Nie wieder – ist jetzt.

Der 85. Jahrestag des antisemitischen Pogroms im Deutschen Reich wird unter beklemmenden Umständen begangen.

Von Florian Weis

Auf dem Wandplakat wurde in der Aussage "Killing Jews ist not fighting for Freedom" das Wort "Jews" mit "Humans" überklebt. Davor ein Demonstrationszug mit israelischer Flagge.
Solidaritätsdemonstration für die Opfer der Hamas-Massaker vor der Roten Flora in Hamburg (26.10.2023). Das Plakat im Hintergrund mit der ursprünglich klaren Positionierung der Flora für die Solidarität mit Jüdinnen und Juden wurde von Unbekannten überklebt. Foto: picture alliance

Synagogen, jüdische Schulen und andere Einrichtungen müssen in Deutschland schon lange durch Polizei und private Sicherheitsdienste geschützt werden. Das Bedrohungsgefühl vieler Jüdinnen und Juden in Deutschland und Europa hat in den letzten Jahren zugenommen, das gilt auch für registrierte Hassdelikte und Übergriffe. Im Oktober 2019 war die Synagoge in Halle am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, Ziel eines rechtsterroristischen Angreifers; die Gemeinde entging nur knapp einem Blutbad, der Attentäter tötete anschließend zwei andere Menschen in der Stadt.[1] Seit dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 nehmen in Deutschland und auch anderen Ländern antisemitische Vorfälle drastisch zu. [2]

Gerade in diesem Jahr muss ein Erinnern an den 9. November neben einem generellen «Nie wieder Faschismus» auch ganz besonders «Nie wieder Antisemitismus» ausdrücken.

Der 9. November 1938 – Ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Shoah

Der 9. November 1938 markierte einen weiteren Schritt auf dem Weg der antisemitischen Eskalation Nazi-Deutschlands. Bei dem von Goebbels und anderen Nazi-Führern organisierten reichsweiten Pogrom wurden nach staatlichen Angaben 91 Jüdinnen und Juden getötet, viele mehr starben in den folgenden Wochen in der Haft und in Konzentrationslagern bzw. begingen Suizid. Rund 30.000 jüdische Männer wurden inhaftiert, misshandelt, gefoltert und erpresst, um sie zur Abtretung der ihnen noch verbliebenen Unternehmen und Besitztümer weit unter Wert zu nötigen; ein weiterer Schritt der «Arisierung» jüdischen Eigentums, in dessen Folge es 1988 auffallend viele 50-Jahres-Feiern aus Anlass der vermeintlichen Betriebsgründung gab …

Lebten Anfang 1933 noch etwas mehr als 500.000 Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich, was weniger als einem Prozentpunkt der Gesamtbevölkerung entsprach, so waren es zum Zeitpunkt des Pogroms vom 9./10. November noch etwa 300.000. Hinzu kamen annähernd 200.000 Jüdinnen und Juden in Österreich (rund 3 Prozent der dortigen Bevölkerung), die durch den «Anschluss» Österreichs im März 1938 auch in die Gewalt Nazi-«Großdeutschlands» geraten waren. Eine weitere Gruppe stellten bis zu 20.000 polnischstämmige Jüdinnen und Juden dar, die das Deutsche Reich nach Polen deportierte, die aber auch in Polen von der Ausbürgerung bedroht waren. Aus Verzweiflung über und Protest gegen diese Aktion tötete der siebzehnjährige Herschel Grünspan einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris, Ernst von Rath, was die Nazis zum Anlass nahmen, das Pogrom auszulösen.   

Die organisierten Ausschreitungen am 9./10. November 1938 brachten nicht nur vielen Jüdinnen und Juden Folter, Haft oder den Tod, sie dienten, neben der massenhaften Bereicherung vieler Täter und Mitläufer, auch der Zerstörung jüdischen Lebens und einer sichtbaren jüdischen Erinnerung. Hunderte von Synagogen und andere religiöse und kulturelle jüdische Stätten wurden zerstört. Solidarität oder wenigstens Empathie mit bedrohten Jüdinnen und Juden war selten, doch gab es sie vereinzelt, was sie dadurch individuell umso beeindruckender macht. In ganz selten Fällen gab es sogar ein Einschreiten aus dem Staatsapparat selbst, wie etwa durch den Polizeioffizier Wilhelm Krützfeld in Berlin[3].  Neben einer verbreiteten Mittäterschaft, oft aus Bereicherungsgier gespeist, reagierten viele Menschen jedoch verhalten. Es war weniger der Antisemitismus, der die Menschen auf Distanz gehen ließ, als vielmehr die rohe und ungezügelte Form der Gewalt und Zerstörung.       

Der 9. November 1938 war ein Schritt auf dem Weg in die Shoah, die Ermordung von etwa sechs Millionen europäischer Jüdinnen und Juden. Dem Pogrom gingen zahlreiche antijüdische Gewalttaten, Enteignungen sowie massive juristische Diskriminierungen voraus, so etwa das «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» im April 1933 und die «Nürnberger Gesetze» im September 1935, die Jüdinnen und Juden zu Staatsbürger:innen ohne politische Rechte degradierte und Ehen und andere Beziehungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen unter Strafe stellten. Ein wichtiger juristischer Kommentator dieser antisemitischen Gesetze war bekanntlich der spätere Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Konrad Adenauer, Hans Globke.[4]    

Auch nach dem 9. November 1938 war der Weg in die systematische, geradezu industriell betriebene Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden noch nicht unumkehrbar beschritten. Der Völkermord an den Jüdinnen und Juden war als Möglichkeit im Vernichtungsantisemitismus Nazi-Deutschlands frühzeitig angelegt, es bedurfte aber weiterer deutscher Eskalationsmaßnahmen, nicht zuletzt durch den Überfall auf Polen im September 1939 und die Sowjetunion im Juni 1941, um ihn unumkehrbar und durchführbar zu machen. Die Shoah erwuchs aus einem genuinen Antisemitismus mit Vernichtungsabsichten, sie war aber, wie viele andere Genozide auch, erst im Schatten eines großen und rücksichtslosen Krieges umsetzbar.[5]     

Gedenken im Schatten des 7. Oktober 2023

Mit dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023, bei dem mehr Jüdinnen und Juden antisemitischer Gewalt zum Opfer fielen als bei jeder anderen einzelnen antijüdischen Gewalttat seit 1945, stehen Jüdinnen und Juden auch in Europa und Deutschland, dem Land, das den Holocaust verübt hat, unter Schock. Viele Jüdinnen und Juden fühlen sich und sind bedroht. Darum ist der 85. Jahrestag des Pogroms von 1938, ist dieser 9. November ein besonderer. Es trifft zu: Nie wieder ist jetzt.

Das Gedenken an den 9. November 1938 als Symbol für den im Massenmord endenden nazideutschen Antisemitismus hat in den letzten Jahrzehnten viele unterschiedliche Formen und Träger:innen gefunden: Staatliche Stellen und Politik, Schulen, linke Antifaschist:innen, Gewerkschaften, Geschichtswerkstätten und Gedenkstätten, Kultureinrichtungen, Aktive in den christlichen Kirchen und nicht zuletzt jüdische Einrichtungen. Politische und andere Differenzen konnten vielfach zurückstehen, wenn es um eine Erinnerung an und die Würdigung der Opfer und eine Empathie für und Solidarität mit Jüdinnen und Juden ging. Ein solches Erinnern ignoriert nicht andere Opfergruppen Nazi-Deutschlands und ihr ungeheures Leid, berücksichtigt jedoch, dass der 9. November 1938 spezifisch antisemitisch war und Jüdinnen und Juden von allen Opfergruppen der Nazis am systematischsten und radikalsten verfolgt und vernichtet wurden. Ein solches Erinnern versucht, universelle und universalistische Schlussfolgerungen zu ziehen, ohne die spezifischen Taten des NS-Antisemitismus und das spezifische Leid der jüdischen Opfer einzuebnen.

Unter Menschen, die sich auf Emanzipation, Demokratie, Antifaschismus und vielleicht zudem noch einen demokratischen Sozialismus beziehen, sollte Einigkeit darüber bestehen, dass ein Erinnern an den 9. November in diesem Jahr neben einem generellen «Nie wieder Faschismus» auch ganz besonders «Nie wieder Antisemitismus» ausdrücken muss.

Formen des Antisemitismus

Es ist dabei wichtig, die vielen Formen und Wurzeln des Antisemitismus zu betrachten, zu gewichten und, bei aller Unterschiedlichkeit, gleichermaßen zu bekämpfen. Nach wie vor werden die meisten antisemitischen Straftaten von jenen begangen, die eindeutig in der Tradition faschistischer und anderer rechtsautoritärer Strömungen stehen. Auch antisemitische Einstellungen sind in rechten Milieus und Parteien besonders verbreitet. Interessanterweise betonen sowohl auch der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang,[6] als auch der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster,[7] dass die AfD und von ihr vertretene rechte Milieus die größte antisemitische Gefahr darstellten. Die Formen können dabei von einer scheinbaren Israel-Unterstützung wie bei vielen, wenn auch nicht allen, AfD-Politiker:innen bis hin zu offenerer Israel-Feindschaft und scheinbarer Palästina-Solidarität wie bei den kleinen Rechtsaußen-Parteien Dritter Weg und der vormaligen NPD reichen.

Neben diesem dominanten traditionellen rechten Antisemitismus, neben einem Antisemitismus in Teilen der Anti-Corona-Maßnahmen-Proteste bzw. in Teilen esoterisch- bildungsbürgerlicher Milieus, existieren aber auch Formen von Antisemitismus bei einigen «Linken» und in Teilen muslimischer Milieus in Deutschland. Gesamtgesellschaftlich sind diese weniger dominant als der traditionelle rechte Antisemitismus. In der aktuellen Situation werden sie aber von vielen Jüdinnen und Juden als besonders gefährlich wahrgenommen. Die Antisemitsmus- und Rassismusforscherin Sina Arnold hat im April 2023 eine Expertise «Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund und Muslim*innen»[8] vorgelegt, in der sie zu differenzierten Ergebnissen kommt: Bei begrifflich («Migrationshintergrund», «familiäre Einwanderungsgeschichte») vielfach unscharfen und empirisch nicht einheitlichen Befunden konstatierte sie, dass ein «klassischer» Antisemitismus in Deutschland unter muslimischen Menschen etwas höher als unter nicht-muslimischen anzutreffen sei, sekundärer Antisemitismus bei Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte deutlich geringer als in der Gesamtbevölkerung ausgeprägt sei, Israel-bezogener Antisemitismus wiederum ausgeprägter. Es ist daher für eine emanzipatorische Linke wichtig, sowohl Verharmlosungen eines traditionellen Antisemitismus und eine Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen für eine migrationsfeindliche Politik zu bekämpfen, als auch die in Teilen einer antiimperialistischen Linken oder in Teilen muslimischer und/ oder arabischer Communities vorhandenen antisemitischen Tendenzen nicht zu verharmlosen

Unzweideutig gegen jeden Antisemitismus: Auch und gerade eine linke Aufgabe

Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die in der Tradition des demokratischen Sozialismus steht, ist in dieser Situation dreierlei wichtig: Die Proportionen der verschiedenen Formen von Antisemitismus sichtbar zu machen, und damit dessen stärksten Teil, den traditionellen rechten Antisemitismus; gleichzeitig nicht blind gegenüber anderen Formen von Antisemitismus zu sein und nicht aus der berechtigtem Zurückweisung einer rechten Instrumentalisierung andere Formen zu verharmlosen; und schließlich unzweideutig solidarisch mit Jüdinnen und Juden zu sein: Gegen jeden Antisemitismus. Ein kruder «Antiimperialismus», der Imperialismus nur bei den USA und «dem» Westen sowie Israel erkennen kann, nicht aber bei anderen Staaten, der die spezifische historische Situation, aus der Israel entstanden ist, verdreht oder leugnet, ist ebenso wenig glaubwürdig und links wie ein Antirassismus, der nicht auch einen konsequenten Kampf gegen jeden Antisemitismus unterstützt.

2020 fanden in vielen deutschen Städten beeindruckende, von den USA ausgehende «Black lives matter»-Proteste statt. Wenige Monate vorher gab es ebenfalls starke Proteste nach den rassistischen Morden in Hanau, wenngleich diese nicht die Größe der BLM-Kundgebungen hatten, obwohl der rassistische Anlass in Deutschland lag. Beide Proteste waren wichtige Zeichen. Ebenso wichtig wäre es nun, ungeachtet sehr unterschiedlicher Auffassungen zu Israel und Palästina, starke Zeichen der Solidarität mit Jüdinnen und Juden in Deutschland zu setzen. In den Wochen seit dem 7. Oktober hielt sich die Unterstützung bei Mahnwachen vor Synagogen und anderen Kundgebungen leider in vergleichsweise geringem Ausmaß. Es steht zu hoffen, dass sich dies ändert und David Baddiel mit seiner Streitschrift «Jews Don’t Count»[9] nicht Recht behält.

Historisch betrachtet haben Arbeiter*innen und sozialistische Bewegungen keineswegs immer jeden Antisemitismus bekämpft, ja manchmal sogar selbst antisemitisch gehandelt. Gleichwohl haben in der Arbeiter*innenbegung sich meistens diejenigen Deutungen, Strömungen und Personen durchgesetzt, die den Antisemitismus bekämpften. Auch daraus erwuchs eine lange Geschichte der Allianz zwischen vielen säkularen Jüdinnen und Juden und der sozialistischen Bewegung, in deren Folge Jüdinnen und Juden in vielen Ländern weit überproportional in sozialistischen Organisationen vertreten waren.[10] Die sozialistische Linke war für viele Jüdinnen und Juden ein doppelter Emanzipationsraum zur Überwindung von Antisemitismus und Ausbeutung. Umgekehrt verbanden viele Rechte ihren Antisemitismus systematisch mit Antisozialismus und Demokratiefeindschaft.  

Trotz ihres konsequenten und äußerst opferreichen Kampfes gegen die Nazis, den europäischen Faschismus und später die nazideutsche Besatzung konnte die Arbeiter*innenbewegung die Jüdinnen und Juden Europas nicht vor dem Massenmord schützen. Wer nicht nur Israels Besatzungspolitik – vollkommen zu Recht – kritisiert, sondern den Staat Israel selbst per se historisch für illegitim hält und perspektivisch abschaffen will («From the River to the Sea…»), überschreitet nicht nur die Grenze einer legitimen Israel-Kritik, sondern übergeht vor dem Hintergrund der Shoah und der antizionistischen Wendung vieler Linker seit gut 50 Jahren auch, dass Jüdinnen und Juden in Europa wenig Grund haben, sich gerade auf linken Beistand in Deutschland und Europa zu verlassen.                  

Viele linke Israelis, in ihrem Land längst eine kleine Minderheit, aber auch ein Teil linker Jüdinnen und Juden in anderen Ländern fühlen sich seit dem 7. Oktober von großen Teilen einer nicht-jüdischen Linken verraten und im Stich gelassen. Dies gilt für Deutschland etwas weniger als etwa für die USA oder Großbritannien, gibt es doch aus der Partei DIE LINKE eine Reihe von klaren Stellungnahmen, bespielhaft seien hier Cansu Özdemir aus Hamburg, Bodo Ramelow aus Thüringen, Klaus Lederer in Berlin, Fraktion und Partei in Bremen und Bundestagsabgeordnete wie Petra Pau, Gregor Gysi und Dietmar Bartsch genannt. Auch aus Teilen der radikalen Linken sind klare Positionierungen zu vernehmen, erwähnt sei hier die «Rote Flora» in Hamburg.[11] Andere Strömungen und Gruppen, von denen sich manche als «postkolonial» bezeichnen, andere einem primitiven, dualistischen Antiimperialismus anhängen, haben es dagegen an Empathie allzu oft fehlen lassen, von Solidarität ganz zu schweigen. Die in Marokko geborene israelisch-französische Soziologin Eva Illouz ist nur eine von vielen linken jüdischen Stimmen, für die der 7. Oktober auch einen Bruch mit vielen Strömungen der internationalen Linken bedeutet. In der «Süddeutschen Zeitung» schrieb sie:

«Ein großer Teil der Linken - also die Seite, die seit zwei Jahrhunderten Gleichheit, Freiheit und Menschenwürde verteidigt hat - begrüßte entweder die Nachrichten von den Massakern ("Widerstand gegen einen Besatzer"), oder sie hat sie mit intellektuellen Vernebelungsstrategien abgetan. Die Linke hat terrorisierte Juden in der ganzen Welt und in Israel schamlos im Stich gelassen. (…)

Hätte die Linke uns in unserer Trauer nicht wenigstens für einen Moment zur Seite stehen können, so wie es viele Araber weltweit und in Israel getan haben?

Einmal mehr fühlen sich die Juden sehr allein.»[12]


[9] David Baddiel, Und die Juden? München 2021

[12] http://sz.de/1.6295055, Feuilleton, 28.10.202

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