Nachricht | Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Keine Straffreiheit für Morde an Palästinenser*innen

Interview mit Issam Aruri, Direktor des Jerusalem Legal Aid and Human Rights Center

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Issam Aruri, Sari Harb,

Vertriebene Menschen auf dem Weg in den Süden des Gazastreifens (9.11.2023)
«Meiner Ansicht nach ist Israel über die Grenzen einer legitimen Selbstverteidigung hinausgegangen.» (Issam Aruri) Vertriebene Menschen auf dem Weg in den Süden des Gazastreifens (9.11.2023), Foto: Mohammed Zaanoun/ActiveStills

Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist nach mehr als einem Monat Krieg zwischen Israel und der Hamas und anderen militanten palästinensischen Gruppierungen so verheerend wie nie. Durch die anhaltende Bombardierung sind Tausende von Palästinenser*innen zu Tode gekommen. Gleichzeitig verschlechtert sich auch die Lage im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem, da die Gewalt israelischer Siedler*innen gegen die palästinensische Bevölkerung zunimmt. Über die Menschenrechtslage in Gaza sprach Sari Harb aus dem Palästina-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Issam Aruri, dem Direktor des Jerusalem Legal Aid and Human Rights Center.
 

Sari Harb: Die Menschenrechtslage im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem hat sich deutlich verschlechtert. Könnten Sie einen Überblick über die aktuelle Lage in den besetzten Gebieten geben?

Issam Aruri: Die Lage in den besetzten Gebieten hat sich in den letzten drei bis vier Jahren massiv verschlechtert. Ganz besonders zugespitzt (vor allem im Westjordanland) hat sie sich allerdings mit der Bildung der neuen ultrarechten Regierung in Israel. Die Hardliner dieser Regierung fordern die «Umsiedlung aller Palästinenser*innen». Bezalel Smotrich, Finanzminister und im Verteidigungsministerium zuständig für die besetzten palästinensischen Gebiete, hat keinen Hehl aus seinem Plan gemacht, die Palästinenser*innen aus den besetzten Gebieten zu vertreiben.

In den Jahren vor 2023 haben israelische Streitkräfte Statistiken zufolge im Schnitt 40 bis 50 Palästinenser*innen pro Jahr im Westjordanland getötet. Im Jahr 2023 lag die Zahl getöteter Palästinenser*innen bei 248, und das wohlgemerkt vor dem Angriff im Oktober.

Issam Aruri ist Direktor des Jerusalem Legal Aid and Human Rights Center, einer der Partnerorganisationen der Rosa-Luxemburg-Stiftung Palästina und Jordanien, und Generalkommissar der Unabhängigen Kommission für Menschenrechte, der nationalen palästinensischen Menschenrechtsinstitution.

Sari Harb ist Programm-Manager im Büro Palästina und Jordanien der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah.

2023 erreichte die israelische Siedlungsexpansion einen neuen Höhepunkt. Bereits vor diesem Krieg nahm die Siedlergewalt im Westjordanland so stark zu wie nie zuvor und die Zahl der Angriffe israelischer Siedler*innen auf die palästinensische Zivilgesellschaft stieg auf ein Rekordhoch. Die Ermordung von Palästinenser*innen durch israelische Siedler*innen wurde beinahe Normalität, ohne dass es einen Aufschrei gab oder die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden.

Nach den Genfer Konventionen muss eine Besatzungsmacht die Zivilbevölkerung schützen. Israel ist also verpflichtet, die palästinensische Zivilbevölkerung zu schützen. Stattdessen erhalten die Siedler*innen jedoch immer mehr Waffen. Das Gegenteil ist also der Fall, und wir erwarten eine weitere Verschlechterung der Lage im Westjordanland.

In Ihrer Funktion beim Jerusalem Center for Human Rights haben Sie immer wieder aktuelle Informationen zur Menschenrechtslage geliefert. Könnten Sie jetzt, nach mehr als 30 Tagen Krieg, etwas zur aktuellen Lage sagen und erklären, wie sie sich auch auf Ihre Arbeit auswirkt?

Ja, gern. Wir arbeiten derzeit mit 50 Prozent unserer Kapazität, weil unsere Mitarbeitenden auf dem Weg zur Arbeit zu großen Gefahren ausgesetzt wären. Die Bewegungsfreiheit wurde weiter eingeschränkt. Seit den Osloer Verträgen wurde das besetzte Westjordanland in die Gebiete A (18 Prozent – unter palästinensischer Kontrolle), B (22 Prozent – administrativ unter palästinensischer Kontrolle und sicherheitstechnisch unter israelischer Kontrolle) und C (60 Prozent – komplett kontrolliert von Israel) eingeteilt. An fast jedem Wechsel gibt es jetzt einen israelischen Kontrollpunkt, und auch auf den Straßen sind die Menschen zunehmend Übergriffen von israelischen Siedler*innen ausgesetzt. Der Arbeitsweg ist also sehr gefährlich geworden. 

Wir können außerdem einige unserer Aufgaben nicht mehr wie gewohnt wahrnehmen. Zum Beispiel haben wir früher Rechtshilfe für die Opfer von Siedlergewalt geleistet. Dafür mussten wir mit der betroffenen Person zunächst zu einer israelischen Polizeistation gehen, um dort Anzeige wegen Gewaltakten durch Siedlergruppen zu erstatten. Alle israelischen Polizeistationen im Westjordanland befinden sich jedoch in den Siedlungen selbst. Manche Täter*innen haben ihre Tat in der Siedlung verübt, in der sie auch wohnen. Deshalb verfolgen wir keine Fälle von Siedlergewalt mehr. Wir haben einen Brief an die israelische Zivilverwaltung geschickt, die die eigentliche Kontrolle über das Westjordanland hat, und sie gebeten, die Situation zu ändern, damit wir Zugang zu Orten bekommen, an denen wir Anzeige erstatten können.

Hinzu kommt die unglaubliche Zahl an willkürlichen Verhaftungen: Seit Beginn des Krieges wurden im Westjordanland über 2.000 Palästinenser*innen verhaftet. Zu einer Verhaftung kann es schon kommen, wenn Personen einen Kommentar auf Facebook über die Bombardierung des Gazastreifens posten. Wo sollen sie denn ihre Meinung äußern? Ist es überhaupt noch erlaubt, eine Meinung zu haben oder Informationen zu teilen? Es ist beinahe normal, dass die israelischen Soldaten an den Kontrollpunkten den Menschen ihre Handys abnehmen.

Wie geht Ihr Menschenrechtszentrum damit um, dass Palästinenser*innen von Israel in Kriegszeiten zunehmend entmenschlicht dargestellt werden?

Diese Entmenschlichung der Palästinener*innen durch Israel hat System. Ich erinnere mich an die Äußerungen von Ayelet Shaked, als sie Justizministerin war: Sie sagte tatsächlich, die israelischen Streitkräfte sollten alle schwangeren Palästinenserinnen töten, bevor sie «kleine Schlangen» zur Welt bringen. Kürzlich sagte der israelische Verteidigungsminister, Israel würde gegen «menschliche Tiere» kämpfen. Wir glauben, dass solche Äußerungen den Massenmord an palästinensischen Zivilist*innen im Gazastreifen und in großen Teilen des Westjordanlandes rechtfertigen sollen. Die israelischen und internationalen Mainstream-Medien machen sich dabei mitschuldig oder heizen solche Äußerungen und Diskurse gar an.

Deshalb haben wir Israel und die internationale Gemeinschaft aufgefordert, eine neutrale Untersuchungskommission einzusetzen, die diese Behauptungen untersucht. Wenn Israel von seinen Behauptungen überzeugt ist, warum lässt es dann nicht zu, dass unabhängige Gremien des UN-Menschenrechtsrats und die vom Menschenrechtsrat eingesetzte unabhängige Untersuchungskommission sowie der Internationale Strafgerichtshof diese Vorgänge untersuchen und der Welt mitteilen, was vor sich geht?

Welche Auswirkungen hat der Krieg gegen Gaza?

Die meisten westlichen Länder sagen, dass Israel das Recht auf Selbstverteidigung hat, solange die Zivilbevölkerung dabei keinen Schaden nimmt. Mittlerweile trifft dieser Krieg aber genau diese Zivilbevölkerung. Bis zum Tag dieses Interviews wurden 10.022 Palästinenser*innen getötet, darunter mindestens 4.800 Kinder, 46 Journalist*innen und 125 Rettungskräfte. 50.000 schwangere Frauen können sich nicht in einem Krankenhaus betreuen lassen. Die Weltgesundheitsorganisation und UN-Organisationen berichteten, dass 14 von 35 Krankenhäusern im Gazastreifen und 46 von 72 Gesundheitszentren entweder zerstört oder nicht mehr funktionsfähig sind. Schutzräume der UNO werden bombardiert, darunter drei Schulen, zwei davon waren UN-Schulen.

Das soll Selbstverteidigung sein? Wie viele palästinensische Opfer müssen es werden, damit Israel sagt, jetzt ist Schluss?

Das humanitäre Völkerrecht formuliert drei grundlegende Prinzipien, die alle Konfliktparteien einhalten müssen. Das erste ist das Prinzip der Unterscheidung, das verlangt, bei Kriegshandlungen klar zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten zu unterscheiden. Leider wird dieses Prinzip im aktuellen Konflikt vollkommen missachtet. Ganze Gebäude werden angegriffen und die Zivilbevölkerungen damit großen Gefahren ausgesetzt. Das zweite Prinzip ist das der Verhältnismäßigkeit, das besagt, dass das Ausmaß der bei einem militärischen Angriff entstehenden Schäden den erwarteten militärischen Nutzen nicht übersteigen darf. Tragischerweise wird auch dieses Prinzip missachtet. Das dritte Prinzip, die militärische Notwendigkeit, besagt, dass Angriffe nur dann zu rechtfertigen sind, wenn sie zur Erreichung legitimer militärischer Ziele für notwendig erachtet werden. Leider werden diese Prinzipien immer wieder verletzt, und die übermäßige Anwendung von Gewalt gibt Anlass zur Sorge.

Meiner Ansicht nach ist Israel über die Grenzen einer legitimen Selbstverteidigung hinausgegangen. In einigen wichtigen internationalen Berichten wird behauptet, dass Israels Handlungen nicht nur Kriegsverbrechen darstellen, sondern auch die Schwelle zum Völkermord erreichen. Dies ist besonders kritisch, da Israel die palästinensische Bevölkerung mittels kollektiver Bestrafung unter Druck setzt und sie so zwingt, ihr Wohngebiet zu verlassen. Die Folgen sind verheerend: 1,5 Millionen von 2,2 Millionen Einwohner*innen, also zwei Drittel der Bevölkerung, sind vertrieben worden.

Was ist jetzt aus humanitärer Sicht erforderlich?

Die Zeit wird knapp und die Situation ist mehr als katastrophal. Wir brauchen einen sofortigen Waffenstillstand. Es braucht dringend sichere humanitäre Hilfskorridore, gerade jetzt vor dem Wintereinbruch. Außerdem müssen geeignete und würdige Unterkünfte bereitgestellt werden. Vor allem aber muss der Weg für einen politischen Prozess geebnet werden, der die Krise an der Wurzel packt.
 

Dieses Interview wurde Anfang November 2023 geführt. Übersetzung von Cornelia Gritzner und Tabea Magyar für Gegensatz Translation Collective.