Israel erlebt in diesen Tagen und Wochen eine historisch offene Situation mit unklarem Ausgang. Seit Amtsantritt der mittlerweile sechsten Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Dezember 2022 hat sich der ohnehin schon raue politische Diskurs nochmals verschärft. Die nunmehr seit zwölf Wochen andauernden Proteste mit wöchentlich hunderttausenden Teilnehmer*innen gegen die Politik der Regierung, vor allem gegen die geplante «Justizreform» zur radikalen Schwächung der unabhängigen Gerichtsbarkeit im Land, halten unvermindert an. In der Nacht vom 26. auf den 27. März erlebten wir einen Kipppunkt der Demonstrationen infolge der Ankündigung Netanjahus, den amtierenden Verteidigungsminister, Yoav Gallant, infolge seines Aufrufs zum Stopp der aktuellen Reformvorhaben zu entlassen.
Gil Shohat leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.
Zur massiven Protestbewegung hinzu kam am 27. März ein Generalstreik des Dachverbands der Gewerkschaften Histadrut, zu dem auch Arbeitgeberverbände, Universitäten und Ärzteschaft aufgerufen hatten. Netanjahu sah sich schließlich gezwungen, die Verabschiedung zentraler Punkte der «Reform» zu verschieben, garantierte allerdings seinen rechtsradikalen Koalitionspartnern zugleich eine bewaffnete «nationale Miliz» unter direkter Führung von «Sicherheitsminister» Itamar Ben-Gvir (anstatt der israelischen Polizei).
In den drei Monaten zuvor hatte sich der Druck auf die amtierende, international zunehmend isolierte Regierung stetig verschärft. Die israelische Währung (Shekel) verliert seit Wochen an Wert, Anleger und Unternehmen schaffen ihr Vermögen aus dem Land. Da immer mehr Armee- und Geheimdienstangehörige drohen, dem Dienst fernzubleiben, warnen führende Militärs und Sicherheitsleute immer eindringlicher vor einer wachsenden Gefahr für Israels nationale Sicherheit.
Der Angriff auf die Gewaltenteilung
Der zentrale Grund für diese Entwicklung liegt in der atemberaubenden Geschwindigkeit und Radikalität, mit der die ultrarechte und in Teilen rechtsextreme Koalition um Netanjahu, Justizminister Yariv Levin, Finanzminister Bezalel Smotrich und den Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, Gesetzesentwürfe durch die Ausschüsse und die Vollversammlung der Knesset peitschen. Das Hauptziel dieser Koalition ist nicht weniger als der endgültige Sieg über liberale (einschließlich rechtsliberale) Kräfte in Israel sowie die Zementierung ihrer autoritären Agenda durch eine massive Begrenzung der Räume für gesellschaftliche, politische und juristische Kontrolle und Opposition.
Die nun aufgeschobenen, doch keineswegs aufgehobenen Gesetzesvorhaben wurden teilweise bereits in erster oder zweiter Lesung verabschiedet. Sie sehen einen wachsenden Einfluss der Regierung auf die Berufung der Richter*innen des Obersten Gerichtshofs vor. Dies gilt vor allem mit Blick auf die Möglichkeit, Entscheidungen des Gerichtshofs bezüglich der Vereinbarkeit neuer Gesetze mit den sogenannten Grundgesetzen des israelischen Staates (Israel verfügt seit Staatsgründung 1948 weder über eine Verfassung noch über eine endgültig definierte Staatsgrenze) mit einer einfachen Mehrheit von 61 der 120 Knesset-Mitglieder zu überstimmen.
Die Bezeichnung dieser Gesetzesvorhaben variiert je nach politischer Couleur: Was die Anhänger*innen als «Justizreform» bezeichnen, nennen die Gegner*innen «juristischer Umsturz». Das Oberste Gericht wird seitens der israelischen Regierung – ähnlich wie etwa in Polen, Ungarn, der Türkei oder auch den USA unter Trump – mithilfe von Verschwörungserzählungen als Verkörperung einer nicht legitimierten Elite («der tiefe Staat») dargestellt, die durch die Kassierung von Gesetzen eine ihr nicht zustehende politische Macht ausübe. Dabei geht es auch um die Frage, ob der wegen schwerer Korruptionsvorwürfe angeklagte Netanjahu durch das Gericht für amtsunfähig erklärt werden könnte; die Hürden dafür wurden in der vergangenen Woche durch ein neues Gesetz massiv erhöht.
Doch die derzeitige Regierung begnügt sich nicht mit diesem offenen Angriff auf die Gewaltenteilung. Weitere auf den Weg gebrachte Gesetzesvorhaben beinhalten die oben genannte Bewaffnung von Bürgermilizen zur Unterstützung der Polizeiarbeit, eine stärkere Kontrolle über Berufungsverfahren an Universitäten und die Zerschlagung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Sage und schreibe 140 Gesetzesvorhaben wurden bis zum 24. März bereits auf den Weg gebracht. Drängende innenpolitische Themen, die die Regierung hingegen nicht bearbeitet, sind soziale Fragen wie die immer stärker wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Zentrum und Peripherie, die horrenden Lebenshaltungskosten, die Wohnungsnot in Ballungsräumen wie Tel Aviv, der Lehrkräftemangel an Schulen und Kindertagesstätten, die ausufernde Waffengewalt und die damit zusammenhängende Zahl an Morden (vor allem an Frauen) sowie die massive Ausbeutung marginalisierter Gruppen (etwa Palästinenser*innen aus Gaza und dem Westjordanland, Geflüchtete ohne Aufenthaltsstatus, Gastarbeiter*innen) auf dem Arbeitsmarkt.
Die aktuelle Protestbewegung ist, wie ihre Breite und ihre zunehmende Betonung der Gefahr der nationalen Sicherheit belegen, eine mehrheitlich patriotische, zentristische Bewegung. Die überwiegende Mehrheit der Demonstrierenden versteht sich als selbst als Verkörperung des «wahren», weil demokratischen, israelischen Patriotismus, wie die inflationäre Verwendung israelischer Fahnen belegt. Demnach sei es, wie der vorherige Ministerpräsident und jetzige Oppositionsführer Yair Lapid feststellt, patriotische Pflicht, nicht unter einer Regierung zu dienen, die den demokratischen Charakter des Landes unterminieren wolle. Auch erkennt die Protestbewegung in Netanjahus Winkelzügen lediglich den Versuch, seine eigene Macht zu sichern. Es überrascht daher nicht, dass die Proteste auch nach seiner Erklärung einer «Pause» weitergehen.
Israelische Linke im Dilemma
Für die stark dezimierte Linke des Landes stellen die massiven Proteste aufgrund der patriotischen und die Leerstellen der israelischen Demokratie ausklammernden Grundhaltung ein Dilemma dar. Der überwiegende Teil der Demonstrierenden und der Redner*innen beschwört die Stärke der israelischen Demokratie und scheint mit der Forderung nach «Demokratija» eine Beibehaltung des Status Quo zu meinen. Damit setzt sich der strukturelle Ausschluss der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels fort, die diesen Demonstrationen denn auch mehrheitlich, wenngleich nicht vollständig, fernbleiben. Sie finden sich ganz überwiegend nicht in den national aufgeladenen Formeln und Symbolen wieder und werden, so kritisieren Vertreter*innen der palästinensischen Zivilgesellschaft und Politik in Israel, kaum in die Protestbewegung eingebunden. Teilweise ist es auch vorgekommen, dass Reden palästinensischer Aktivist*innen in Israel im Vorhinein abgeändert werden sollten, da sie aus Sicht der Veranstalter*innen zu radikal waren.
Dennoch gibt es – zumindest auf den wöchentlichen Demonstrationen in Tel Aviv und Haifa – einen signifikanten «Anti-Besatzungsblock» mit Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie der Parteien Hadash und Meretz. Dort wird die strukturelle Diskriminierung der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels angeprangert und die Unvereinbarkeit von Demokratie mit einer seit fast 56 Jahre währenden, völkerrechtswidrigen Besatzung des Westjordanlands kritisiert. In der Tat darf man nicht übersehen, dass die Netanjahu-Regierung eine weitere Eskalation ihrer Siedlungspolitik, trotz anderslautender Beteuerungen Netanjahus in der internationalen Arena, massiv vorantreibt. Erst in der vergangenen Woche hat die Knesset das 2006 verabschiedete Gesetz zur Räumung illegaler Außenposten im nördlichen Westjordanland kassiert und damit scharfe Kritik aus den USA und der EU auf sich gezogen. Im Einklang mit den inzwischen fast täglichen, oftmals tödlichen Einsätzen der israelischen Armee und der sich ausweitenden Gewalt israelischer Siedler*innen, wie zuletzt beim von der Armee weitgehend zugelassenen Pogrom von Huwara, belegt dies, dass die auf den ersten Blick «innenpolitischen» Konflikte Israels auch schwerwiegende Konsequenzen für die palästinensische Bevölkerung auf beiden Seiten der «grünen Linie» zeitigen.
Die Netanjahu-Regierung als Teil des globalen Autoritarismus
Die Einordnung der israelischen Regierung in den globalen Autoritarismus kann helfen, die sich aktuell überschlagenden Geschehnisse analytisch besser zu fassen. Denn dabei wird zum einen ersichtlich, dass die Netanjahu-Regierung in der Tat ganz ähnlich vorgeht wie rechtspopulistische und rechtsradikale Regierungen in anderen Ländern. Hinzu kommt zum anderen, dass vor allem der diskursive Unterton Ausdruck einer lang anhaltenden rechten Hegemonie im Land (mit und ohne Netanjahu an der Regierung) ist, die sich nun immer stärker in autoritärer politischer Programmatik niederschlägt.
Man muss indes zugleich betonen, dass die Einordnung der politischen Entwicklungen in globale autoritäre Trends nicht hinreicht, da Israel zu alldem auch noch Besatzungsmacht ist – mit allen damit einhergehenden Konsequenzen für die demokratische Verfasstheit. Nicht zufällig weitet die radikale Rechte derzeit die Kategorisierung von Staatsfeinden aus. Was in Bezug auf die Palästinenser*innen etwa häufig unter der Bezeichnung «Terroristen» subsumiert wird, findet in Bezug auf die Antiregierungsproteste seinen Widerhall in der Bezeichnung «Anarchisten», die vor allem Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir gerne zur Diffamierung der Protestbewegung nutzt. Der Feind wird also nicht mehr nur außen, sondern auch innen ausgemacht. Die sich nun aufbauenden Proteste ultrarechter Gruppierungen, auf denen Parolen wie «Linke sind Verräter» skandiert werden, tragen ihr Übriges zur Zuspitzung der Lage bei.
Quo vadis, Israel?
Wie kann eine linke, progressive Reaktion auf diese dramatische Situation aussehen? Darüber wird derzeit intensiv diskutiert. Es gilt zunächst einmal anzuerkennen, dass die massive Mobilisierung der Bevölkerung die (noch vorhandenen) demokratischen Räume nutzt, um ihren Protest vorzutragen. Dieser Möglichkeitsraum wird derzeit dafür genutzt, inklusive und progressive Ideen zur Zukunft des Landes zu entwickeln – jenseits von einer befürchteten «Faschisierung» Israels einerseits und einer bedingungslosen «Loyalität zur Unabhängigkeitserklärung» anderseits. Der ehemalige Knesset-Abgeordnete Dov Khenin nannte dies kürzlich in einem Beitrag für die Tageszeitung «Haaretz» einen «aufbauenden Widerstand». Das bedeutet gleichzeitig, die Politik der Regierung auch jenseits der nun vertagten Entscheidung zur «Justizreform» in ihrer Gänze zu analysieren – regressive, autoritäre Gesetzesvorhaben werden schließlich weiterhin verabschiedet und treffen vor allem die Schwächsten in der israelischen Gesellschaft (sowie die Palästinenser*innen in Gaza und im Westjordanland).
Israel steht vor entscheidenden Wochen. Wir erleben das Auseinanderbrechen der (jüdisch-) israelischen Gesellschaft und können noch nicht sagen, wohin diese Entwicklung führen wird. Zwar ist die ultimative Konfrontation vorerst abgewendet, doch bleibt weiterhin unklar, wie die Protestbewegung auf die Verlangsamung der «Justizreform» durch Netanjahu reagieren wird – und ob nun auch die radikale Rechte ihren Zorn auf die Straße trägt. Der Protest am Montagabend inklusive gewalttätiger Übergriffe auf regierungskritische Demonstrant*innen und unbeteiligte Palästinenser*innen verheißt nichts Gutes für die kommenden Wochen.
Die ultimative Konfrontation von Judikative und Exekutive in Israel ist fürs Erste aufgeschoben. Jetzt steht das Pessachfest an; ob dies zu einer Beruhigung oder Eskalation der Proteste führt, ist offen. Fest steht jedoch, dass linke Akteur*innen in Israel nicht nur Durchhaltevermögen und Geduld benötigen, sondern auch die Solidarität der internationalen Linken. Das sollte sich auch die deutsche Linke zu Herzen nehmen.