Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte - Shoah und linkes Selbstverständnis - Deutsch-deutsche Geschichte Susan Neiman: Von den Deutschen lernen; Berlin 2020

Für Deutsche und Amerikaner gleichermaßen wichtig

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Mario Kessler,

Kurz nach dem israelisch-arabischen Krieg 1967 schrieb der schwarze Bürgerrechtler Julius Lester, die Erinnerung an sechs Millionen ermordete Juden dürfe nicht den Blick verstellen auf die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam und die Unterdrückung der Schwarzen in den USA. Die amerikanische Gesellschaft sei krank und unfähig, mit diesem rassistischen Erbe fertig zu werden, und dies zerstöre sie.

Sechsunddreißig Jahre später war ich Gastprofessor in Amherst/Massachusetts und erinnerte den dort als Emeritus für jüdische Religionssoziologie lehrenden Lester an seinen Aufsatz. Julius Lester war ins Judentum eingetreten, zum Rabbiner und Religionswissenschaftler ausgebildet, schließlich zum Professor ernannt worden. Er müsse nicht zurücknehmen, was er einst schrieb, sagte mir Lester, aber inzwischen habe er die Universalität des Holocaust begriffen. Kein Verbrechen sonst, auch nicht das der Sklaverei, sei damit vergleichbar.

Rassismus in all seinen Formen ist ein Kernübel der Menschheit, aber der Hass auf die Juden und die Versklavung ganzer afrikanischer Völker auf den amerikanischen Kontinent sind älter als der mit pseudobiologischen Termini operierende «moderne» Rassismus. Dieser berief sich auf eine angeblich bedrohte Volksgesundheit, um die als Schädlinge gebrandmarkten «minderwertigen» Menschen auszustoßen. In Nazideutschland wurden sie vernichtet, und der Umgang mit diesem schlimmsten Erbteil deutscher Geschichte bestimmte die Jahrzehnte nach Hitlers ruhmlosem Ende. Die «Rassengesetzgebung» in den USA war älter als das Nazireich und bestand auch nach 1945 lange fort. «Ich verstehe», sagte ein schwarzer US-Soldat im befreiten Lager Buchenwald, und der Journalist Jonathan Kaufman zitiert ihn, «denn ich habe gesehen, wie Leute gelyncht wurden, weil sie schwarz waren.»

Wie stellt sich das so schlecht wiedervereinigte Deutschland, wie stellen sich die USA diesem Erbe, das beide Gesellschaften in unterschiedlicher Weise gemeinsam haben und das sie doch auch voneinander trennt? Diese Fragen stehen im Zentrum des Buches von Susan Neiman mit dem herausfordernden Titel Von den Deutschen lernen. Es ist ein Lehrstück angewandter Aufklärung.[1]

Die 1955 geborene jüdische Autorin ist im amerikanischen Süden, in Atlanta/Georgia, aufgewachsen. Mit vierzehn Jahren verließ sie die Schule und schloss sich in Kalifornien einer Hippie-Kommune an. Doch ihr Wissensdrang ließ sie auf die Schulbank zurückkehren, wobei sie stets in Antikriegs-Bewegungen engagiert blieb. Am City College in New York erwarb sie extern die Zulassung zum Studium der Philosophie, das sie zum Teil an der Freien Universität Berlin absolvierte. In Harvard wurde sie, nachdem sie dort den BA und den MA erworben hatte, von John Rawls promoviert, dem sie über seinen Tod hinaus wissenschaftlich und menschlich verbunden bleibt. Es folgten eine Assistenzprofessur an der Yale University, dann eine Professur in Tel Aviv. Von dort kam sie im Jahr 2000 an das Potsdamer Einstein-Forum, einer akademischen Begegnungsstätte, die sie seitdem leitet. Neben der amerikanischen und israelischen erwarb sie nach Donald Trumps Wahlsieg die deutsche Staatsbürgerschaft. Susan Neimans Vorfahren wanderten früh genug in die USA ein, um von den Todesmaschinen der Nazis und der quälenden Erinnerung daran weitgehend verschont zu werden. Doch sie wuchs in einem Teil der USA auf, in der die Schwarzen als Menschen dritter Klasse galten und musste in ihrer Kindheit erleben, dass dort auch die Juden nur Menschen zweiter Klasse waren. Die Autorin zeigt überaus einprägsam, wie sie diese Erfahrungen zunächst als unerheblich abzutun suchte und sich dann damit auseinandersetzte.

Das Buch ist eine Kombination von Sozialreport und soziologischer Analyse, reflektiert durch den Blick der historisch denkenden Philosophin. Susan Neimans Leitstern war und ist Immanuel Kant. Mit dem Königsberger Aufklärer sucht sie nach den «Selbstdenkenden», die sich ihres Verstandes bedienen, um die Grenzen der Unmündigkeit zu überschreiten. Um Grenzüberschreitung ging es auch einem anderen, von Susan Neiman genannten Denker, dem Historiker Isaac Deutscher. (17) Dieser sah sich als einen nichtjüdischen Juden (er prägte diesen Begriff), der jenem Erbe des Judentums verbunden bleibt, das die Juden aus dem Ghetto heraus zur Emanzipation führt. Eine solche Emanzipation müsse die Grenzen des Judentums überschreiten, doch gerade der Widerstand der Juden gegen Unterdrückung und Ausgrenzung könne sie befähigen, einen Beitrag zur Befreiung aller Menschen zu leisten. Voraussetzung dafür sei ein vorbehaltloser Internationalismus. Susan Neiman nennt diese Haltung Universalismus, und damit schlägt sie die Brücke von Isaac Deutscher zurück zur Kantschen Aufklärung, deren Erbe sie engagiert verteidigt.

Warum soviel der Worte? Weil ohne sie der Denk- und Arbeitsprozess der Autorin kaum zureichend verstanden werden kann. «Der Holocaust», schreibt Neiman, «ist so sehr zum Paradigma des Bösen geworden, dass wenige sich heute eine Zeit vorstellen können, in der dies nicht selbstverständlich war. Die Deutschen wissen, dass sie einen langen holprigen Weg haben zurücklegen müssen, bevor ihr Land dazu stehen konnte. Mein Interesse gilt vor allem der Frage, was andere von Deutschland lernen können, nachdem die Katastrophe vorbei war. Die Geschichte gibt uns Hoffnung, vor allem den Amerikanern, die sich gegenwärtig darum bemühen, mit ihrer eigenen zwiespältigen Geschichte zurechtzukommen. » (39)

Wer hat das Recht, Vergleiche anzustellen?, fragt Susan Neiman. Die Nazis waren die ersten, die ihre eigene Rassenpolitik mit der amerikanischen verglichen. Lange bevor sie die Macht erlangten, befassten sich die Nazis mit der amerikanischen Eugenik, um ihre «Rassentheorie» zu untermauern. Die Autorin zitiert Tzvetan Todorov, wonach Deutsche über die Singularität, Juden über die Universalität des Holocaust reden sollten. «Ein Deutscher, der von der Singularität des Holocaust spricht, übernimmt Verantwortung, ein Deutscher, der von seiner Universalität spricht, leugnet sie.» (44) Er suche Entlastung; wenn jeder sich auf die eine oder andere Weise eines Massenmordes schuldig gemacht habe, wie hätten gerade die Deutschen es vermeiden können?

Doch sei diese Haltung nach schmerzhaften Denkprozessen einer Vergangenheitsaufarbeitung gewichen; ein Wort, das zu lernen nicht nur eine phonetische Herausforderung für die Autorin war. In Deutschland sei das Interesse an allen Aspekten der Nazi-Vergangenheit, gerade auch der Verantwortung gewöhnlicher Deutscher, gewachsen, wovon eine Vielzahl an Erinnerungsstätten zeuge. Auch in den USA existierten viele Stätten, die an den Holocaust, sehr wenige aber, trotz Fortschritten in den letzten Jahren, solche, die an die Sklaverei erinnerten (ebenso wenig in England). Ein Mahnmal für die Native Americans in Washington, womöglich neben dem Holocaust-Museum, sei kaum denkbar. Der Holocaust als das reine Böse ermöglichte es Amerika, von eigenen Untaten abzulenken. So fehle (oder fehlte bis vor Kurzem) es vielen Amerikanern an Verständnis für den amerikanischen Bürgerkrieg sowie die Jim Crow-Periode, wie die fortdauernden Probleme in der amerikanischen Gesellschaft zeigten. Die politische Kultur der Vereinigten Staaten würde von einer eigenen entsprechenden Vergangenheitsaufarbeitung sehr gewinnen, wie die deutsche Gesellschaft ihrerseits davon gewonnen habe.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit beeinflusse das Bewusste, mehr aber das Unbewusste, schrieb Adorno, woran die Autorin ebenso erinnert wie an Adornos Folgerung: «Greift man uns von außen an, sind wir schnell dabei, uns zu verteidigen.» (73) Sie macht klar, warum Nazis – Massenmörder wie Eichmann und ideologische Vor- und Nachbeter wie Heidegger und Schmitt – ruhiger schlafen konnten als ihre überlebenden Opfer, warum auch die wenigen wirklichen Persönlichkeiten, die an all dies zu erinnern suchten, Ablehnung und später nur gönnerhafte Anerkennung erfuhren, aber keineswegs Wirkung zeitigten, darunter Karl Jaspers sowie Alexander und Margarete Mitscherlich. In einer zweiten Auflage sollte die von Wolfgang Abendroth und seinen Schülern betriebene Forschung zum Arbeiterwiderstand stärkere Beachtung finden. Vom Antifaschismus war ansonsten keine Rede, selbst das Wort war Anathema. Stattdessen dominierten Entlastungsstrategien: Am Häufigsten ging es dabei um die Bombardierung deutscher Städte durch die Alliierten und um die Vertreibung der Deutschen aus den nun ehemaligen Ostgebieten.

Susan Neiman versucht zu verstehen, warum dies nach Kriegsende wohl unvermeidlich war, als die Deutschen sich in den Wirtschaftswunderjahren in Geschäftigkeit betäubten, um vergessen und vergessen zu machen. Sie würdigt die Bemühungen Willy Brandts wie der 68er-Generation, diesen Schleier des gewollten Vergessens fortzureißen, und gelte es, den eigenen Eltern bohrende Fragen zu stellen. Ihr im Ganzen positives (vom Rezensenten nicht geteilte) Urteil zur Regierung Schröder-Fischer begründet sie vor allem mit Anstößen zur offiziellen Erinnerungspolitik, die unter Helmut Kohl undenkbar waren. Als Schlüsselgestalt in der Aufarbeitung der Vergangenheit porträtiert Susan Neiman Jan Philipp Reemtsma, vor allem als Spiritus rector der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht. Diese Ausstellung war für sie, und der Rezensent teilt diese Meinung, wichtiger als die Rede von Bundespräsident Weizsäcker zum – von ihm so bezeichneten – Tag der Befreiung 1985. «Die Helden der Wehrmacht waren zu Opfern und Verlieren geworden. Kein leichter Übergang. Und nun sollten sie sich auch noch daran gewöhnen, Täter zu sein.» (104) Reemtsma ist der Gegenpol zu jenen Halb-Bildungsbürgern, die ein «philiströses Selbstmitleid» pflegten, wenn sie von Adorno, Horkheimer und Benjamin schwärmten. (105) «Der Neid mag Reichtum oder Intelligenz vergeben, selten aber beides», schreibt Susan Neiman über Jan Philipp Reemtsma. (109) Die Angriffe auf die Ausstellung ließ ab 1995 alle Widersprüche in der Auseinandersetzung mit der Geschichte noch stärker aufbrechen als der Historikerstreit neun Jahre vorher.

In Bezug auf die DDR präsentiert die Autorin «eine klare These: In der Aufarbeitung der Nazivergangenheit stand Ostdeutschland besser als Westdeutschland da.» Sie akzeptiert den vom Staat getragenen Antifaschismus nie zum Nennwert und zeigt, wie dieser langsam zur Phrase wurde. Dennoch sei es wichtig, daran zu erinnern, «wie die DDR Westdeutschland in Vielem voraus war.» (120) Dass und wie die DDR früher als die Bundesrepublik den Faschismus verurteilt habe, war – hier zitiert Susan Neiman Hans Otto Bräutigam, den früheren Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in der DDR – «eine der größten Stärken Ostdeutschlands.» (142) Auch andere von der Autorin Interviewte – Friedrich Schorlemmer, Jens Reich, Hermann Simon, Jalda Rebling und Ingo Schulze – betonten, dass der Antifaschismus in der DDR keineswegs nur aufgesetzt war. Von Anfang an gab es hierzu Filme, Bücher und Theaterstücke, und jedes Schulkind besuchte Buchenwald. Von den Deutschen lernen ist auch ein Appell an die Ostdeutschen, sich diesen besseren Teil ihres Erbes nicht nehmen zu lassen und eine Forderung an die Westdeutschen, dieses Erbe als Teil einer demokratischen Erinnerungskultur zu würdigen.

Warum sprachen Juden in der DDR, die Verfolgung, Exil und Lager durchlitten hatten, wenig über ihr Judentum? Vielleicht auch deshalb nicht, weil die Solidargemeinschaft mit ihren nichtjüdischen Genossen aus der Arbeiterbewegung das stärkste Band war? Darauf kam es für sie an! Doch natürlich diente in der DDR das Bekenntnis zum Antifaschismus vielen Menschen auch, jedoch nicht nur, der Selbstentlastung, um endlich auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Immerhin: Laut einer Spiegel-Umfrage zeigten 1990 nach 45 Jahren antifaschistischer Erziehung vier Prozent der ostdeutschen Bevölkerung antisemitische Tendenzen, inzwischen haben die Zahlen die westdeutschen Werte erreicht und überholt. (165) Vielleicht spielt neben allen anderen Ursachen auch der Unwille, sich nach 1990 wieder einem Täter-Kollektiv (als Deutsche wie als Ostdeutsche) zugeordnet zu fühlen, eine größere Rolle bei der Rechtswendung vieler früherer DDR-Bürger, als wir bislang wissen.

1945 waren die meisten Ostdeutschen sowenig wie die Westdeutschen geneigt, von sich aus den Schritt zum Antifaschismus zu vollziehen – eben darum musste ihnen dieser verordnet werden. Doch im Kalten Krieg brauchte der Westen die Expertise derer, die unter Hitler gegen die Sowjetunion gearbeitet hatten. So wurde der Antikommunismus, nur notdürftig von seinen antijüdischen Elementen gereinigt, auf Wiederverwendung geprüft und für geeignet befunden, wie Susan Neiman faktenreich belegt. Die Zahlungen an Israel, die man «Wiedergutmachung nannte und nicht Reparationen, was zu sehr an den verhassten Versailler Vertrag erinnert hätte», sieht die Autorin deshalb als Alibi für die Integration in die antikommunistische Wertegemeinschaft des Westens. (145) Doch habe die politisch gewollte Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus einem noch «dunkleren Zweck» gedient:

In eine der eindringlichsten Passagen des Buches heißt es: «Wenige Wehrmachtssoldaten sind in den Kampf gezogen, um wehrlose Juden niederzumähen, auch wenn nur wenige den Befehl dazu verweigerten, sobald sie an der Front waren. Keine Diktatur kommt sehr weit, indem sie nur ihre Truppen befehligt, sie muss sie begeistern können. Das von den Nazis kultivierte Heldenethos hätte sich nicht dadurch propagieren lassen, dass man Rekruten zur Erschießung bärtiger alter Männer oder zum Aufspießen von Säuglingen aufforderte – auch wenn das tatsächlich geschah. Der Aufruf, Europa gegen die kommunistische Bedrohung zu verteidigen, war dagegen laut, klar und wirkungsvoll.» (149)

So ließ sich das anhaltende Schuldgefühl vieler Westdeutscher beschwichtigen und zugleich der Antikommunismus rechtfertigen: «Je übler die Bolschewiki heute erscheinen, desto besser sehen die Nazis im Rückblick aus.» (150) Doch auch in der DDR habe eine Verdrängung stattgefunden – eine Verdrängung der Verbrechen des Stalinismus, einschließlich dessen Antisemitismus. Hätte die DDR überleben können, fragt Susan Neiman, wenn sie dessen Verbrechen ähnlich hätte aufarbeiten können wie jene der Nazis, wenn sie den Antifaschismus nicht auch benutzt hätte, um Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu verschleiern? Doch werde, dies stellt die Autorin klar, die DDR nicht deshalb verurteilt, weil sie den Antifaschismus missbrauchte, sondern weil sie den Antifaschismus mit dem Sozialismus verbinden wollte und den für Krieg und Massenmord Verantwortlichen wie ihren Hintermännern das Handwerk zu legen suchte.

Der Anstoß zu ihrem Buch kam Susan Neiman jedoch, als Präsident Barack Obama im Juni 2015 neun in Charleston/South Carolina ermordeten Afroamerikanern die Gedenkrede hielt und eine grundsätzliche Aufarbeitung des Rassismus in den USA und seiner Geschichte forderte.[2] Sie fuhr 2016 nach Mississippi, und nach Donald Trumps Wahl zum Präsidenten verbrachte sie einen Teil ihres Sabbatjahres 2017 in Oxford/Mississippi an der dortigen University of Mississippi. Sie ging dort den Spuren der Bürgerrechtsbewegung nach und fragte, wie viel an institutionellem und strukturellem Rassismus im amerikanischen Süden noch stecke. Den Anfang der Bürgerrechtsbewegung sieht sie im Jahr 1955, als die weißen Mörder des 14-jährigen Afroamerikaners Emmett Till freigesprochen wurden und im gleichen Jahr der Bus-Boykott von Montgomery/Alabama ein erstes Zeichen des massenhaften Aufbegehrens gegen den staatlichen Rassismus setzte. Die Verschleppung der juristischen Verfolgung von Emmett Tills Mördern wie auch der Aufarbeitung des Verbrechens kann kaum je vergessen, wer liest, was – und vor allem wie – Susan Neiman darüber schreibt. Hier beten schwarze Christen um Gnade für Emmett Tills Mörder:

«Die Fähigkeit, Hass mit Liebe zu beantworten, bringt die Vernunft zum Verstummen – zumindest zeitweilig. Ich kann das ebenso wenig verstehen, wie ich verstehen kann, warum Schwarze mit dieser Geschichte im Kopf überall in Amerika ihre Kirchentüren und Herzen wieder und wieder für weiße Fremde öffnen. Welch eine Liebe, welch ein Mut. Welch ein Mut, welch eine Liebe.» (352)

Mehr noch als in Deutschland schöpfte sie in den USA aus Interviews, die sie mit Schwarzen und Weißen, mit Männern und Frauen unterschiedlichster Herkunft und Berufe führte. Sie  porträtiert Menschen, die von einem Bildungsweg wie dem ihren nicht einmal träumen durften, voller Achtung und Sympathie. Sie beschreibt die Zustände in Mississippi, dem ärmsten Staat der USA, wo bildungshungrige arme Schwarze (und auch Weiße!) kaum eine Chance haben, aus dem Teufelskreislauf von armer Geburt, Bildungsnachteilen, beruflicher Benachteiligung, einer Gesundheitsfürsorge, die kaum diesen Namen verdient, und frühem Tod herauszukommen (der Rezensent machte ähnliche Erfahrungen als Hochschullehrer in Georgia). Aber sie würdigt auch die großen Anstrengungen von Männern und Frauen in der Verwaltung und im Hochschulwesen, hier wenigstens im kleinen Rahmen Abhilfe zu schaffen. Unermüdlich entdeckt sie Initiativen der Menschen zur Selbsthilfe und gegenseitigen Solidarität überall dort, wo scheinbar nichts mehr geht. Gerade diese Passagen des Buches sind von anrührender Humanität. Nicht an einer einzigen Stelle verfällt Susan Neiman ins Pathos, nirgendwo wirkt sie belehrend. Ihre Sprache ist, wie Jan Plamper in einer gedankenreichen Besprechung des Werkes zeigt, «oft leichtfüßig, also mit Zeigefinger in der Ruheposition.»

Kein Südstaatler rechtfertigt heute mehr die Sklaverei, ebenso wie in Deutschland ein offener Antisemitismus nicht mehr gesellschaftsfähig ist. Die ritualisierten Feiern zu Ehren der Konföderierten-Armeen aber erinnern die Autorin an eine christliche Verherrlichung des Leidens, wie überhaupt der religiöse Fundamentalismus zum Ersatz für den «Lost Cause», die Südstaaten-Konföderation, wurde. (267) Die «ergreifendsten Mahnmale», die während des New Deal gesammelten Stimmen früherer Sklaven, sind hingegen zu wenig im Bewusstsein der Menschen präsent. (271) Das Nichtwisssen über gesellschaftliche Zusammenhänge, darunter bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, machte Trump möglich; dies betont die Autorin wiederholt.

Hier sei daran erinnert, dass Donald Trumps politische Karriere in der Birther-Bewegung begann. Diese verbreitete die Lüge, Barack Obama wäre nicht in den USA geboren, seine Präsidentschaft sei somit illegitim. Doch ist dies nur die schmutzige Kehrseite der ebenso schmutzigen Behauptung, Schwarze würden, redeten sie von Gleichberechtigung, doch nur die weißen Frauen meinen. Die Phantasmagorie von schwarzen Vergewaltigern weißer Frauen aber ist nach Susan Neiman «eine Art Projektion.» Sie heizt Schuldgefühle der Weißen an, weil diese «wissen, dass ihre Vorfahren sich nach Lust und Laune schwarze Frauen genommen haben», und sie glaubten nun, «schwarze Männer würden sich ihre Frauen nehmen.» (250)

Sollte nicht auch die sukzessive Aufwertung der Südstaaten-Armeen seit dem frühen 20. Jahrhundert – bei Unterschlagung der Sache, für die sie fochten – die weißen Angehörigen der feindlichen Armeen miteinander versöhnen? Ist es Zufall, dass im Jahr 1915 der rassistische Film «Birth of a Nation» Triumphe feierte; im gleichen Jahr, in dem der Ku Klux Klan seine Wiedergeburt in einer nächtlichen Zeremonie in Atlanta beging und ebenfalls am gleichen Ort der Jude Leo Frank Opfer eines Lynchmordes wurde? Sind die Schatten von damals wirklich Schatten der Vergangenheit geworden? Susan Neiman erinnert an die drei 1964 ermordeten Bürgerrechtler James Earl Chaney, Andrew Goodman und Michael Schwerner, denen der Film «Mississippi Burning» 1988 ein Denkmal setzte, aber auch an Edgar Ray Killen, der ihren Tod organisierte und dann 41 Jahre lang ein Leben als freier Mann genoss. Sie hat die Nerven, auch Rassisten zuzuhören, die ihr erklären wollten, Schwarze seien von Natur aus kriminell, und dagegen müsse man sich schützen. Schließlich: Wie im Adenauer-Deutschland diente der Antikommunismus als Betäubungsmittel, hier im Bunde mit militantem Rassismus. Universitäten seien doch alle Brutstätten des Kommunismus, wurde der Autorin mehr als einmal entgegen geschleudert.

Schreibt, wer die Macht hat, auch die Geschichte? «Wir hatten zwar eine großartige Bürgerrechtsbewegung, doch den Krieg um das Narrativ haben wir nicht gewonnen», sagte Bryan Stevenson, ein afroamerikanischer Anwalt, der das 2018 National Memorial for Peace and Justice, eine nationale Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der rassistischen Lynchjustiz in Montgomery/Alabama, begründete. (396)

Von den Deutschen lernen ist für Deutsche und Amerikaner gleichermaßen wichtig. Einer amerikanischen Leserschaft rät Susan Neiman, aus der deutschen Aufarbeitung der Vergangenheit zu lernen. Doch nicht nur Deutsche, sondern gerade auch Amerikaner müssten wissen und immer wieder daran denken, dass die Nazis nicht nur Juden umbrachten, sondern auch andere als «minderwertig» angesehene Menschen und Völker – ansonsten würden wir den heutigen Rassismus und selbst den Vietnamkrieg nicht verstehen. Am Anfang aber müsse die Erkenntnis stehen, dass deutsche Nazis und Halbnazis in der AfD wie die heutige extreme Rechte in den USA prinzipiell Faschisten der gleichen Machart sind.

Wie kann in den USA ein Wandel im Geschichtsbewusstsein einsetzen und unumkehrbar werden? Susan Neiman erinnert an Marksteine: an W. E. B. DuBois, Martin Luther King, die Freedom Riders (der Rezensent ist mit einem von ihnen seit fast vierzig Jahren befreundet), an Occupy Wallstreet, Bernie Sanders und die Bewegung Black Lives Matter – und deren Fackel muss durch kollektive Organisation wie durch individuelles solidarisches Handeln weitergetragen werden! Vieles mehr muss hier ungenannt bleiben; die Frage nach Reparationen für die Nachkommen von Sklaven sei nur erwähnt. Beispielhaft ist Susan Neimans Entschlüsselung der vorder- wie der hintergründigen Motive der amerikanischen Erinnerungskultur, besonders der nationalen Denkmale.

Das Buch ist ein Meilenstein in der Literatur zur Erinnerungskultur. Susan Neiman gelingt, was niemandem zuvor gelang: Sie führt voneinander getrennte Erinnerungskulturen erstmals zusammen – von Amerikanern und Deutschen, von Ost- und Westdeutschen, von Juden und Nichtjuden, von schwarzen und weißen Amerikanern. Sie macht klar, dass die jeweilige Aufarbeitung der Vergangenheit zusammengedacht werden kann, dass sie hier wie dort multidimensional und es eine Frage mehrerer Generationen ist, bis die Geschichte zu sich selbst findet.

Aber das Buch bietet mehr als das: Susan Neiman malt mit kraftvollem Pinselstrich ein eindrucksvolles Zeitbild, das die Probleme der Gesellschaften beider Länder durch seine Themenwahl wie in einem Brennspiegel einfängt und bündelt. Sie hebt die Grenzen zwischen Philosophie und Politik, Geschichtsschreibung und Literatur auf, schreibt in brillantem Stil für ein breites Publikum, ohne je einen Deut an Wissenschaftlichkeit aufzugeben. Von den Deutschen lernen wendet sich an eine «bürgerliche» Leserschaft und vermeidet klugerweise eine Terminologie, die auf diese «abschreckend» wirken könnte. Doch wer das Buch mit politischem Verstand liest, merkt: Es ist nicht nur von Solidarität mit den Verlierern der Geschichte getragen, sondern auch von sozialistischem Geist und einem geradezu trotzigen Optimismus, dass aus Verlierern von heute die Gewinner von morgen werden könnten. «Die Geschichte kann man umstoßen», schreibt Bernard Malamud in Der Fixer, und dies hätte gut als ein Motto für Susan Neimans Buch gepasst.

Lassen wir sie noch einmal selbst zu Wort kommen. Als Jüdin hatte sie in Israel gelernt, «dass ich mich mit einem Waffenhändler, der den ethnischen Hintergrund mit mir teilt, unmöglich stärker verbunden fühlen kann als einem Freund aus Chile, Südafrika oder Kasachstan, der dieselben Grundwerte mit mir teilt. Ich bin handelnden Menschen verbunden, keinen Ahnentafeln. Für die Wahl meiner Freunde habe ich eigene Gründe.» (550)

Nach dem Tod Pete Seegers am 27. Januar 2014 sagte Präsident Obama, dieser habe sich mit seiner Stimme «für die Rechte der Arbeiter und die Bürgerrechte, für den Weltfrieden und den Umweltschutz eingesetzt, und er hat uns alle zum Mitsingen dazu aufgefordert.» Wie Pete Seeger ermutigt die Denkerin und Kämpferin Susan Neiman zum Denken und zum Handeln, und sie fordert uns alle zum Mitkämpfen auf.

Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können. Übersetzt von Christiana Goldmann; München: Hanser Berlin, 2020, 575 S., 28 EUR.


[1] Susan Neiman, Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können. Übersetzt von Christiana Goldmann, München: Hanser Berlin, 2020. Die eingeklammerten Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Buch. Das Original erschien 2019 unter dem Titel: Learning from the Germans. Race and the Memory of Evil in New York.

[2] Die Kritik an der mangelnden Auseinandersetzung in den USA mit den Verbrechen der Geschichte Hiroshima und Vietnam) war bereits Teil von Susan Neimans erstem Buch: Slow Fire. Jewish Notes from Berlin (1992).

Erstmals erschienen unter dem Titel: Ein Lehrstück angewandter Aufklärung: Susan Neiman zur Erinnerungspolitik in Deutschland und den USA, in: Sozialismus, Nr. 9/2021, S. 36-40.