Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte - Krieg / Frieden - Andenregion Kolumbien: An der Regierung, aber nicht an der Macht

Grundlegende Veränderungen können nur durch gesellschaftliche Kämpfe errungen werden

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Raul Zelik,

Bogota, Kolumbien, 3. August 2023: Der kolumbianische Präsident Gustavo Petro hält eine Rede während einer Zeremonie zum Beginn eines sechsmonatigen Waffenstillstands mit der Nationalen Befreiungsarmee ELN als Teil eines Prozesses zur Herbeiführung eines dauerhaften Friedens.
Im Gegensatz zur FARC strebt die ELN in den Friedenverhandlungen keine politische Repräsentanz an. Im Mittelpunkt steht vielmehr ein gesellschaftlicher Dialog (Mesas de diálogos de paz), der von einem Zusammenschluss von 81 gesellschaftlichen Organisationen in den kommenden zwei Jahren organisiert werden soll. Die Zivilgesellschaft soll im Rahmen dieses Dialogs eine soziale, ökonomische und politische Reformagenda erarbeiten. Bogota, 3. August 2023: Der kolumbianische Präsident Gustavo Petro hält eine Rede zum Beginn eines sechsmonatigen Waffenstillstands mit der ELN-Guerilla, Foto: IMAGO / NurPhoto

Als die kolumbianische Linke im August 2022 die Präsidentschaftswahl gewann, kam das einem politischen Erdbeben gleich. Der 63-jährige Gustavo Petro, der von 2012 bis 2015 Bürgermeister von Bogotá, war als junger Mann Mitglied der M19-Guerilla gewesen; seine 41-jährige, afrokolumbianische Stellvertreterin Francia Márquez hatte sich seit ihrer Jugend als alleinerziehende Mutter, Hausangestellte und Goldschürferin durchschlagen müssen und in ihrer Heimatgemeinde den Widerstand gegen den britisch-südafrikanischen Bergbaukonzern AngloGold Ashanti organisiert. Radikaler konnte ein Regierungswechsel kaum ausfallen. Doch ein Jahr nach Petros Amtsantritt wird zusehends deutlich, dass Regierungsmacht allein nicht reicht, um jene grundlegenden sozialen und demokratischen Reformen einzuleiten, die Kolumbien benötigt.

Vom Armutsaufstand zur Reformagenda

Dass das Gespann Petro/Márquez die Präsidentschaftswahl überhaupt gegen den rechtspopulistischen Kandidaten Rodolfo Hernández gewinnen konnte, lässt sich nur vor dem Hintergrund des Armutsaufstands vor zwei Jahren verstehen. Als Reaktion auf eine geplante Steuerreform, mit der die Regierung von Präsident Iván Duque (2018 - 2022) die Kosten der Corona-Krise auf die unteren Klassen abwälzen wollte, rief ein breites gesellschaftliches Bündnis im April 2021 zu einem landesweiten unbefristeten Streik auf. Zwei Monate lang hielten Blockaden und Straßenschlachten Kolumbien daraufhin in Atem. Die Polizei tötete während der Proteste an die hundert Personen, weitere hundert Jugendliche «verschwanden» nach ihrer Festnahme spurlos. Die Brutalität der Repression zog eine tiefe Legitimationskrise des politischen Systems nach sich und ebnete Petro als Vertreter der linken Opposition den Weg.

ⓘ Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß für die Ungleichverteilungen in einer Gruppe. Er kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Bei einem Koeffizienten von 0 hätten alle Bürger*innen gleich viel Vermögen, bei 1 wäre der Reichtum in den Händen einer einzigen Person konzentriert.
Der mittlerweile fast schon obligatorische Verweis auf die Ungleichheit in Lateinamerika darf allerdings nicht vergessen machen, dass die Vermögensverhältnisse in Deutschland kaum weniger skandalös sind. Laut Global Wealth Databook der Credit Suisse lag der GINI-Koeffizient 2022 in Deutschland mit 0,77 fast ebenso hoch wie in Kolumbien mit 0,83.

Mit 700.000 Stimmen Vorsprung gewann Petro die Wahl knapp, aber unumstritten. Im Mittelpunkt seines Wahlkampfs hatten eine neue große Friedensinitiative und Sozialreformen zur Bekämpfung der Ungleichheit gestanden (der GINI-Koeffizient für Vermögen liegt in Kolumbien bei über 0,8). Darüber hinaus schrieb sich Petros «Historischer Pakt», wie sich das Linksbündnis nennt, aber auch antirassistische, feministische und ökologische Reformen auf die Fahnen. So leitet die Schwarze Vizepräsidentin Márquez ein neu gegründetes Ministerium für Gleichheit, Petro verpflichtete sich im Wahlkampf antipatriarchalen Zielen, und das Bergbauministerium wurde mit der Umweltaktivistin Irene Vélez besetzt, die den Stopp neuer Konzessionsvergaben für Öl- und Bergbauprojekte ankündigte.

Vor allem Letzteres birgt in Kolumbien enormes Konfliktpotenzial. Auf der einen Seite war der Kampf gegen den Extraktivismus (also die auf Rohstoffausplünderung beruhende Wirtschaftsstruktur) für die kolumbianische Linke in den letzten Jahren der entscheidende Kristallisationspunkt – hierbei verband sich der Widerstand gegen die Vertreibung der Landbevölkerung mit ökologischen und antiimperialistischen Forderungen. Andererseits jedoch sind die Rohstoffexporte für Wirtschaft und Staat überlebensnotwendig: Von den insgesamt 57 Milliarden US-Dollar, die das Land 2022 durch Exporte erzielte, stammten 32 Milliarden aus der Rohstoffförderung. Es ist unklar, wie die Regierung Petro die geplanten Sozialausgaben und öffentlichen Investitionen ohne die Einnahmen aus Öl-, Kohle-, Gold- und Nickelförderung finanzieren will. Als abhängige Volkswirtschaft muss der kolumbianische Staat auf den internationalen Finanzmärkten derzeit etwa acht Prozent Zinsen für Dollarkredite zahlen und ist damit bei der Finanzierung seines Haushalts unmittelbar von den Rohstoffeinnahmen abhängig.

Noch gravierender als die Finanzierungsprobleme ist für die neue Linksregierung jedoch, dass sie die entscheidenden Machtgruppen im Land gegen sich hat. Die Unternehmerverbände widersetzen sich den geplanten Reformen von Gesundheitswesen, Renten und Arbeitsgesetzen. Armee, Polizei und Justiz sind nach 50 Jahren Bürgerkrieg fest in der Hand der autoritären Rechten. Und die drei mächtigsten Unternehmerfamilien – Santo Domingo, Ardila Lülle und Sarmiento Angulo – sind Eigentümer großer Medienkonzerne, was ihnen die Macht verleiht, jede ihren Interessen widersprechende Reform zu torpedieren. Nicht einmal das Parlament steht verlässlich auf der Seite des Präsidenten: Petros Wahlbündnis Pacto Histórico, das sich aus zwanzig Kleinparteien zusammensetzt, stellt weniger als ein Viertel der Abgeordneten in den beiden Kammern des kolumbianischen Kongresses.

Erste Reformen und der Bruch der Regierungskoalition

Raul Zelik ist Schriftsteller und freier Autor. Er ist Mitglied des Parteivorstandes der LINKEN.

Dieses für die Linke nachteilige Kräfteverhältnis war die Ursache, warum Präsident Petro schon im Vorfeld der Wahl einige Politiker*innen der Mitte-Rechts-Parteien in sein Projekt einzubinden versuchte und nach seinem Wahlsieg eine überraschend breite Koalition schmiedete. Tatsächlich gelang ihm das Kunststück, nicht nur Liberale und Konservative Partei, sondern auch den Partido de la U von Ex-Präsident Juan Manuel Santos (2010 - 2018) für dieses Bündnis zu gewinnen. Im Gegenzug für die Stabilisierung der neuen Regierung musste sich Petro allerdings der klientelistischen Logik der traditionellen Parteien unterwerfen und den Mitte-Rechts-Parteien lukrative Ministerien und Verwaltungsposten überlassen.

Trotzdem war die Bilanz der neuen Regierung in den ersten Monaten durchaus ermutigend. Mit dem Friedensbeauftragten Danilo Rueda, dem Verteidigungsminister Iván Velásquez, der Gesundheitsministerin Carolina Corcho und der bereits erwähnten Bergbauministerin Irene Vélez hatten Verbündete der popularen Bewegungen wichtige Posten in der Regierung übernommen. Vierzig Generäle, denen Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden, wurden in den Ruhestand geschickt; zudem verkündete die Regierung einen Waffenstillstand mit den meisten bewaffneten Gruppen im Land. Und schließlich konnte auch die geplante Steuerreform in einer abgeschwächten Version verabschiedet werden: Vermögen und Dividenden werden seitdem etwas stärker als in der Vergangenheit besteuert.

Doch seit dem Jahreswechsel ist es mit dieser parteiübergreifenden Kooperation vorbei. Der Widerstand von Petros liberalen und konservativen Verbündeten entzündete sich vor allem an der geplanten Stärkung des öffentlichen Gesundheitssektors. In den 1990er Jahren war das kolumbianische Gesundheitswesen auf Betreiben des späteren Präsidenten Álvaro Uribe (2002 - 2010), der bis heute als unbestrittener Führer der kolumbianischen Rechten gilt, privatisiert worden. Seitdem zahlt der Staat zwar für untere Einkommensgruppen die Krankenkassenbeiträge, doch die Gesundheitsversorgung ist zu einem lukrativen Geschäftsmodell geworden. Weil die Kassen auf diese Weise ihre Kosten minimieren können, müssen Patient*innen ihr Recht auf Behandlung oft vor Gericht einklagen. Dementsprechend hoch sind die Gewinne der Branche. Unter den 35 größten Unternehmen Kolumbiens befinden sich sechs private Krankenkassen.

Als seine bürgerlichen Verbündeten vor diesem Hintergrund erst die geplante Gesundheits-, dann auch die Arbeits- und Rentenreform in den zuständigen Parlamentsausschüssen blockierten, zog Präsident Petro die Reißleine. Er entließ sieben Minister*innen und kündigte die Koalition mit Liberalen und Konservativen auf. Zwar sind nach wie vor Einzelpersonen aus diesen Parteien Mitglied der Regierung, doch die Mehrheit im Kongress ist dahin. Somit ist zweifelhaft, ob von Petros ambitionierten sozialen und ökologischen Gesetzesreformen bis 2026 auch nur eine einzige verabschiedet werden kann.

«Umfassender Frieden» und die Verhandlungen mit der ELN

Auch die Zukunft der Friedensinitiativen ist unklar. Das allerdings hängt in erster Linie mit der unübersichtlichen Konfliktkonstellation im Land zusammen. Die Demobilisierung der FARC-Guerilla 2016 hat nicht zu einem Ende der politischen Gewalt geführt, sondern die Lage in vielen Regionen noch unübersichtlicher gemacht. Diverse FARC-Dissidenzen konkurrieren heute mit paramilitärischen Gruppen um die Kontrolle von Territorien und Drogenhandelsrouten.

Dass der Friedensprozess mit den FARC so kläglich gescheitert ist, hat drei Ursachen. Erstens wurden wichtige Teile des Abkommens von Santos’ Nachfolger, Iván Duque, nicht umgesetzt. Zweitens blieben die sozialen Ursachen des Konflikts – Landverteilung, Ungleichheit und die Gewaltbereitschaft der ökonomischen Eliten – unberücksichtigt, weil Präsident Santos die Sozial- und Wirtschaftspolitik für «unverhandelbar» erklärt hatte. Und drittens schließlich handelte es sich um ein bilaterales Abkommen zwischen Staatsführung und FARC, bei dem sowohl die Bevölkerung als auch die einfachen Guerilleros außen vor blieben.

Vor diesem Hintergrund ist ein wesentlicher Teil der FARC-Kämpfer*innen in die Illegalität zurückgekehrt. Die politischen Motive spielen dabei allerdings kaum noch eine Rolle. Zumindest berichten Bauernorganisationen, dass sogenannte FARC-Dissidenzen gegen die Selbstorganisierung von Bäuerinnen und Bauern, Schwarzen und Indigenen vorgehen und in einigen Regionen, so etwa im Grenzdepartment Arauca, als paramilitärische Vorfeldorganisation der Armee fungieren. Vor diesem Hintergrund ist nicht recht zu erkennen, wie die Friedensverhandlungen, die die Regierung Petro mit den FARC-Dissidenzen und Teilen der organisierten Kriminalität aufgenommen hat, zu einem Abschluss kommen sollen.

Kaum weniger kompliziert, aber politisch sehr viel eindeutiger einzuordnen, ist der Friedensprozess mit der ELN. Die von der Befreiungstheologie geprägte, marxistische Guerilla befindet sich nach anfänglichen Kommunikationsproblemen mit der Regierung seit Juli 2023 im Waffenstillstand. Die bisher in Mexiko, Kuba und Venezuela geführten Verhandlungen unterscheiden sich in mehrerlei Hinsicht vom Friedensprozess mit den FARC. So strebt die ELN-Spitze weder politische Posten an, noch beansprucht die Organisation, die Gesellschaft zu repräsentieren. Die Verhandlungsmethodologie beruht zudem auf der Annahme, dass der bewaffnete Konflikt in Kolumbien soziale Ursachen hat, die in einem umfassenden Transformationsprozess überwunden werden müssen. Demobilisierung und Wiedereingliederung der Guerillas stehen somit nicht im Mittelpunkt der Gespräche. Hauptachse des Friedensprozesses ist ein gesellschaftlicher Dialog, der vom sogenannten Comité Nacional de Participación, einem Zusammenschluss von 81 gesellschaftlichen Organisationen, in den kommenden zwei Jahren organisiert werden soll. Man will erreichen, dass die kolumbianische Zivilgesellschaft im Rahmen dieses Dialogs eine soziale, ökonomische und politische Reformagenda erarbeitet, an deren Umsetzung sie ein eigenes Interesse hegt.

Angestrebt wird also ein Transformationsprozess, der der Guerilla die soziale Grundlage entzieht. Zwar wird die kolumbianische Oligarchie jene Sozialreformen, die sie in den vergangenen Jahrzehnten stets torpediert hat, auch im Rahmen von Verhandlungen zu verhindern suchen. Doch immerhin besitzt die Linke im Rahmen eines Friedensprozesses etwas mehr Verhandlungsmacht: Solange die ELN, die nach Geheimdienstinformationen seit der Demobilisierung der FARC von etwa 4000 auf knapp 8000 Kämpfer*innen angewachsen ist, in ländlichen Regionen präsent ist, bleibt das Investitionsklima unsicher. Jener Teil der kolumbianischen Oberschicht, der nicht unmittelbar an Krieg und Vertreibung verdient, könnte sich also durchaus interessiert daran zeigen, den Friedensprozess mit der ELN zu begleiten.

Veränderungen nur gegen die Interessen der Oberschicht

Ob die Regierung Petro noch einmal die Initiative zurückerlangen kann, ist offen. Der Korruptionsskandal um Nicolás Petro, den Sohn des Präsidenten, hat die Regierung, die von den großen Medienkonzernen seit Monaten attackiert wird, weiter geschwächt, und bei den Protesttagen der Opposition hat sich in den letzten Monaten gezeigt, dass die extreme Rechte, die sich um Militärs und Geschäftsleute herum formiert, problemlos Zehntausende auf die Straße bringen kann.

Für die Linksregierung wiederum spricht, dass sich die sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Linksparteien Kolumbiens wenig Illusionen über die Gestaltungsmacht ihres Präsidenten machen. So besetzte die Lehrergewerkschaft des Departments Cauca, ASOINCA, bereits im Frühjahr einen Plenarsaal des Parlaments, um Druck für die Umsetzung der Gesundheitsreform zu machen. Fernando Vargas, Vorsitzender der Gewerkschaft, rechtfertigte das mit den Worten: «Es ist ein wenig paradox. Unsere Forderungen decken sich mit den Vorschlägen von Präsident Petro. Aber wir befürchten, dass die Superreichen in unserem Land dafür sorgen werden, die geplante Reform bis zu Unkenntlichkeit zu beschneiden.» Ohne eine gesellschaftliche Mobilisierung, die den Präsidenten vor sich hertreibt, werde es keine sozialen Reformen in Kolumbien geben.

Als ermutigend betrachtet dieser Teil der Basisbewegungen die Haltung Petros beim Koalitionskrach im April. Es sei ein gutes Zeichen, erklärte damals der Leiter des Sozialforschungszentrums CEDINS, Alfredo Burbano, dass Petro nicht seine Reformagenda, sondern die Koalition geopfert habe. Zwar habe sich seine Regierung dadurch noch angreifbarer gemacht, aber es sei nun immerhin offenkundig, wie die Kräfteverhältnisse aussehen. Fest steht: Strukturelle Veränderungen werden auch in Kolumbien nur möglich sein, wenn sie in harten gesellschaftlichen Kämpfen gegen die Interessen der Oberschicht durchgesetzt werden.