Arbeitsmöglichkeiten wird diese Situation noch verschärft. Viele Menschen stehen vor der Wahl, Desinfektionsmittel oder Lebensmittel zu kaufen.
Als absolute Priorität wird es nun gesehen, eine Ausbreitung des Virus zu verhindern, sich aber auch unter den gegebenen Umständen auf den Fall der Fälle vorzubereiten. Nach offiziellen Angaben befinden sich über 3.000 Menschen (in erster Linie Reiserückkehrer*innen, die über Rafah aus Ägypten eingereist sind, aber auch Arbeitende, die in Israel beschäftigt waren) in Quarantäne. Neben mehreren medizinischen Einrichtungen, die zu Isolierstationen umfunktioniert wurden, wurden weitere neu eröffnet, darunter auch in Hotels und Schulen. In der Zwischenzeit mehren sich die Aussagen von unter Quarantäne gestellten Personen über die Bedingungen der Unterbringung. Es wird von schlechten Hygienebedingungen und Mangel an Nahrungsmitten und Trinkwasser berichtet. Mehrere Personen müssen in ehemaligen Klassenzimmern auf dem Boden schlafen. Dazu kommt die Besorgnis, sich unter diesen Bedingungen bei anderen Personen anzustecken, die sich ebenfalls in Isolation befinden. Testkits sind in nicht ausreichendem Maße vorhanden und die Kriterien, nach denen sie genutzt werden, sind unklar. In der Zwischenzeit ist ein Berichten über Corona in Gaza fast unmöglich geworden. Unter dem Vorwurf der Verbreitung von Falschmeldungen ist in den vergangenen zwei Wochen massiver Druck auf Journalist*innen ausgeübt worden, so dass als Informationen nur noch die offiziellen Verlautbarungen zu erhalten sind. Dies stärkt auf der einen Seite das Misstrauen, das allgemein in der Bevölkerung der Hamas-Regierung gegenüber herrscht, und schränkt auf der anderen Seite das Spekulieren im privaten Kreis natürlich nicht ein. Gerüchte kursieren und es herrscht eine allgemeine Verunsicherung über die tatsächliche Situation.
Pandemie unter Besatzungsbedingungen
Tatsache ist und bleibt aber, dass der Gazastreifen mit der Situation nicht allein klarkommen kann. Angesichts der potenziellen Gesundheitskatastrophe stellt sich die Frage, was Israel tun wird, um seiner Verantwortung, die es nach internationalem Recht als Besatzungsmacht hat, gerecht zu werden. Wird es Palästinenser*innen den Zugang zu seinem Gesundheitssystem gewähren oder wird es zumindest aufhören, die Einfuhr ausländischer medizinischer Hilfe zu blockieren?
Zuerst gab es Anzeichen, dass dem so sein könnte. Mitte März gab die israelische Regierung bekannt, 200 Testkits nach Gaza geschickt zu haben. «Viren und Krankheiten haben keine Grenzen – und so ist die Verhinderung eines Ausbruchs des Coronavirus in Gaza, Judäa und Samaria ein vorrangiges israelisches Interesse», sagte der Koordinator für Regierungsaktivitäten in den «Territorien», also den von Israel besetzten Gebieten, laut der israelischen Tageszeitung Haaretz.
In den letzten Tagen war von diesem Interesse weniger zu spüren. Auch wenn es keinen Zweifel daran gibt, dass die Maßnahmen, die die palästinensischen Behörden im Westjordanland zur Eindämmung ergriffen haben, in Koordination mit israelischen Stellen erfolgten, so gibt es doch Vorgänge, die Palästinenser*innen an diesem Interesse zweifeln lassen. Als Beispiel sei ein kürzlich in den palästinensischen sozialen Medien verbreitetes Video genannt. Darin ist ein palästinensischer Arbeiter zu sehen, der an einem israelischen Kontrollpunkt in der Nähe des Dorfes Beit Sira am Straßenrand liegt. Sein israelischer Arbeitgeber hatte die israelische Polizei angerufen, nachdem der Arbeiter offenbar an seiner Arbeitsstelle schwer erkrankt war und der Arbeitgeber vermutet hatte, dass er mit dem Virus infiziert sei. Der Arbeiter wurde ohne jede weitere medizinische Versorgung in einem kaum ansprechbaren Zustand ohne weitere Koordination am Straßenrand beim Kontrollpunkt zu den palästinensischen Gebieten abgeladen.
Angesichts der zunehmend angespannten Situation in Israel mit einer steigenden Zahl an Infizierten und einem Gesundheitssystem, das keinen Spielraum für medizinische Ausnahmesituationen lässt, ist es unwahrscheinlich, dass von dort Hilfe kommen wird. Auch die Tatsache, dass viele Länder, die Palästina im Allgemeinen finanziell unterstützen, gegenwärtig mit eigenen massiven Problemen durch die Pandemie konfrontiert sind, lässt nicht auf viel Unterstützung hoffen. Ebenso ist anzunehmen, dass von dort kein Druck auf Israel ausgeübt werden wird, seiner Verantwortung nachzukommen. Auch in Zeiten einer globalen Katastrophe bleibt Gaza isoliert.