Analyse | Kapitalismusanalyse - Westeuropa - Osteuropa - Südosteuropa - 30 Jahre Transformation in Osteuropa Die dreifache Transformation der Slowakei

Der aufwändige und langwierige Weg zu einem modernen Staat

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Bratislava – Unabhängigkeitserklärung der Slowakei
Bratislava, 17. Juli 1992, Unabhängigkeitserklärung der Slowakei: Anhänger*innen der national-konservativen HZDS beim Festumzug ČTK/ Jana Noseková

Die revolutionären politischen Änderungen im Ostblock zum Beginn der 1990er stellten die Republik Slowakei vor eine dreifache Transformation: 1. Von einem totalitären Regime in ein liberaldemokratisches Regime, 2. von einem Staat, der in ein föderatives Ganzes eingegliedert war, zu einem Nationalstaat und 3. von einer zentral gesteuerten Planwirtschaft zur Marktwirtschaft. Auf keine dieser Transformationen war die Slowakische Republik vorbereitet. Doch wenigstens im Falle der ersten Transformation, die am einfachsten zu sein schien, gab es hinreichend genaue, international definierte Ziele und teilweise auch Methoden, wie sie umgesetzt werden kann. Insbesondere gab es hierfür Unterstützung der breiter Schichten.

Der Zerfall der tschechoslowakischen Föderation und der Übergang zur Marktwirtschaft waren keine Schlagworte, die auf den Massenkundgebungen im November 1989 den Ton angegeben hätten. Auch die entstehende neue politische Repräsentanz der Slowakei, die Öffentlichkeit gegen Gewalt (VPN), versuchte nicht, den Zerfall der Föderation voranzutreiben, und ihre Vorstellungen über die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Transformation waren zum Beginn sehr beschränkt und umfassten maximal die Akzeptanz von Privateigentum.

Brigita Schmögnerová ist Ökonomin und hat lange Jahre wissenschaftlich gearbeitet und Politiker*innen beraten. Von 1994 bis 1998 war sie Abgeordnete des Nationalrates der Slowakei für die Partei der demokratischen Linken (Strana demokratickej ľavice), Mitglied der Sozialistischen Internationalen und Nachfolgepartei der KP in der Slowakei,  und in den Jahren 1998 bis 2002 Finanzministerin in der ersten Regierung von Mikuláš Dzurinda. Sie ist Autorin mehrerer Bücher und blickt in diesem Text als Zeitzeugin auf die Transformation der Slowakei zurück.

Die neue politische Macht auf föderalem Niveau begann recht schnell, die Transformation von der zentralen Planwirtschaft in Richtung Marktwirtschaft vorzubereiten, die kurz darauf als Reform nach Václav Klaus, Leszek Barcelowicz oder teilweise auch Lajos Bokros bezeichnet wurde. Doch die Reformszenarien, die in den europäischen postsozialistischen Staaten mit der Ausnahme Sloweniens umgesetzt wurden, fußten auf einem einzigen Szenario, das mehr oder weniger an die Bedingungen des entsprechenden Staates angepasst wurde. Dieses Szenario war auf dem Boden des Internationalen Währungsfonds und des Finanzministeriums der USA entstanden und ergab sich aus den Prinzipien des Washingtoner Konsens, der im Kampf mit der Hyperinflation in einigen lateinamerikanischen Staaten zur Anwendung gebracht wurde. Beim Kampf gegen die Hyperinflation war dies erfolgreich, doch die sozialen Folgen waren verheerend.

Kurzum das Reformszenario versuchte Liberalisierung, Privatisierung und makroökonomische Stabilisierung durchzusetzen. Die ideellen Wurzeln ergaben sich aus der neoliberalen sozialökonomischen Ideologie[1]. Die erste Frage ist nun, warum sich dies aus der neoliberalen Ideologie ergab, und die zweite, ob dieses Szenario für Staaten mit einer einstigen zentralen Planwirtschaft angemessen war. Der österreichische Professor Philipp Ther schreibt in seinem Buch Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, dass ganz Europa in den neunziger Jahren neoliberal gewesen sei. Er postuliert sogar, dass die internationale Hegemonie des Neoliberalismus zur Jahrtausendwende so stark wie noch nie zuvor gewesen sei.

Viele, wenn nicht sogar die Mehrheit der europäischen sozialdemokratischen Parteien und ihre Vorsitzenden, die an der Macht waren, waren Verfechter des Dritten Weges (Tony Blair, Gerhard Schröder, Lionel Jospin, José Luis Rodríguez Zapatero). Sie wollten den Sozialstaat «modernisieren, damit dieser nicht stirbt» (Schröder). Sie verstanden die Modernisierung jedoch als Notwendigkeit, den universellen Sozialstaat zu beschränken. Ihnen zufolge war dies die unausweichliche Antwort auf die Globalisierung. Darüber, dass die Globalisierung «gezügelt» bzw. gesteuert werden musste, dachten sie nicht allzu viel nach. Und noch schlimmer war, dass diese Politiker im Prinzip die Wirtschaftspolitik akzeptierten, die von der Rechten durchgesetzt wurde und als TINA bekannt ist. [2] Die europäischen Institutionen unterstützen daher das Transformationsszenario des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der amerikanischen Verwaltung. Es galt die Politik «one size fits all».[3]

Die politischen Änderungen, die zum Zerfall des Ostblocks geführt hatten, als wäre er ein Kartenhaus, haben den Westen überrascht. An den westlichen Universitäten gab es Institute, die mehr oder weniger das System der zentralen Planung und Leitung verstanden. Wenn deren Repräsentant*innen von Politiker*innen angesprochen worden wären, hätten sie einen Transformationsentwurf vorbereiten können, der die Ausgangssituationen der Planwirtschaften in Betracht gezogen hätte. Charakteristisch für diese Ökonomien war, wie dies im Jahre 1979 der ungarische Ökonom János Kornai analysierte, die Wirtschaft des Mangels. Das heißt die Unfähigkeit der Planer, schnell die sich wandelnden Bedürfnisse der Gesellschaft zu identifizieren und deren Befriedigung abzusichern. Die Preise wurden künstlich bezuschusst und spiegelten weder die Kosten noch die Beziehungen zwischen Nachfrage und Angebot wider. Der technische Fortschritt hinkte hinterher. Mit Ausnahme der Militärindustrie waren die Oststaaten nicht imstande, mit dem Westen zu konkurrieren.

Das alles hätte bei der Vorbereitung des Transformationsprozesses berücksichtigt werden müssen. Die föderalen Behörden respektierten die Meinungen der Nationalorgane und der Fachleute in der Tschechischen und Slowakischen Republik nicht, die gegen die sogenannte Schocktherapie argumentierten, wie zum Beispiel der Vorsitzende der tschechischen Regierung František Vlasák oderValtr Komárek. Diese setzten sich stattdessen für die gradualistische Transformation ein, in der Slowakei zum Beispiel der Club der Ökonomen der Partei der Demokratischen Linken SDL und der Verband der Ökonomen (NEZES). Die Preisliberalisierung im Jahre 1990, als erster Schritt in Richtung Steuerreform nach Klaus, die ein Jahr später in Angriff genommen wurde, der Übergang zum Marktkurs der tschechoslowakischen Krone, die radikale Kürzung der Zuschüsse an die Unternehmen und weitere Maßnahmen berücksichtigten die Ausgangssituation der tschechischen Wirtschaft nicht, noch weniger der slowakischen. Letztere war zum Beispiel durch das Ungleichgewicht auf dem «Markt», die einseitig deformierte Produktionsstrukturgeprägt, die insbesondere auf die Schwerindustrie und auf den Export in die Ostmärkte ausgerichtet war.

Der Zerfall des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) ließ die Exportmärkte für die Tschechische und Slowakische Republik wegbrechen. Die slowakische Wirtschaft war stärker auf die östlichen Märkte ausgerichtet und spürte deshalb die Folgen noch härter. So fertigte die slowakische Militärindustrie 80 Prozent der tschechoslowakischen Militärproduktion und die beispiellos schnelle und leider erfolglose Umstellung bedeutete zu Beginn einen Verlust von 100.000 Arbeitsplätzen.

Durch die Entscheidung der föderalen Behörden erfolgte - neben der Liberalisierung der meisten Preise - auch die Liberalisierung des Außenhandels. Die Zollinzidenz ist auf ein derartiges Niveau gesunken, das für hochentwickelte Marktwirtschaften angemessen gewesen wäre – knapp über 5 Prozent. Der Schutz des nicht gerade hochentwickelten Binnenmarktes brach durch diese Entscheidung weg und bedeutete, dass die inländische Produktion oftmals durch aus dem Westen bezuschusste Produkte, zum Beispiels Lebensmittel,  verdrängt wurde .

Das Jahr 1990 und die ersten beiden Jahre der Umsetzung des Transformationsszenarios bedeuteten für die slowakische Wirtschaft einen tiefen Wirtschaftseinbruch, die sogenannte Transformationsrezession, also ein Einbruch des Außenhandels, einen sprunghaften Anstieg der Preise, mit dem der Lohneinstieg bei Weitem nicht Schritt halten konnte, und eine hohe Arbeitslosigkeit. Dies waren Faktoren, die bei einem Teil der slowakischen Politiker*innen, zum Beispiel Vladimír Mečiar, und in der Öffentlichkeit zur Forderung führten, einen eigenen slowakischen Transformationsweg zu beschreiten. Dies wäre jedoch nur unter Inkaufnahme des Zerfalls der tschechoslowakischen Föderation möglich gewesen.

Auf der tschechischen Seite gab es bereits traditionell Politiker*innen, die argumentierten, dass die tschechische Wirtschaft für die Slowakei «draufzahlen» müsse und dass die «Geldleitung» in die Slowakei gekappt werden müsse. Wohl auch der Finanzminister und spätere Vorsitzende der tschechischen Regierung Klaus dachte, dass die tschechische Wirtschaft ohne die Last der slowakischen Wirtschaft besser dastünde. Und so ist das Zweiergespann der Premierminister Mečiar in der Slowakei und Klaus in der Tschechischen Republik entstanden, das den Untergang der Föderation beschloss. Dass über einen derart wichtigen Schritt demokratisch entschieden werden müsste, also mit einer Volksbefragung, wurde zurückgewiesen. Druck der Öffentlichkeit, die an die demokratischen Entscheidungsprozesse gar nicht gewöhnt war, gab es faktisch nicht. Der Westen hat die ruhige Trennung, die sogenannte Samtene Revolution, gepriesen und als beispielhaft herausgestellt, doch die Art und Weise, wie Entscheidung getroffen wurde, war nicht gerade ein nachahmenswertes Beispiel. Der Zerfall der Föderation ging zumindest ohne Gewalttätigkeiten vonstatten und es galt  nun, die nachfolgenden Beziehung zwischen beiden Nachfolgerepubliken zu gestalten.

Entstehung der eigenständigen Slowakischen Republik und Teilung des Vermögens der Tschechoslowakischen Föderativen Republik (ČSFR)

Die neu entstandenen Staatsgebilde traten die Nachfolge in den internationalen Verträgen, den Staatsschulden und -forderungen gegenüber ausländischen Gläubigern und Schuldnern an und wurden zu Mitgliedern in den internationalen Organisationen. Mit anderen Worten, die Identität der ČSFR erlosch und sie ging auf zwei unabhängige Nachfolgestaaten über, wenn auch nur einer von ihnen, die Tschechische Republik, sich im Widerspruch zum ursprünglichen Abkommen (Verfassungsgesetz Nr. 542/1992 Slg.) die Symbole des erloschenen Staatsgebildes angeeignet hatte.

Doch auf internationaler Ebene wurden beide Staaten de facto nicht gleichermaßen akzeptiert. Die Tschechische Republik hatte als Exportschlager ihren Präsidenten, den im Ausland verehrten Humanisten Václav Havel. Die Slowakische Republik hatte nur den autoritären Premierminister Mečiar, dessen internationaler Ruf sich im Laufe seiner Regierungszeit noch weiter verschlechterte. Das Spitzenorgan für internationale Fragen , das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, hatte in der Tschechoslowakei seinen Sitz in Prag und die meisten professionellen Diplomat*innen waren tschechischer Herkunft. Die Slowakische Republik musste ihr eigenes Diplomat*innenkorps neu aufbauen und sich selbst in der Welt bekannt machen.

Einige anfängliche Schwierigkeiten traten zum Beispiel bei der Aufteilung der Quote im IWF zwischen der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik auf. Des Weiteren hatte der Assoziationsvertrag zwischen der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik (ČSFR) und der Europäischen Gemeinschaft (EG) den Ratifikationsprozess nicht durchlaufen können und musste erneut im Schnellverfahren mit beiden Nachfolgestaaten gesondert behandelt werden.

Die Teilung der ČSFR hatte auch ernsthafte sozialökonomische Folgen. Von 1990 bis 1993 waren die Außenhandelsbeziehungen der Slowakischen Republik vom Zerfall der bislang dominanten Bindung an die RGW-Staaten einerseits und von der Anbahnung neuer Verbindungen zu den Staaten der Europäischen Gemeinschaft andererseits charakterisiert. Der Zerfall der ČSFR trug zu einem schnellen Rückgang des Handels zwischen beiden Republiken bei. Der Einbruch war jedoch geringer als ursprünglich vorhergesagt. Zweifelsohne hat die entstandene Zollunion zwischen der Slowakischen Republik und der Tschechischen Republik, aber auch die Clearingbuchungen kurz nachdem dem Scheitern des mehrere Wochen andauernden Versuchs um die Errichtung einer Währungsunion beider Staaten gescheitert war, einen größeren Einbruch des Handels zwischen der Tschechischen Republik und der Slowakei verhindern können. Die Slowakei, die noch mehr von der Ausfuhr in die Tschechische Republik abhängig war, saß zu Beginn am kürzeren Hebel. Laut dem Clearing-Vertrag musste mehrere Male das Defizit gegenüber der Tschechischen Republik durch die Überweisung von Devisen ausgeglichen werden. Als sich dann der Ausgleich des Defizits zulasten der Tschechischen Republik wendete, schlug die tschechische politische Elite die Aufhebung dieses Vertrages vor.

Eine der vollkommen neuen Institutionen, die der Staat errichten musste, war die Nationalbank der Slowakei (NBS). In der Slowakei gab es kein Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und auch die Diplomat*innen fehlten – dies galt umso mehr für Expert*innen für Währungsfragen. Vor der Teilung der Devisenreserven der Staatsbank der Tschechoslowakei (ŠBČS) im Verhältnis von 2 : 1 hat die Staatsbank der Tschechoslowakei zwei Drittel der Devisen an Banken in der Tschechischen Republik veräußert und für die Aufteilung war nur noch ein Rest verblieben. Die entstehende Nationalbank der Slowakei verfügte daher über derart geringe Devisenreserven, dass sie gezwungen war, nicht nur streng restriktive Maßnahmen beim Verfügen über diese Mittel zu ergreifen, sondern sie drängte die Regierung auch, die Erlangung ausländischer Kredite anzustreben. Die Darlehen von den internationalen Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank waren zwar geringer verzinst als auf dem freien Markt, aber deren Genehmigung bedurfte der Verpflichtung der Regierung, die sogenannten Konditionalitäten zu erfüllen. Also mit anderen Worten gesprochen – das Reformprogramm der neoliberalen Transformation umzusetzen. Die slowakische Transformation nach den Vorstellungen der Regierungen von Mečiar konnte auch aus diesem Grunde nicht umgesetzt werden, sondern nahm ganz im Gegenteil noch einige Züge an, die die Transformationsrezession noch weiter vertieften. Stichworte hierzu sind die sogenannte Privatisierung á la Mečiar, «crony capitalism» und Korruption.

Mit der Entstehung der Zollunion zwischen der Slowakischen Republik und der Tschechischen Republik, die bis zum Beitritt beider Staaten zur EU bestand, dem Ende des Währungsabkommens und des Clearingvertrags war die Abwicklung der Hinterlassenschaft der ČSFR noch nicht zu Ende. Beide Staaten mussten noch das Gesetz über die Aufteilung des Vermögens der Tschechoslowakischen Föderation umsetzen. Diese Aufteilung des Vermögens aus der ČSFR richtete sich entweder nach dem Prinzip 2:1, oder nach dem territorialen Prinzip. Im Verlaufe mehrerer Jahre ist es mit größeren oder kleineren Schwierigkeiten gelungen, ca. 95 Prozent des föderalen Vermögens aufzuteilen, doch bis zum Ende der dritten Regierung von Mečiar 1998 blieben strittige 5 Prozent – insbesondere in der Finanzsphäre – übrig. Die Verhandlungen waren festgefahren und die Slowakische Republik und die Tschechische Republik unterzeichneten nicht einmal das Abkommen zwischen beiden Staaten über die gemeinsame Vorgehensweise bei der Umsetzung des Verfassungsgesetzes Nr. 541/92 Slg., über die Aufteilung des Vermögens der ČSFR zwischen der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik und dessen Übergang auf die Tschechische Republik und Slowakische Republik, das bereits vor mehreren Jahren vorbereitet worden war. Die langwierigen Verhandlungen fanden erst 1999 beziehungsweise formal Anfang des Jahres 2000 ihren Abschluss. Der Nationalrat der Slowakischen Republik verabschiedete den Vertrag über die gemeinsame Vorgehensweise Tschechiens und der Slowakei bei der Aufteilung des Vermögens der Föderation, d.h. die sog. Null-Variante, erst am 1. Februar 2000. Dem waren intensive Verhandlungen der Regierung von Miloš  Zeman und der ersten Regierung von Mikuláš  Dzurinda vorausgegangen.

Der Zankapfel war die Abwicklung der Beziehungen in der Finanzsphäre, insbesondere die Trennung zwischen den verschiedenen Banken. Das Abkommen zwischen der Tschechischen Republik und Slowakischen Republik über den Ausgleich des Defizits im Staatshaushalt der Föderation für das Jahr 1992 und das Abkommen über den Ausgleich der Finanzbeziehungen der Organisationen für 1992 mit dem Staatshaushalt der Tschechischen Republik und dem Staatshaushalt der Slowakischen Republik waren schon lange zur Unterschrift vorbereitet, aber da sie nicht unterzeichnet waren, konnten sie auch nicht umgesetzt werden. Der am meisten medial beachtete Punkt war die Einbehaltung eines Drittels des Goldes mit einem Gewicht von 4,1 Tonnen, dessen Abgabe die Tschechische Nationalbank (ČNB) an die Slowakische Republik mit der abschließenden Klärung der komplexen Aufteilung des Vermögens der ŠBČS verband.

Die Wiederaufnahme der eingefrorenen Verhandlungen verlief nicht problemlos, aber es gab den politischen Willen, die strittigen Punkte des Abkommens abschließend zu klären und den Rest unter der sogenannten Großen Null zu vereinen. Eine politische Lösung erwies sich als einzig möglich, wenn sich die Verhandlungen nicht noch über viele Jahre hinziehen sollten. Ansonsten hätte das Versprechen der beiden Regierungsvorsitzenden Zeman und Dzurinda, die lang andauernden Streitigkeiten bei der Aufteilung des verbleibenden Vermögens aus der ČSFR abzuschließen, bis heute nicht erfüllt werden können.

Diese Verpflichtung von Zeman und Dzurinda konnte jedoch nur durch einen großen Kompromiss vollendet werden. Dieser bestand darin, dass die tschechische Seite der Slowakei ein Drittel des Goldes zurückgab, sowie die Trennung der Banken vollendete. Das Ergebnis war die «Große Null» bezeihungsweise Nullvariante, d. h. die Verpflichtung beider Seiten, dass die Vermögensteilung der ČSFR somit definitiv abgeschlossen ist. Laut Art. 4 des Vertrags zwischen der Slowakischen Republik und der Tschechischen Republik über die gemeinsame Vorgehensweise bei der Aufteilung des Vermögens der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik erklärten die Vertragsparteien, dass «sie im Zusammenhang mit dieser Aufteilung keine Vermögensansprüche geltend machen und dies auch in Zukunft nicht tun werden».

Die ersten beiden Phasen der Transformation und die internationalen Finanzinstitutionen

Die Tschechoslowakei, die im September 1990 in den IWF zurückgekehrt war, erlangte bereits im Januar des darauffolgenden Jahres das erste Stand-by-Arrangement vom IWF. Die Bedingung für das Erlangen war die Verpflichtung, dass die Regierung das Memorandum über die Politik der ČSFR und die sogenannten Performancekriterien erfüllt, aufgrund dessen die Kreditmittel schrittweise freigegeben wurden.

Das Memorandum beinhaltete die Regierungsverpflichtung, zu festgelegten Terminen Maßnahmen zur Liberalisierung der Preise und des Außenhandels zu ergreifen, die innere Konvertierbarkeit der tschechoslowakischen Krone, die Verpflichtung, dass die Regierung einen Überschuss im «Staatshaushaltssystem» der ČSFR, zum Beispiel durch Maßnahmen in der Steuerpolitik und die Verminderung der Subventionen für die Landwirtschaft und die Unternehmen, erwirtschaftet. Die Regierung verpflichtete sich überdies, eine restriktive Währungs- und Kreditpolitik umzusetzen und die Finanzdisziplin der Unternehmen zu festigen. Die Bedingungen im Memorandum über die Wirtschaftspolitik stellten somit die Basis der «Reform nach Klaus» dar. Die föderale Regierung war gegenüber den internationalen Finanzinstitutionen entgegenkommend, auch wenn dies damit begründet war, die Devisenreserven durch Kredite stärken zu wollen.

Noch akuter war in der Slowakei der Bedarf an einer Stärkung der Devisenreserven, die weit unter dem Sicherheitsbestand lagen. Daher waren die ersten slowakischen Regierungen nach dem Zerfall der ČSFR gezwungen, Kredite vom IWF oder der Weltbank zu beantragen – zu gleichen Bedingungen wie zuvor die Tschechoslowakei. Die erste Etappe der Wirtschaftstransformation in der Slowakei während des Bestehens der Föderation und deren zweite Etappe in den ersten Jahren der Eigenständigkeit wurden faktisch durch diese Finanzinstitutionen gesteuert. Erst in der dritten Etappe trat die Vorbereitung auf den Beitritt zur Europäischen Union immer mehr in den Vordergrund, die in der institutionellen Sphäre bedeutete, den Besitzstand acquis communautaire anzunehmen. Doch die Forderungen im wirtschaftspolitischen Bereich, die von den internationalen Finanzinstitutionen gestellt wurden, blieben praktisch auch seitens Brüssels identisch.

Das Transformationsszenario der Schocktherapie ging von einer schnellen Privatisierung der Großunternehmen aus, der sogenannten Große Privatisierung. Die Kleine Privatisierung dagegen verlief in Form der Versteigerung mit dem Verkauf von Kleinbetrieben, Die Coupon-Privatisierung wurde im Rahmen der Großen Privatisierung umgesetzt. Diese Coupon-Privatisierung war ein Vorgehen, durch das abgesichert werden sollte, dass das Vermögen des Staates in die Hände der Bürger der ČSFR und später der Tschechischen und Slowakischen Republik gelangte. Die erste Welle wurde noch während des Bestehens der Föderation vorbereitet und umgesetzt. In der Tschechischen Republik liefen zwei Wellen der Coupon-Privatisierung, in der Slowakei nur eine Welle – während der Amtszeit der rechtsgerichteten Regierung von Ján Čarnogurský mit dem Privatisierungsminister Ivan Mikloš. Dessen Bemühung nach dem Motto – der Staat ist ein schlechter Besitzer – bestand darin, das Privatisierungspaket mit einer maximalen Anzahl an Großunternehmen, einschließlich der größten Bank – der Allgemeinen Kreditbank (VÚB) – und der Ostslowakischen Eisenwerke (VSŽ) zu schnüren.

Die Coupon-Privatisierung hatte jedoch mehrere ernsthafte Mängel, die zum Zerfall der Unternehmen in der Slowakei beitrugen. Das Ergebnis war ein zerstreuter Besitz der Unternehmen in den Händen von hunderten oder tausenden kleinen Investor*innen und das damit verbundene große Problem, das als «principle agent problem» bekannt ist. Das bedeutete, dass die zerstreuten Inhaber*innen faktisch keinen Zugriff auf das Management der Unternehmen hatten, das dann vor allem die eigenen Interessen und nicht die Interessen der Aktionär*innen umsetzte. Es entstanden auch Investitionsfonds, die einen gebündelteren Besitz repräsentieren konnten, aber die unzulängliche Gesetzgebung und die fehlende Kontrolle hatten zur Folge, dass auch diese keine bessere Alternative waren.

Auch die Privatisierung nach Mečiar, die auf direkten Verkäufen fußte, generierte keine neuen verantwortungsvollen Inhaber*innen Die Privatisierung hatte entgegen den Erwartungen das «Leersaugen» der Unternehmen (englisch: asset stripping), langwierige Konkurse von Unternehmen und deren Bankrott zur Folge. Die ersten Versuche der aufkommenden Finanzhaie, wie zum Beispiel private equity, die der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering einst Heuschrecken nannte, besiegelten den Untergang Dutzender Unternehmen. Das Ergebnis war in den ersten Jahren der Transformation somit der Anstieg der Arbeitslosigkeit und der soziale Ausschluss der Arbeitslosen. Zu der am meisten betroffenen Gruppe gehörten und gehören auch heute noch die Sinti und Roma.

Das zweite Problem der Coupon-Privatisierung und der Privatisierung nach Mečiar bestand darin, dass die neuen Inhaber*innen weder neues Kapital noch Know-how in die Unternehmen einbrachten. Der akute Kapitalmangel, die angespannte Bilanzsituation der laufenden Zahlungskonten, die dahinsiechenden Unternehmen und die hohe Arbeitslosenquote waren triftige Gründe dafür, dass die Regierungen sich bemühten, ausländische Investoren anzulocken. Erst der Beitritt der Slowakischen Republik zur OECD im Jahre 2000 und die Perspektive des Beitritts zur EU nach dem Fall der Regierung von Mečiar ließen eine günstigere Situation entstehen. Die Slowakische Republik, die beim Erlangen von direkten ausländischen Investitionen damals ganz hinten anstand, war nun imstande, die ersten bedeutsamen Investoren zu gewinnen. Die Slowakische Republik wurde für sie durch das Gewähren von Steuervorteilen und anderer Investitionsanreize seitens der Regierung, aber insbesondere durch das geringe Lohnniveau, das dem Niveau der qualifizierten Arbeitskraft und der Arbeitsproduktivität keineswegs entsprach, zu einem attraktiven Land. Das geringe Lohnniveau war einer der Gründe, warum die Slowakische Republik zur Montagehalle der Automobilindustrie geworden ist und warum es lang dauern und schwierig sein wird, sich aus diesem Fluch heraus zu manövrieren.
 

Bratislava, den 28. September 2020


[1] Einen Durchbruch bei der Analyse des Transformationsprozesses brachte die Erkenntnis, dass die Hauptideologie der wirtschaftlichen Transformation die neoliberale Ideologie und das sich daraus ergebende ökonomische Modell ist. Die Autor*innen Dorothee Bohle und Béla Greskovits klassifizierten in ihrem Buch Capitalist Diversity on Europe´s periphery die Transformationsmodelle als 1. das neoliberale kapitalistische Modell (in den baltischen Staaten), 2. den sogenannten  verankerten Neoliberalismus (in den Staaten der Visegrád-Gruppe) und 3. das neokorporatistische Modell (in Slowenien). Die ersten beiden Modelle unterschieden sich nicht allzu sehr voneinander. Slowenien dagegen war nicht auf die Kredite des IWF angewiesen, die ein neoliberales Transformationsszenario vorausgesetzt hätten, da es über hinreichende Devisen verfügte. Außerdem hatte Slowenien während des sogennanten Sozialismus-Selbstverwaltungsmodells, das im ehemaligen Jugoslawien bestanden hatte, dessen am höchsten entwickelter Bestandteil Slowenien war, bereits Grundlagen einer Marktwirtschaft errichtet und relativ gute Anbindungen an die westlichen Märkte.

[2] «There is no alternative» ist das bekannte Schlagwort der konservativen britischen Premierministerin Margaret Thatcher.

[3] Es gab auch Initiativen der sozialdemokratischen Parteien bzw. Stiftungen, die ein anderes Szenario der Transformation vorschlugen, jedoch keinen Erfolg hatten. Als Beispiel sei der Vorschlag der Expertengruppe unter Federführung des Ökonomen und Berater Bruno Kreiskys,  Egon Matzner, von 1992 angeführt: Der Markt-Schock. Eine Agenda für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufbau in Zentral- und Osteuropa.