Nachricht | Paul: Suhrkamp Theorie. Eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg; Leipzig 2022

Aus dem Inneren des Suhrkamp Verlages

Information

Das Jahr 2023 ist reich an vielerlei Jubiläen, darunter auch 50 Jahre der Buchreihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft, landläufig als stw bekannt. Schon die bloße Aufnahme in diese Reihe bedeutet, dass ein Titel breit wahrgenommen wird, ist also nach wie vor sehr anstrebenswert, gerade auch für linke Wissenschaftler_Innen und die bitter nötige Verbreitung linker Theorien und Debatten. Wenig bekannt ist, dass es zuvor – und dann bis 1986 parallel – die suhrkamp Reihe Theorie gab, in der so einige Klassiker erschienen und von der viele Titel in die stw übernommen worden sind und weitere Auflagen erfuhren.

Morten Paul widmet sich in dem auf seiner Doktorarbeit basierenden Buch eingehend der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Reihe. Er ordnet sie historisch in den Kontext der allgemeineren, bundesrepublikanischen Buchentwicklung, wiederum eingebettet vor allem in die linke Theorie- und Organisationsgeschichte, ein und legt einen gewichtigen Beitrag zur Geschichte des akademischen Buch- und Verlagswesens vor, die selbst zugleich essenzieller Bestandteil der – mit Blick auf AutorInnen und Themen – linken Publikations- und Verlagshistorie ist. Als Grundlage zieht er in erster Linie ausführlich Briefe und Dokumente der maßgeblich beteiligten Herausgeber und Lektoren (durchgehend weiß und männlich) aus dem Verlagsarchiv heran, außerdem hat er mit mehreren Beteiligten, Zeitzeugen und Verlagsmitarbeiter_Innen Gespräche geführt, deren Resultat indirekt in den Text einfließen. Die Dissertation ist im Kontext einer größer angelegten Erforschung des Nachlasses von Siegfried Unseld, dem damaligen Verleger des Verlages, am Deutschen Literaturarchiv Marbachentstanden. Das Buch reiht sich damit ein in die jüngere Zeitschriftenforschung und Intellektuellengeschichte, wie sie u.a. von Neuffer und Bebnowski zur alternative und Prokla und Argument betrieben wurde.

Dem Autor gelingt es, Einblick in das spannungsreiche Innenleben eines kapitalistisch agierenden Verlages zu geben, der sich mit der Theorie-Reihe anschickte, den rein literarischen Wirkungsbereich zu verlassen und systematisch zu versuchen, im akademischen Raum Wirkung zu entfalten. Vor Augen geführt wird, wie viele – nach außen hin unsichtbare – Ressourcen in materieller wie menschlicher Hinsicht verschlissen wurden, die Reproduktionsbedingungen geraten in den Blick. Es wurde von Beginn an heftig gerungen: wie die Reihe prinzipiell konzipieren, welcher Anspruch wird erhoben und kann dieser eingelöst werden, welchen Über-Titel soll die Reihe tragen, wie soll das Buch an sich als Produkt aussehen? Welche Herausgeber – es werden schließlich, für Jahre prägend und auch gut honoriert, Jürgen Habermas, Dieter Henrich und Jacob Taubes, – sollten, auch zu welchen Bedingungen, beteiligt sein? Wie gelangt man an die in Frage kommenden Titel? Wie ist es mit Übersetzungen? Wie ist die Reihe in das gesamte Verlagsgeschäft einzuordnen? In welchem Verhältnis stehen Aufwand und – insbesondere materieller – Nutzen? Der wirtschaftliche Erfolg wie der wissenschaftliche Ruf waren letztlich nicht übereinzubringen.

In sechs Kapiteln, die auch nur für sich gelesen werden können, geht der Autor diesen und noch vielen weiteren wichtigen Aspekten nach. Die vielfältigen, untereinander durchaus gegenläufigen Interessen der Beteiligten spielten ebenso eine Rolle, wie die – breiter geführte – Debatte darum, was überhaupt Sinn und Zweck von Theorie ist. Die Bedeutung von Sprache, Darstellung und insbesondere Buchgestaltung und -vertrieb für den Suhrkamp-Verlag arbeitet Paul heraus. Auch andere Verlage und deren Aktivitäten werden beleuchtet. Die Geschichte der Reihe Theorie verläuft in keiner Weise gradlinig, und geht schließlich, 1986 beendet, in gewisser Hinsicht in die seit 1973 erscheinende stw über, deren Erfolg und Verbreitung die Vorgängerin – und wenn man so will, auch Experimentierobjekt – unsichtbar macht. Morten Paul hat sie dem Vergessen entrissen. Der vorliegende Band selbst wiederum ist in einer ungewöhnlichen Gestaltung erschienen. Der Text ist in einem angenehmen Blauton gedruckt, Fußnoten und Zitate sind farblich hiervon abgehoben, das Buch in einem großen Format gedruckt. Die umfangreich hinzugezogene Sekundärliteratur lädt zur weiteren eigenen Lektüre ein. Die behandelte Theorie-Reihe selbst wird den Leser_Innen mit diversen Fotos anschaulich nähergebracht und alle in ihr erschienenen Titel sind am Ende bibliografisch ausführlich dokumentiert. Sechs wichtige Dokumente sind in voller Länge abgedruckt. Abgerundet wird der Band durch ein hilfreiches Namensregister, das die nachträgliche, wenn man spezifische Personenkonstellation erneut nachvollziehen möchte, Navigation erleichtert.

Morten Paul: Suhrkamp Theorie. Eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg; Spector Books, Leipzig 2022, 350 Seiten, 34 Euro