Verwirrt reibt man sich die Augen: Götz Aly, dem wir die meisterliche Analyse jener materiellen, geo- bzw. bevölkerungspolitischen Motivationen verdanken, die die Entwicklung hin zum Völkermord dynamisierten, wenn nicht, so seine damalige These, initiierten – dieser ökonomistisch argumentierende Götz Aly mutiert jetzt zum deutschen Goldhagen und vertritt das Gegenteil: Ein essenzieller deutscher Judenhass soll plötzlich alles erklären?
Zugegeben, Material dafür liefert die deutsche Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts genug, und Alys Studie ist, wie immer, konsequent «aus den Quellen» gearbeitet. Neben der Paraphrasierung zahlreicher «klassischer» antisemitischer Texte gelingen ihm dabei durchaus eindrucksvolle Schilderungen etwas des sozialen Elends der «Franzosenzeit» oder der Not während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Allerdings lohnt es sich manchmal doch, die Forschungen der Kollegen zu rezipieren: So haben Studien zu den Napoleonischen Kriegen nachgewiesen, dass sich der damalige Hass zunächst eindeutig gegen die Franzosen richtete und erst Jahre später, in der Restaurationszeit, judenfeindliche Züge annahm – anders als nach dem Ersten Weltkrieg, als das doppelte Feindbild des «jüdischen Kriegsgewinnlers/Bolschewisten» schon parat lag, um die Wirren der Kriegs- und Revolutionszeit zu erklären.
In den Quellen hat der Autor auch manch bemerkenswerte Einsicht luzider Zeitgenossen aufgetan, wie etwa die literarischen Zukunftsfantasien eines Siegfried Lichtenstaedter oder die kluge Bemerkung des liberalen jüdischen Politikers Ludwig Bamberger, der Antisemitismus sei das Ergebnis «eines sich über sich selbst unklaren Gefühls». Für die in jüngster Zeit zunehmend in den Blick der Forschung geratene Bedeutung von Emotionen als Triebkräfte in der Geschichte finden sich hier zahlreiche Beispiele – ob allerdings «Neid» oder «Scham» wirklich als historische Analysekategorie dienen können, wäre erst noch zu diskutieren und vor allem genauer zu belegen.
Im spezifischen Fall des Antisemitismus begibt man sich damit jedenfalls schnell in die Nähe der längst überholten Realkonfliktsthese. Die einseitige Fixierung auf antisemitische Texte hat aber auch noch einen anderen Nachteil: So wimmelt es in diesem Buch nur so von flinken, kecken, quicken, beweglichen, schlagfertigen, intelligenten und natürlich reichen Juden, und, ja, auch Jüdinnen. Zugegeben, die Geschichte der langsamen, faulen, dummen und armen Juden und Jüdinnen ist noch nicht geschrieben worden. Aber es gab sie durchaus, wie ein Blick in Fürsorgeakten, Auswandererlisten oder Taufgespräche zeigen könnte. Natürlich stimmt es: Die deutsch-jüdischen Familien im 19. Jahrhundert erlebten in ihrer Mehrheit einen rasanten sozialen Aufstieg, und dies hatte u. a. auch etwas mit ihrer hohen Wertschätzung von Bildung zu tun. Aber wenn man die keineswegs kleine Zahl der jüdischen Aufstiegsverlierer und «Durchschnittsjuden», der kleinen Händler, Konfektionäre und Ladenbesitzer, wenn man all dies nicht wenigstens erwähnt, dann muss man sich den Vorwurf gefallen lassen, die antisemitischen Zerrbilder, nun ins Positive gewendet, zu reproduzieren. Ganz abgesehen davon, dass es schon auch den einen oder anderen gebildeten Protestanten – man lese nur Uffa Jensens glänzende Studie über die «Gebildete Doppelgänger»[1] – oder gar die eine oder andere kecke Katholikin gegeben haben wird.
Wie gesagt, manchmal wäre es hilfreich, die Erkenntnisse von vier Jahrzehnten Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte zu rezipieren und damit auch den z. T. regional und lokal sehr unterschiedlichen Alltag deutsch-jüdischer Beziehungen zur Kenntnis zu nehmen. Oder man könnte autobiografische Schilderungen wie die eines Max Fürst zur Hand nehmen, um das (eigene?) Bild des deutschen Judentums etwas zu konterkarieren: Dort nämlich, in der Erinnerung an die Lebenswelt seiner Eltern um 1900, beschreibt der Autor hingebungsvoll die vielen deutsch-jüdischen Spießer, bornierten Gemeindefunktionäre und saturierten Lokalfeuilletonisten, die auch nicht der geringste Hauch von kultureller Avantgarde umwehte.
Aber Aly interessiert sich im Grunde nicht für die deutsch-jüdische Geschichte. Vielmehr geht es ihm um eine Neuauflage der Sonderwegsthese, die zwar ohne Vergleiche zur Entwicklung in den Nachbarländern auskommt, dafür aber «das Volk» als Subjekt wiederentdeckt: Als solches braucht es eine gefestigte Identität und eine «selbstsichere Gelassenheit», denn, so Aly, nur «in sich ruhende Völker verkraften Niederlagen relativ leicht» (S. 155). Das deutsche Volk aber, man ahnt es, ruhte nicht in sich, verlor ein paar Kriege und schon ging alles schief. Nicht der Nationalismus also ist das Problem, sondern die spezifisch dumpf-deutschen Massen, die geprägt waren von falschen Gleichheitsvorstellungen und einem rasenden Sozialneid. Und wer ist schuld an dieser Fehlentwicklung? Natürlich Alys neuer (und alter) Lieblingsfeind, die Sozialdemokratie. Diese habe, durch die Fixierung auf das Ideal der Gleichheit, auf Bildungs- und Aufstiegschancen für alle, letztlich über die Stimulation von Neid und Missgunst als dominanten gesellschaftspolitischen Gefühlen den Judenhass zwar ungewollt, aber dennoch mit fataler Konsequenz gefördert: «Auch deutsche Freiheitshelden und Demokraten […] ebneten Wege, die am Ende nach Auschwitz führten» (S. 70).
Das ist nicht nur historisch mit der Brechstange gearbeitet, sondern auch und vor allem ärgerlich, denn eine solche Interpretation lässt systematisch alles weg, was nicht in das Freund-Feind-Schema passt (den «jüdischen Bolschewismus» z. B.) – oder anders ausgedrückt: Aus Minderwertigkeitsgefühlen gespeiste Ressentiments können sich gegen alles Mögliche richten, gegen «die Herrschenden», gegen Polen und Franzosen, gegen Schwule oder Juden. Es bedarf aber schon bestimmter Denktraditionen und ideologischer Versatzstücke und nicht zuletzt einer ausgefeilten Propaganda, um daraus ein bestimmtes Feindbild zu konturieren. Da er all dies ausblendet, um seine eine große These zu untermauern, läuft Alys Argumentation letztlich darauf hinaus, die gesellschaftlichen Eliten aus ihrer historischen Verantwortung zu entlassen – nicht zuletzt vielleicht ein Grund, warum das Buch in manchen Kreisen so wohlgelitten ist.
Ein weiterer mag im reißerischen und ärgerlichen Titel liegen: So soll hier am Ende doch zumindest erwähnt werden, dass die Juden, um die es in diesem Buch geht, Deutsche waren. Punkt.
Aber auch sonst führt der Titel in die Irre, handelt es sich doch um zwei völlig unterschiedliche Fragen, von denen Aly tatsächlich nur die erste zu beantworten versucht. Warum die Juden ins Zentrum des Hasses gerieten, darüber erfahren wir nichts. Der christliche Antijudaismus kommt nur am Rande vor, Religion ist eben keine Kategorie, die sich mit materieller Vorteilnahme erklären lässt. Ohne religiöse Traditionen jedoch sind die späteren Feindzuschreibungen gar nicht denkbar. Aber der Autor ist, wie gesagt, ohnehin mehr an «den Deutschen» interessiert, und hier fehlt die Nachfrage: Warum was? Warum waren die Deutschen im 19. Jahrhundert Antisemiten? Warum waren sie 1933 so aggressiv, mitleidlos, indifferent? Oder warum ermordeten sie zehn Jahre später sechs Millionen Juden? Der Titel suggeriert natürlich eine Antwort auf Letzteres, aber gerade Aly weiß sehr genau, dass sich der Holocaust eben nicht allein durch den Antisemitismus erklären lässt und auch nicht durch irgendeine andere monokausale Deutung. Um unser Verständnis davon immer weiter voranzutreiben, ist eine vielfältige, in der Fragestellung heterogene, nach Zeit und Raum differenzierende penible Forschung vonnöten, die nur in der offenen wissenschaftlichen Kommunikation zu leisten ist und nicht im monologischen Durchmarsch.
[1] Uffa Jensen: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestantismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005.
Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass. Frankfurt a. M. 2011: S. Fischer Verlag, (354 S., 12 €).
Die Besprechung erschien im Jahr 2012 in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft60 (2) des Berliner Metropol Verlags.