Nachricht | Israel - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Im Krieg ist nicht alles erlaubt

Interview mit Rechtsanwalt Michael Sfard

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Michael Sfard, Yifat Mehl,

Michael Sfard, 2018
«Die moralische Korruption ist für unsere Existenz genauso gefährlich wie die Hamas.» Michael Sfard, 2018, CC BY-SA 4.0, 102fm, via Wikimedia Commons

Dem Kriegsrecht zufolge ist die Anwendung von Gewalt nur zur Selbstverteidigung erlaubt, darf lediglich auf feindliche Kombattant*innen und militärische Objekte allein gerichtet werden, und muss besonders dann verhältnismäßig und vorsichtig sein, wenn bei dieser Aktion Zivilist*innen zu Schaden kommen können. Eine juristische Perspektive auf den derzeitigen Israel-Gaza Krieg liefert Michael Sfard, einer der führenden Menschenrechtsanwälte in Israel. Mit ihm sprach Yifat Mehl aus dem Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
 

Yifat Mehl: Was sollte Ihrer Meinung nach, als ein auf Kriegsrecht spezialisierter Rechtsanwalt, die Öffentlichkeit über das Kriegsrecht und darüber, auf wen es im aktuellen Kontext anwendbar ist, wissen?

Michael Sfard: Bereits in biblischen Zeiten hat die Menschheit die Vorstellung, dass im Krieg alles erlaubt sei, abgelehnt. Detaillierte gesetzliche Regelungen wurden nach den Weltkriegen, insbesondere dem Zweiten Weltkrieg, geschaffen. Heute verfügen wir über einen umfangreichen Rechtskorpus, der bestimmt, was auf dem Schlachtfeld erlaubt ist und was nicht. Das übergeordnete Interesse des Kriegsrechts besteht darin, das Leid der Zivilbevölkerung zu verringern. Dieses Ziel kann nicht vollständig erreicht werden; aber es ist der Grund für die Existenz des Kriegsrechts. Daraus leiten sich drei Prinzipien ab.

Michael Sfard ist ein auf internationales Recht, insbesondere Menschenrechte und Kriegsrecht, spezialisierter Rechtsanwalt und Publizist sowie Autor des Buchs «The Wall and the Gate: Israel, Palestine, and the Legal Battle for Human Rights» (2018).

Yifat Mehl ist Projektmanagerin im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Das erste Prinzip ist der Grundsatz der Unterscheidung. Dieser besagt, dass Kombattant*innen ihre Waffen nur auf feindliche Kombattant*innen und militärische Objekte richten dürfen. Somit sind Angriffe auf Zivilist*innen und zivile Objekte nicht legitim. Vorsätzliche Angriffe auf Zivilist*innen, vorsätzliches Aushungern von Zivilist*innen, vorsätzlicher Trinkwasserentzug von Zivilist*innen und vorsätzliche Angriffe auf zivile Infrastruktur sind Kriegsverbrechen.

Das zweite Prinzip des Kriegsrechts ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Selbst wenn die Waffen auf ein legitimes Ziel gerichtet werden, kann dieser Angriff dennoch illegal sein, wenn davon auszugehen ist, dass bei dieser Aktion Zivilist*innen zu Schaden kommen und der voraussichtliche Schaden für die Zivilist*innen größer ist als der Nutzen der Beseitigung des militärischen Ziels. Natürlich besteht weitgehende Einigkeit in Bezug auf eindeutige Fälle, während es Kontroversen über Fälle im Grauzonenbereich gibt. Wenn sich beispielsweise ein einzelner Kombattant in einer Schule versteckt, steht der Nutzen seiner Eliminierung in keinem Verhältnis zu dem schrecklichen Schaden, den die Kinder in seiner Umgebung bei einem Angriff auf die Schule erleiden. Daher ist ein solcher Angriff illegal und stellt einen Verstoß gegen das Kriegsrecht dar. Ein umgekehrtes Beispiel: Wenn man weiß, dass die Bombardierung des feindlichen Oberkommandos den Krieg beenden wird, dann sind sich die meisten Völkerrechtsexpert*innen einig, dass dies ein legitimer Angriff ist, selbst wenn sich ein unschuldiger Zivilist im Gebäude befindet und dadurch zu Schaden kommt. Aus diesem Grund ist es einer kämpfenden Truppe nicht gestattet, in einer zivilen Umgebung ihre Stellung zu beziehen. Wenn sich Kombattant*innen in der Zivilgesellschaft verstecken, ist dies ein Verstoß gegen das Kriegsrecht.

Der dritte Grundsatz des Kriegsrechts ist die Pflicht, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Der Grundsatz besagt, dass selbst dann, wenn die Waffe auf ein legitimes Ziel gerichtet ist und der Angriff als verhältnismäßig eingestuft wird, die angreifende Partei dennoch verpflichtet ist, Vorkehrungen zu treffen, um die Gefahr zu verringern, dass Zivilist*innen zu Schaden kommen. Zum Beispiel indem sie die Bevölkerung im Voraus darüber informiert, dass ein bestimmtes Gebiet zum Kampfgebiet wird. Wenn man einer Zivilbevölkerung von anderthalb Millionen Menschen sagt, sie sollen an einen Ort gehen, wo sie keine humanitäre Hilfe, die ihre Grundbedürfnisse deckt, erhalten können, wirft das natürlich andere Probleme auf. Ein weiteres Beispiel ist die Pflicht der angreifenden Partei, eine möglichst treffsichere Waffe auszuwählen, um die Gefahr zu verringern, dass Zivilist*innen und an das Ziel angrenzende zivile Einrichtungen zu Schaden kommen.

Diese drei von mir skizierten Grundsätze definieren die Pflichten der kriegsführenden Parteien und ihre Verletzung kann ein Kriegsverbrechen darstellen. Sie gelten für alle am bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien.

Sie haben vor kurzem geschrieben, dass Sie davon ausgehen, dass sich die israelische Reaktion auf die Ereignisse vom 7. Oktober nicht auf das beschränken wird, was das Kriegsrecht zulässt. Können Sie das erläutern?

Der israelische Staat hat das Recht und die Pflicht, sich und seine Staatsbürger*innen zu verteidigen. Er wurde brutal angegriffen und ist verpflichtet, alles Notwendige zu tun, um die Sicherheit wieder herzustellen, jedoch nur im Rahmen des Völkerrechts.

Es besteht Grund zur Befürchtung, dass die israelische Armee von den im Völkerrecht festgelegten Regeln der Kriegsführung abweichen wird. Ich vermute zum Beispiel, dass die Bombardierung vom Flüchtlingslager Dschabaliya ein solcher Fall ist – allerdings ist dies nur ein Verdacht, da ich die Details nicht kenne. Ein Vertreter des Pressebüros der israelischen Armee wurde auf CNN interviewt und bestätigte, dass die Armee wusste, dass es dort viele Zivilist*innen gab, die nicht evakuiert worden waren. Er bestätigte auch, dass das Ziel der Bombardierung ein Bataillonskommandeur der Hamas war. Auf den ersten Blick klingt das nach einem klassischen Fall eines unverhältnismäßigen Angriffs. Obwohl das Ziel legal ist, macht die Einschätzung, dass Dutzende Zivilist*innen zu Schaden kommen werden, den Angriff wohl illegal. Natürlich lässt sich dies erst nach gründlicher Untersuchung mit Sicherheit sagen, aber auf den ersten Blick ist dies ein Beispiel für Unverhältnismäßigkeit.

In diesem Zusammenhang sollte auch die Hamas erwähnt werden. Sie hat am 7.Oktober im Otef Aza (die Ortschaften um den Gazastreifen) die schrecklichsten und grauenvollsten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, möglicherweise sogar im Ausmaß eines Völkermords, falls Hamas das, was sie am 7. Oktober getan haben, mit der Absicht taten, alle Bewohner*innen des Otef Aza zu ermorden.

Was sind die Unterschiede zwischen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord?

Kriegsverbrechen sind schwere Verstöße gegen das Kriegsrecht. Das Schießen auf Personen, die eine weiße Fahne tragen, das Schießen auf Zivilist*innen und das Schießen auf ein Krankenhaus stellen Verstöße gegen die im Kriegsrecht verankerten Verbote dar. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind eine Kategorie von Straftaten, die im Rahmen eines weit ausgedehnten Angriffs auf eine Zivilbevölkerung begangen werden – beispielsweise Mord, der im Rahmen einer übergreifenden systematischen Kampagne begangen wird. Die Entführung oder das Verschwindenlassen von Menschen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn dies systematisch erfolgt. Der Entzug grundlegender Rechte aufgrund der Gruppenzugehörigkeit kann ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nämlich das der Verfolgung sein; und wenn es sich um ein solches Regierungssystem handelt, kann es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom Typ Apartheid sein. Darüber hinaus gibt es noch weitere Verbrechen, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten, wenn sie in großem Ausmaß begangen werden, wie etwas Vertreibungen und bestimmte Sexualverbrechen.

Die dritte Kategorie ist das Verbrechen des Völkermords, das eine eigenständige Kategorie bildet und mitunter als crime of crimes (d.h., das schlimmste Verbrechen) bezeichnet wird. Das Verbrechen des Genozids, das erst 1952 in das Völkerrecht aufgenommen wurde, hat eine andere psychologische Grundlage als das Verbrechen der Vernichtung, das in der Liste der Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgeführt ist. Beim Verbrechen des Völkermords muss die Absicht vorliegen, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.

Um eine solches Verbrechen zu diskutieren, muss man die spezifische Absicht beweisen; ohne diese handelt es sich um Mord oder gar das Verbrechen der Vernichtung, nicht aber um Völkermord. Dabei handelt es sich um die spezifische Absicht, die Gruppe oder einen Teil davon physisch zu vernichten. In der Definition des Verbrechens wird die Art und Weise seiner Ausführung aufgezählt: systematischer Mord, Aushungern und Entzug grundlegender Lebensbedingungen mit dem Ziel der Zerstörung, sowie Beeinträchtigung der Fortpflanzungsfähigkeit. Dazu muss ich sagen, dass ich derzeit (Stand: 2. November 2023, Anm. d. Redaktion) keine Beweise dafür sehe, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht. Wenn Israel der Bevölkerung des nördlichen Gazastreifens befiehlt, sich in den Süden zu begeben, damit sie nicht zu Schaden kommen, ist dies ein Beweis, der dem Verdacht, dass Israel die Vernichtung beabsichtigt, widerspricht. Ich nehme im internationalen Diskurs eine Tendenz, den schwerwiegendsten Begriff zu verwenden, wahr, so als ob die anderen Verbrechen nicht schwerwiegend genug wären. Es besteht der Verdacht, dass Israel gegen das Kriegsrecht verstößt. Ich habe die Bombardierung von Dschabaliya als Beispiel genannt, aber es gibt noch andere Fälle.

Aufhetzung zum Völkermord ist ein separates Verbrechen; und Aufhetzung zum Völkermord kommt in Israel derzeit zweifellos vor: die Aufrufe, den Gazastreifen zu zerstören, auszulöschen, zu zerschlagen, eine zweite Nakba durchzuführen, und so weiter. Aber um zu behaupten, dass Israel das Verbrechen des Völkermords begeht, reichen sprachlichen Äußerungen nicht aus. Es muss jemand in der militärischen oder politischen Hierarchie, der befugt ist, Befehle erteilen, die darauf abzielen, ein Volk zu zerstören; und ich glaube nicht, dass dies geschieht.

Eine vierte Kategorie völkerrechtlich geächteter Verbrechen ist neben den Kriegsverbrechen, den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und dem Verbrechen des Völkermords das Verbrechen der Aggression. Dieses Verbrechen liegt vor, wenn eine Konfliktpartei gegen die völkerrechtlichen Regeln der Kriegseröffnung verstößt. Nach dem Kriegsrecht ist die Anwendung von Gewalt nur zur Selbstverteidigung erlaubt. Jeder kann sich fragen, ob die Hamas einen Grund hatte, Gewalt anzuwenden, oder ob es sich um Selbstverteidigung handelte. Ich denke, es ist klar, dass Israel das Recht hat, sich nach dem, was am 7. Oktober passiert ist, zu verteidigen. Die Gewaltanwendung von Seiten Israel stellt daher keinen Verstoß gegen das völkerrechtliche Aggressionsverbot dar.

Wer trägt strafrechtliche Verantwortung für Verstöße gegen das Kriegsrecht? Gegen wen wird gegebenenfalls ermittelt?

International strafrechtlich geächtete Verbrechen werden von Menschen begangen, nicht von Organisationen und nicht von Staaten. Strafrechtlich verantwortlich für Kriegsverbrechen ist die Person, deren Entscheidung zur Durchführung einer rechtswidrigen Handlung notwendig ist, und die die Details kennt, die sie rechtswidrig machen. Die Verantwortung kann bei Soldat*innen im Feld liegen, bei Pilot*innen, die wissen, was sie bombardieren, und sie kann sogar bis zur Ebene des Premierministers reichen.

Auf Seiten der Hamas sind alle bewaffneten Männer, die Teil einer klaren hierarchischen Struktur sind, und die zivile Führung, die ebenfalls Teil der Organisation ist, verantwortlich. Und es ist klar, dass alle, die an dem Angriff am 7. Oktober beteiligt waren, einschließlich derer, die Raketen abgeschossen haben, für die begangenen international geächteten Verbrechen verantwortlich sind, und dass sie deswegen im Internationalen Strafgerichtshof vor Gericht gestellt werden müssen. Kommandeure tragen die Hauptverantwortung, sofern nachgewiesen werden kann, dass sie die Verbrechen nicht verhindert haben. In Bezug auf die Hamas reicht der Nachweis, dass die Kommandeure keinen Befehl gegeben haben, keine Zivilist*innen zu töten, aus, um die Kommandeure strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Ist es bereits vorgekommen, dass westliche Akteure aus mächtigen Staaten vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt wurden?

Es gab eine Untersuchung des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs, die sich mit dem Verdacht befasste, dass US-amerikanische Streitkräfte in Afghanistan gefoltert haben. Dies Akten wurden beiseitegelegt. Das Völkerrecht regiert sensibel auf politische Macht, insbesondere wenn Großmächte involviert sind.

Würden Sie sagen, dass Israel politische Macht hat?

Definitiv. Israel verfügt über enorme politische Macht. Wenn der Internationale Strafgerichtshof versuchen würde, sich mit Israel anzulegen, würde er seine eigene Existenz gefährden. Die Macht des Internationalen Strafgerichtshofs beruht hauptsächlich auf der Unterstützung von zwei Quellen: die Entwicklungsländer (Asien, Afrika und Lateinamerika) und Westeuropa. Die Gelder für das Budget des Gerichtshofs kommen aus westeuropäischen Staaten und Kanada. Wenn sich der Gerichtshof mit Israel beschäftigt, birgt dies die Gefahr, dass das Gericht die Unterstützung Westeuropas verliert. Israel ist in der Lage, auf Westeuropa sowohl direkt als auch über die USA erheblichen Einfluss zu nehmen; hauptsächlich auf Deutschland. Übrigens birgt die Vermeidung der Beschäftigung mit Israel/Palästina auch eine Gefahr für den Gerichtshof. Wenn Länder des Globalen Südens zu dem Schluss kommen, dass der Gerichtshof die Beschäftigung mit dem Westen und insbesondere mit den USA und denjenigen, die als deren Handlanger gelten (z.B. Israel), vermeidet, besteht die Gefahr, dass sie sich aus dem Gerichtshof zurückziehen. Kein Gericht auf der Welt ist völlig unabhängig. Ein Gericht ist ein politisches Organ im weitesten Sinne, und als Institution wird politische Macht auf ihn ausgeübt.

In dem Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof, in dem es um die Rechtmäßigkeit der Besatzung ging, hat Deutschland dem Gerichtshof eine Stellungnahme vorgelegt, die meiner Meinung nach beschämend ist und im Widerspruch zur gesamten europäischen und deutschen Konzeption des Status und der Bedeutung des Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg steht.

Können noch etwas weiter auf die Rolle Deutschlands eingehen?

Für Deutschland verkörpert der Internationale Strafgerichtshof den Höhepunkt der aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust gezogenen Lehren und ist daher von enormer Bedeutung. Allerdings führt die Pathologie der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel meines Erachtens zu einer Situation, in der Deutschland nicht einmal in der Lage ist, einen der elementarsten Freundschaftsdienste zu leisten und Israel zu kritisieren, wenn dies notwendig und angemessen ist. Sollte gegen einen israelischen Juden ein internationaler Haftbefehl erlassen werden, wäre Deutschland verpflichtet, dem Haftbefehl Folge zu leisten und diese Person an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern. Wird Deutschland in der Lage sein, einen israelischen Juden wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszuliefern? Würde Deutschland den Haftbefehl missachten? Würde Deutschland sich aus dem Internationalen Strafgerichtshof zurückziehen, damit es den Haftbefehl nicht durchsetzen muss? Oder würde es sich eventuell dafür entscheiden, dem Gerichtshof zu schaden, damit dieser seine Position ändert?

In dem Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof, in dem es um die Rechtmäßigkeit der Besatzung ging, hat Deutschland dem Gerichtshof eine Stellungnahme vorgelegt, die meiner Meinung nach beschämend ist und im Widerspruch zur gesamten europäischen und deutschen Konzeption des Status und der Bedeutung des Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg steht. Deutschlands Botschaft war, dass sich der Gerichtshof nicht in den israelisch-palästinensischen Konflikt einmischen sollte, da dies eine Politisierung des Rechts sei. Das ist, als würde man sagen: Wir gewähren Israel Immunität.

Aus der Lektüre Ihrer Texte wird deutlich, dass Sie über die moralische Korruption Israels sehr besorgt sind. Sie haben geschrieben, dass moralische Korruption ein selbstversorgender Mechanismus ist, der ohne kraftvolle und beharrliche Intervention, endlos sein kann. Gibt es Ihrer Meinung nach ein nicht-juristisches internationales Gremium, das dazu beitragen kann, diese Abwärtsspirale zu stoppen?

Die moralische Korruption ist für unsere Existenz genauso gefährlich wie die Hamas. Moralische Korruption ist ein Prozess, der auf zwei Arten gestoppt werden kann. Ein Weg wäre, dass die Gesellschaft die inneren Kräfte findet, um den Prozess zu stoppen; der andere, dass die moralische Korruption gegen eine internationale rechtliche Mauer stößt. Das Problem besteht darin, dass, wenn wir uns nicht darüber im Klaren sind, dass bestimmten Handlungen falsch sind, internationaler Druck von vielen Israelis als etwas gesehen wird, das von antisemitischen oder anti-israelischen Motiven herrührt. Dennoch kann Druck von außen eine bestärkende positive Rolle dabei spielen, diese Prozesse zu stoppen, wenn er auf eine legitime innere Kraft trifft, die die gleiche Position vertritt.

Derzeit gibt es in Israel keine Diskussion darüber, was mit der Zivilbevölkerung im Gazastreifen geschieht. Die etablierten Nachrichtensender sprechen nicht darüber und die israelischen Medien vermeiden es, Interviews und Berichte aus menschlicher Sicht von dort zu bringen. Deshalb ist es kein Wunder, dass es trotz der Tausenden von Toten im Gazastreifen in Israel fast keine Stimme gibt, die fragt, ob wir genug getan haben, um Schaden von Unschuldigen zu verhindern. Vielleicht werden wir auch darüber zu sprechen anfangen, mit ein wenig mehr zeitlichen Abstand zum 7. Oktober. Es gibt keine Lösung für den blutigen Konflikt, die nicht letztlich die Achtung des Rechts aller Menschen im Gazastreifen und in Sderot auf ein Leben in Sicherheit und Menschenwürde einschließt. Dies beginnt mit der Einhaltung der grundlegendsten Regeln des Kriegsrechts, die darauf abzielen, den Schaden für die Zivilbevölkerung zu verringern.
 

Dieses Interview wurde Anfang November 2023 geführt und aus dem Hebräischen übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin.