Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus Betrachtungen zum 9. November

Antisemitische Gewalt in Deutschland

Martin Nesselrodt bei seinem Vortrag auf Konferenz «Europa den Räten» Copyright Foto: Andreas Domma

Bevor ich zum 9. November komme, möchte ich zunächst über ein Ereignis aus der Berliner Geschichte schreiben, das sich am 5. November 2023 zum hundertsten Mal jährte. Ein Ereignis, das anders als der Hitler-Putsch oder die Novemberpogrome wenig im kollektiven historischen Bewusstsein verankert ist. Die Rede ist vom sogenannten Scheunenviertel-Pogrom, das nur wenige Meter von der Volksbühne entfernt im Herzen Berlins stattfand.[1] Das Scheunenviertel existiert heute nicht mehr, seine architektonische Gestalt wurde verändert, seine Straßen umbenannt. Doch vor 100 Jahren war es ein Zentrum des osteuropäisch-jüdischen Lebens, ein Zufluchtsort für jüdische Flüchtlinge und Migranten, deren Geburtsorte in den 1917/18 untergegangenem Russländischen und Habsburger Reich lagen. Zwar lebten im Scheunenviertel auch Nichtjuden, doch galt die Gegend unter Zeitgenossen als jüdisches Viertel. Die nichtjüdische Berliner Gesellschaft verband mit dem Scheunenviertel in der Regel wenig Gutes. Die Gegend galt als schmutzig, unzivilisiert, als Rückzugsort der Unterwelt usw. Ähnlich sahen es auch viele deutsche Juden aus den besseren Gegenden Berlins. Sie betrachteten die osteuropäischen Juden mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Nicht wenige deutsche Juden, die seit Jahrzehnten um Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürger kämpften und dabei oftmals die visuellen Zeichen des Glaubens abgelegt hatten, sahen in den Zuwanderern aus dem Osten ein Spiegelbild ihrer selbst. Mit einem durchaus als orientalisierend zu bezeichnendem Blick betrachteten die etablierten Berliner Juden die Glaubensgeschwister aus Polen, Belarus, der Ukraine und Russland als entfernte Verwandte, deren Lebensweise sie nicht teilten, die sie dennoch als erhaltenswert verstanden. Nicht wenige assimilierte Berliner Juden befürchteten jedoch zugleich, dass schiere Existenz streng religiöser traditioneller Juden auf den Straßen des Stadtzentrums ihren eigenen Emanzipationsfortschritt gefährden könnte. Kurzum, das Scheunenviertel war ein Politikum.

Markus Nesselrodt ist Kulturwissenschaftler und Osteuropahistoriker an der Europa-Universität VIadrina in Frankfurt (Oder). Er forscht zu Migration, Stadt und Diversität im östlichen Europa. Sein Text ist die überarbeitete Fassung seines Vortrages auf der Veranstaltung Europa den Rätender RLS vom 8.-10. Noveber 2023 in der Volksbühne Berlin.

In den Wochen vor der antisemitischen Gewalt waren die Menschen in Berlin vor allem mit den Folgen der grassierenden Hyperinflation beschäftigt. Innerhalb kurzer Zeit waren Ersparnisse aufgebraucht und wirtschaftliche Existenzen vernichtet worden. Die Arbeitslosigkeit erreichte neue Höchstwerte. Die wirtschaftliche Krise schwächte zugleich das Vertrauen in die Weimarer Republik. Wie kam es nun zum Ausbruch kollektiver Gewalt gegen Juden, die wir heute als Scheunenviertelpogrom bezeichnen? Vor dem Arbeitsamt in der Alexanderstraße machte das Meldung die Runde, dass alle Erwerbslosen Geldzahlungen erhalten würden. Als sich das Gerücht als Falschmeldung herausstellte, waren die Juden als vermeintlich Schuldige schnell identifiziert. Sie hätten durch Geldspekulation verhindert, dass Arbeitslose die versprochene Unterstützung erhielten. Das war nicht der Fall. Welche Verbindung zu den Menschen im Scheunenviertel überhaupt bestehen soll, blieb ebenfalls unklar. Fest steht: die wütende Menge machte sich auf den Weg vom Arbeitsamt ins wenige Meter entfernte Scheunenviertel.

Augenzeugenberichte lassen das Bild eines planmäßigen Raubzuges durch das Viertel entstehen. Der Mob drang in die Geschäfte ein, plünderte Waren und Einnahmen und schreckte auch vor Gewalt gegen Einzelne nicht zurück. Der 5. November 1923 lässt sich als der schwerste Fall kollektiver Gewalt gegen Juden in der Weimarer Republik bezeichnen. Die Berliner Polizei war erst nach zwei Stunden am Ort des Geschehens und somit keine Hilfe für die drangsalierten jüdischen Bewohner des Scheunenviertels. All die geschah zehn Jahre vor der Machtübernahme der NSDAP und 15 Jahre vor den Novemberpogromen, deren Ausmaß die Ausschreitungen im Scheunenviertel noch übertraf. Festzuhalten bleibt für 1923 folgendes: Gewalt und Plünderei gegen Juden und ihr Eigentum benötigte keine langfristige Planung durch eine politische Partei, um Realität zu werden. Es brauchte nur einen Auslöser, um jegliche Hemmungen gegenüber Mitmenschen fallen zu lassen. Bemerkenswert ist zudem das Verhalten der Berliner Polizei, die äußerst passiv blieb und die Schuld für die Ausschreitungen nachträglich noch bei den Juden selbst sah. Das Scheunenviertelpogrom zeigte auf eindrückliche Weise, wie leicht aus Berlinern Juden und somit «die Anderen» wurden, denen Gewalt angetan werden konnte, ohne dass der Staat helfend eingriff.

Mit dieser Beobachtung möchte ich gern überleiten zu den Ereignissen im Herbst 1938. Die Gewalt am 9. November 1938 ist im Unterschied zum Scheunenviertelpogrom weitaus mehr im öffentlichen Geschichtsbewusstsein verankert. Bilder von brennenden Synagogen oder den massenhaften Verhaftungen tauchen in Schulbüchern, Zeitungsartikeln und Ausstellungen über die NS-Zeit auf. Der 9. November 1938, so scheint es, ist Teil des deutschen Bildgedächtnisses. Und doch, so möchte ich argumentieren, gibt es zu diesem schlimmsten Gewaltausbruch gegen die deutschen Juden vor dem Zweiten Weltkrieg mehr zu sagen. Ich möchte auf einen Aspekt besonders hinweisen: die Vorgeschichte des 9. November 1938.

Die Idee eines kollektiven und gewaltvollen Volkszornes gegen die jüdische Bevölkerung gehört zur DNA nationalsozialistischer Ideologie; und dennoch schreckten die Machthaber zunächst vor öffentlicher, massenhafter Gewalt gegen Juden und jüdisches Eigentum zurück. Allerdings gingen dem Pogrom Jahre der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung voraus. Für die Genese der Novemberpogrome gilt es zudem, eine außenpolitische Dimension zu beachten, nämlich das Verhältnis zu Polen. Zwar hatten das Deutsche Reich und Polen 1934 einen Nichtangriffsvertrag geschlossen, aber die Beziehungen waren im Jahr 1938 wegen des andauernden Territorialstreits dennoch wenig freundschaftlich. Seit 1935 war in Polen eine rechte Regierung an der Macht, die auch mit antisemitischer Politik Stimmung zu machen versuchte. Dazu gehörte ein neues Gesetz vom März 1938, das im Ausland lebenden polnischen Staatsbürgern die Staatsangehörigkeit aberkennen sollte, sofern diese sich fünf Jahre oder länger nicht mehr in Polen aufhielten. Wenngleich nicht offen von Juden polnischer Staatsangehörigkeit die Rede war, so richtete sich das Gesetz doch vorrangig an die in Deutschland lebenden polnischen Juden. Die polnische Regierung befürchtete eine massenhafte Zuwanderung von polnisch-jüdischen Flüchtlingen aus dem Nachbarland und versuchte daher, die Tür möglichst schnell zu schließen. Das Gesetz sollte zum 30. Oktober 1938 wirksam werden. Heinrich Himmler, Chef der Polizei und SS sowie das Auswärtige Amt wollten noch vor dem Stichtag eine möglichst große Zahl ausländischer Juden nach Polen abschieben. Maßgeblich war aus deutscher Sicht die polnische Staatsangehörigkeit, wobei es keine Rolle spielte, dass viele polnische Juden seit Jahrzehnten in Deutschland lebten und vielfach nicht einmal Polnisch sprachen. Ausgestattet mit vorab angefertigten Listen suchten deutsche Polizisten und Mitglieder der SS polnische Juden im gesamten Land in der Nacht von 28. auf den 29. Oktober 1938 auf und brachten diese zum örtlichen Bahnhof, wo bereits Sonderzüge warteten. Etwa 17.000 Menschen wurden auf diese Weise aus dem Deutschen Reich nach Polen deportiert. Die sogenannte Polenaktion, so urteilt etwa die Historikerin Alina Bothe, diente Himmler als Probelauf für spätere Massendeportationen in aller Öffentlichkeit. Wenngleich die Verhaftungen nachts stattfanden, so versuchten die Behörden keineswegs sie geheimzuhalten. Die Aktion hatte zu diplomatischen Verstimmungen mit Polen geführt, hatte Trauer und Leid unter den Betroffenen verursacht – aber: die deutsche Bevölkerung setzte sich nicht für die Deportierten Nachbarn ein. So lautete eine Erkenntnis der Zeitgenossen aus der Polenaktion.

Was hat die Zwangsabschiebung unerwünschter Ausländer aus Deutschland mit dem Pogrom vom 9. November 1938 zu tun? Unter den Deportierten befanden sich auch die Eltern von Herschel Grynspan aus Hannover. Grynspan lebte im Herbst 1938 in Paris. Als er von den Ereignissen erfuhr, machte er sich auf den Weg zur deutschen Botschaft in der Absicht, den Botschafter zu ermorden. Da er diesen nicht finden konnte, schoss er auf den Botschaftsmitarbeiter Ernst von Rath, der am 9. November 1938 verstarb. Der Anschlag diente Propagandaminister Joseph Goebbels als willkommener Vorwand für eine als «Ausdruck des spontanen Volkszorns» darzustellende Reaktion der deutschen Bevölkerung. Anders als noch zwei Wochen vorher sollte sich die Gewalt diesmal jedoch gegen deutsche Staatsbürger richten, die von den Nazis als jüdisch definiert wurden. Aus Berlin ergingen Befehle in das gesamte Deutsche Reich. Überall, wo Juden lebten, wo es eine Gemeinde oder Geschäfte jüdischer Eigentümer gab, sollten diese attackiert werden. Erste Ausschreitungen begannen bereits am Nachmittag des 7. November; einen Tag später brannte die erste Synagoge im hessischen Bad Herzfeld. In der Nacht vom 9. auf den 10. November erreichte die staatlich koordinierte Gewalt schließlich ihren Höhepunkt. Synagogen wurden verwüstet, angezündet und zerstört. Jüdische Geschäftsinhaber wurden überfallen und zusammengeschlagen. Auch wer in der heimischen Wohnung blieb, wurde nicht verschont. Erneut ausgestattet mit Adresslisten drangen Nationalsozialisten in tausende Wohnungen ein, verwüsteten diese und misshandelten deren Bewohner. Etwa 30.000 Juden, vorrangig Männer, wurden in diesen Tagen festgenommen und ins Konzentrationslager verschleppt. Dort wurden sie so lange gequält, bis sie sich dazu bereit erklärten, Deutschland zu verlassen und ihr noch verbliebenes Vermögen an den deutschen Staat abzutreten.

So viel in aller Kürze über drei Ereignisse, die jeweils Ende Oktober bzw. Anfang November stattfanden. Sieht man von der kalendarischen Überschneidung einmal ab, stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen historischen Ereignissen. Zwischen dem Scheunenviertelpogrom und den Novemberpogromen liegen 15 Jahre und eine veränderte politische Lage. Während die Initiative 1923 von gewöhnlichen Bürgern ausging, war sie 1938 koordiniert und umgesetzt von staatlichen Stellen. Die größte Gemeinsamkeit scheint mir die weitgehende Gleichgültigkeit oder zumindest Inaktivität der nichtjüdischen Bevölkerung zu sein. Selbstverständlich gab es Zeichen der Solidarität und Widerworte, aber der Protest blieb vereinzelt, schwach und in der Regel folgenlos.


[1] Siehe dazu auch: https://www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/K433R/pogrom-im-scheunenviertel, sowie die Neuerscheinung von Karsten Krampitz: Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen 1923, Berlin 2023.