Es ist 18:55 Uhr in Santiago de Cuba, Kubas zweitgrößter Stadt im Südosten der Insel. Mitten auf der Straße Carnicería kickt eine Gruppe Kinder einen Ball. In den letzten Jahren ist Fußball im Land des Baseballs ein Volkssport geworden. Wie alle Straßen der Stadt ist auch diese Straße am Freitagabend voll mit Menschen. Plötzlich gehen die Lichter aus, die ganze Umgebung versinkt in dichtem, komplettem Dunkel.
Wieder mal el apagón, der Zeitpunkt, an dem täglich der Strom abgeschaltet wird. In den Fenstern erscheinen nach und nach die Leuchten mit aufladbaren Batterien. Ihr Licht ist weiß und kalt. Aber die Leute auf der Straße scheinen nicht sonderlich besorgt. An einer Ecke hören einige Jugendliche weiter Reggaeton-Musik, tanzen und lachen. Ab und zu werden sie von den wenigen vorbeifahrenden Autos plötzlich angeleuchtet.
Federico Mastrogiovanni, italienischer Journalist, lebt seit 2009 in Mexiko und verbindet dort Lehre und Praxis. Er begleitet indigene Organisationen und Gemeinwesen, soziale und ökologische Bewegungen. Für sein Buch «Ni vivos ni muertos» («Weder lebendig noch tot») über das gewaltsame Verschwindenlassen in Mexiko wurde er 2015 mit der Auszeichnung der mexikanische PEN-Vereinigung geehrt.
Ab jetzt wird dieser Teil der Stadt bis ein Uhr nachts ohne Strom bleiben, während andere Viertel in dieser Zeit Licht haben. Abwechselnd beleuchtete und dunkle Zonen, das ist die Lösung, die die Behörden für die systematische Stromknappheit in Santiago de Cuba, aber auch im ganzen Land, gefunden haben.
Je nach Ort arrangieren sich die Menschen unterschiedlich mit der Situation. An vielen Arbeitsplätzen, beispielsweise an der Universität des Ostens (Universidad de Oriente) in Santiago de Cuba, hat sich das Personal organisiert, um mit der Arbeit kurz nach Mittag fertig zu werden. Danach ziehen sie sich zurück. Oder sie fangen mittags mit der Arbeit an, wenn die Stromversorgung für den Nachmittag vorgesehen ist. Wenn die Behörden die Planung wie beabsichtigt und angekündigt umsetzen, dann gibt es einen Tag Strom am Vormittag und den anderen Tag Strom am Nachmittag. Entsprechend bereiten sich die Menschen vor.
Geschäfte, Bankautomaten, Straßenbeleuchtung, Privathäuser und öffentliche Gebäude, alle sind vom Stromausfall gleich betroffen. Die Leute haben gelernt, wann sie mit dem apagón an der Reihe sind. Sie haben sich daran gewöhnt, sich – zumindest organisatorisch – darauf vorzubereiten, wenn auch mit einem gewissen, wachsenden Grad an Unzufriedenheit, Frust und sozialem Verdruss.
In Santiago de Cuba wird der Strom tagsüber in Intervallen von sechs aufeinanderfolgenden Stunden sowie nachts und bei Tagesanbruch für jeweils vier Stunden abgestellt, um die Auswirkungen möglichst gering zu halten. Die Generation der Kubaner*innen, die nach 1995 zur Welt kam und die enormen Schwierigkeiten der sogenannten «Sonderperiode» (período especial) nicht erlebt hat, kannte bis zum Sommer 2021 keine apagones. Nachdem Kuba diese Phase der tiefen Rezession, die mit dem Kollaps des Ostblocks in Europa zusammenfiel, überwunden hatte, gelang es dem Land, mit Investitionen und zusätzlichen Krediten, seine Kapazitäten für die Stromerzeugung auf der Grundlage fossiler Brennstoffe zu verbessern.
Altertümliche Kraftwerke
Strom wird in Kuba auf zweierlei Weisen erzeugt: Mit Kraftwerken, die fossile Brennstoffe nutzen und über Dampferzeugung Turbinen antreiben, und mit der sogenannten dezentralen Stromerzeugung. Hier handelt es sich um Standortinseln, mit denen der Strom direkt durch Verbrennung von Diesel oder Benzin produziert wird. Über beide Treibstoffe verfügt das Land nicht im Überfluss.
Im Lauf der Jahre hat Kuba seine Stromproduktion rationalisiert, um die Anlagen für die Stromerzeugung zu modernisieren. Diese sind in vielen Fällen bereits 60 Jahre alt und mehr als überholt. Doch das Vorhaben hatte seine bedeutendste Phase um die Jahre 2005 und 2006, seitdem hat Kuba seine Stromkraftwerke nicht mehr umgebaut.
Über einen längeren Zeitraum hat die Insel darauf gesetzt, die Kosten der Stromproduktion zu senken, indem das Land kubanischen Brennstoff nutzte: Rohöl, das auf dem Land und in kubanischen Hoheitsgewässern gefördert wird. Die Fördermenge ist zwar gering, würde es aber laut offiziellen Zahlen ermöglichen, die Nachfrage abzudecken. Allerdings hat der einheimische Treibstoff sehr aggressive chemische Eigenschaften, die die Kraftwerke schädigen. Der kubanische Brennstoff gilt als sehr schwer und stark schwefelhaltig, was die Brennöfen verschmutzt. Die geringe Qualität des kubanischen Rohöls verschleißt die Kraftwerke zur Stromproduktion schneller und reduziert entsprechend ihre Lebensdauer.
So kam es Mitte 2021 dazu, dass nach mehr als 15 Jahren Nutzung ohne radikale Veränderungen des Stromerzeugungssystems mehrere Kraftwerke simultan vom Netz gingen.
Der Mathematiker Enrique Estrada Pato arbeitet als Professor an der Universidad de Oriente. Er lehrt mathematische Analyse und Algebra. Seit Beginn der Stromausfälle im Jahr 2021 sammelt er unermüdlich Informationen, gleicht Daten ab und überprüft die Stromerzeugungskapazitäten im Land. Er ist zum Experten geworden.
«Ich habe monatelang alle verfügbaren Daten abgeglichen, analysiert, systematisiert und durchgerechnet. Ich mache meine Arbeit als Mathematiker», sagt Estrada im Interview, während der Strom in der gesamten Zone dieses Teils von Santiago de Cuba abgestellt ist. «Wenn wir uns den Energiemix Kubas ansehen, dann stellen wir fest: Das Land verfügt mit den etwa 20 über die Insel verteilten Kraftblöcken über eine Produktion von etwas mehr als 2000 Megawatt pro Tag. An den Tagen im Jahr mit besonders hoher Nachfrage, bedeutet diese eine Unterdeckung von durchschnittlich 100 Megawatt bei der Stromkapazität. Selbst wenn wir davon ausgehen würden, dass alle Kraftwerke vollständig betriebsfähig und aufeinander abgestimmt am landesweiten Netz hingen, würde die Nachfrage nicht befriedigt werden. Darum haben wir als weiteren energiebringenden Faktor die dezentrale Stromerzeugung.»
Die Nächte in Kuba sind fast das ganze Jahr über heiß. Fehlender Strom bedeutet, dass die Ventilatoren nicht angestellt werden können. Sich ausruhen in einem Land, in dem die Temperaturen schnell über 30 Grad steigen, ist dann nicht möglich.
Die Stromabschaltungen seit 2021 bewegen sich tagsüber je nach Provinz zwischen sechs, zwölf oder mehr Stunden. Havanna genießt wegen ihres Hauptstadtcharakters einen besonderen Schutz und leidet am wenigsten unter den Stromausfällen. Sie kommen dort nur ein oder zweimal in der Woche vor und dauern maximal vier Stunden. Aber im Rest des Landes ist die Situation schwieriger. Es gibt Provinzen, in denen 90 Prozent der Nachfrage nicht bedient werden können, weil nur zehn Prozent des benötigten Stroms zur Verfügung stehen. Im Ergebnis bleiben ganze Provinzen im Dunkeln. Es gab Zeiten, in denen die soziale Unzufriedenheit groß war, es kam zu einzelnen Ausschreitungen und öffentlichen Demonstrationen, an denen ein bedeutender Teil der Bevölkerung teilnahm. Denn wie erwähnt machen die hohen Temperaturen sogar etwas so Einfaches wie das Ausruhen unerträglich.
Niedrige Tarife für die Bevölkerung
Inmitten der schwierigen Situation sind Investitionen getätigt worden. Kubas Energiemix auf der Grundlage fossiler Brennstoffe ist nicht zeitgemäß, die Behörden setzen auf eine Technologie mit erneuerbaren Energien. Doch die damit produzierte Strommenge ist noch absolut unzureichend, sie deckt gerade zwei Prozent der Nachfrage des Landes ab.
In Kuba gehören die Kosten für die Produktion von einem Kilowatt Strom zu den höchsten der Region. Die Bevölkerung zahlt einen Tarif, der niedriger als die tatsächlichen Kosten der Stromerzeugung ist. Anders gesagt: Der Staat verkauft die Energie zu weniger als den Produktionskosten, um der Bevölkerung den Zugang zum Strom zu garantieren.
Jeden Tag verbreitet die Unión Eléctrica de Cuba, das staatliche Stromunternehmen, über den Messengerdienst Telegram, soziale Netzwerke und das Fernsehen Informationen über die voraussichtlichen Abschaltungen. Oft treffen die Vorhersagen aber nicht zu, weil es viele Unwägbarkeiten gibt.
«Die Behörden bemühen sich, das Stromangebot zu erhöhen und die Auswirkungen zu verringern», meint Professor Estrada abschließend. «Nicht zu lösen, sondern zu verringern. Das heißt weniger lange Stromabschaltungen, denn das Problem an sich hat keine kurzfristige Lösung. Selbst wenn alle Standorte am Netz sind, decken sie die Nachfrage nicht ab. Es ist ein langsamer, teurer Prozess. 15 Jahre lang wurde viel zu wenig an den Kraftwerken gemacht, das müssen wir aufholen.» Und er fügt hinzu: «Manchmal steht die Technologie zur Verfügung, aber es gibt keinen Brennstoff, denn der ist teuer. Er muss importiert werden und die Blockadepolitik der USA verhindert das Anlegen vieler Schiffe. Die Reedereien, die das Öl nach Kuba verschiffen, werden bestraft. Ein Schiff, das an kubanischen Küsten anlegt, darf sechs Monate lang keinen US-Hafen anlaufen.»
Seit Jahren gibt es einen Vertrag mit Venezuela über den Treibstoffimport. Die Liefermengen konnten im Vergleich zu früheren Jahren jedoch aufgrund der Maßnahmen der USA gegen Venezuela nicht aufrechterhalten werden. Auch mit Russland gibt es eine aktive Zusammenarbeit. In den vergangenen Monaten zirkulierten Informationen über russische Öltanker, deren Ladung auf den schwimmenden Plattformen zur Stromerzeugung in der Bucht von La Habana und von Mariel verwendet wurde. Eine Nachricht, die angesichts der kürzlichen Reise des kubanischen Präsidenten Díaz Canel in die Türkei, Russland, China und Algerien aufkam, war, dass Algerien nach Möglichkeit wieder als Treibstofflieferant in Frage kommen könnte.
Die Liebe zur Musik siegt
Den gesamten Dezember des Jahres 2022 gab es keine größeren Probleme. An diesem Tag, es ist der 23. Januar, 16:21 Uhr in Santiago de Cuba: Die Gruppe Folkloyuma tritt im Hof Jutia Conga der Schriftsteller*innen- und Künstler*innenvereinigung Kubas (Uneac) mit ihrem Repertoire afrokubanischer Folkmusik im Rahmen des Jazz Plaza-Festivals auf, einem der wichtigsten und am meisten geliebten Musikevents der Insel. Plötzlich gehen die Mikrofone aus, die Stimmen hören sich an wie auf freiem Feld. Die Musiker *innen performen weiter auf den Fasstrommeln und den Claves, zwei runden Klangstäben. Die Frauen folgen mit ihren Stimmen dem Rhythmus der Trommeln, die Männer tanzen.
Aber etwas ist anders: Der Strom ist weg. Der apagón ist zurück. Langsam verschwindet das Sonnenlicht. Die weiteren vorgesehenen Aufführungen sind gefährdet.
Es scheint so, als werde der Stromausfall die Nacht in Santiago de Cuba verderben. Aber es passiert etwas Anderes, eben, weil es Kuba ist.
Aus dem Publikum erhebt sich ein Mann, stellt sich unterhalb der Bühne hin und beginnt, einen Bolero a cappella zu singen. Noch sind seine Konturen sichtbar, aber seine Gesichtszüge sind nur noch schwer zu erkennen. Das Publikum lauscht ihm schweigend. Als er endet, braust der Applaus auf. Ein einfacher Stromausfall schafft es nicht, die Liebe der Kubaner*innen zu Musik und Kunst auszuschalten.
Nach dem Bolero wechseln sich mehrere Personen aus dem Publikum ab, singen oder tragen Gedichte vor. Eine junge US-Amerikanerin steigt auf die Bühne, radebrecht Spanisch. Ein Kubaner mit einem Kontrabass begleitet sie. Die Leute tun murmelnd ihr Misstrauen gegenüber der jungen blonden Frau kund, aber geben ihr eine Chance. Das Publikum schweigt, die Dunkelheit ist absolut. Nur ein paar Handys werfen Licht auf die junge Frau. Die Stimme intoniert La vie en rose und erobert das anspruchsvolle Publikum. Ein voller Erfolg. Die Leiterin der Veranstaltungsstätte bahnt sich ergriffen den Weg zur Bühne. «Oh wie schön klingt das. Jazz pur.»
Übersetzung aus dem Spanischen: Gerold Schmidt