Ende Februar sollte Senegal einen neuen Präsidenten wählen. Obwohl der amtierende Präsident, Macky Sall, lange Zeit offengelassen hatte, ob er ein drittes Mandat anstreben werde, steht mittlerweile sein designierter Nachfolger fest. Nun wurde die Wahl kurzzeitig verschoben; offiziell wegen Intransparenz bei der Prüfung der Unterlagen der Kandidat*innen. In jedem Fall ist es Zeit für eine Bilanz der Regierung Sall, die angetreten war, Senegal mit dem wirtschaftspolitischen «Plan Sénégal Emergent» in die Ländergruppe der Schwellenländer («Emerging Markets») zu führen.
Die Straße Richtung Palmarin im Saloum-Delta, einem unserer beliebten Ausflugsziele für verlängerte Wochenenden von Dakar aus, hat sich verändert. Früher ging es zunächst 35 Kilometer über Sandpisten, oder – wie so oft hier – wegen der vielen Schlaglöcher neben ihnen. Heute flitzen wir über geteerte Straßen. Früher standen wir sonntagsabends oft stundenlang auf der Nationalstraße in Bargny im Stau, ein Präludium für den Stau in Rufisque, bevor wir dieses Nadelöhr durchfahren hatten und auf der Halbinsel angekommen waren, auf der sich die Stadt Dakar ausbreitet. Heute rasen wir auf der Maut-Autobahn bis ins Zentrum von Dakar.
Claus-Dieter König leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung Westafrika in Dakar.
Auf diese Leistungen verweist Macky Sall, Präsident Senegals seit 2012, gerne: Die Infrastruktur ländlicher Regionen hat sich verbessert, und geteerte Straßen erleichtern es, die landwirtschaftlichen Produkte zu vermarkten. Dörfer, die noch vor kurzem lediglich das Licht von Taschen- und Petroleumlampen nach Sonnenuntergang kannten, haben nun Stromanschluss. Nicht zuletzt für das Handwerk ist das eine Erleichterung.
Doch hinter der Fassade des Fortschritts liegt vieles im Argen, was anzupacken Macky Sall seinem Nachfolger überlässt.
Momentaufnahmen aus Dakar
Wer nach Dakar reist, sieht eine Stadt im Wachstum. Es entstehen schicke, vielstöckige Apartment-Wohnburgen in einst ruhigen Vierteln von Einfamilienhäusern mit großem Garten. Mermoz, der Standort des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Dakar, ist eines dieser Viertel. Mieten und Grundstückspreise sind in die Höhe geschossen. Die früher kaum befahrene Straße vor dem Büro, auf der meine Tochter vor wenigen Jahren noch Roller fahren konnte, versinkt nun allabendlich im Verkehr jener, die meinen, über den Weg durch das Wohnviertel den Stau auf der parallelen Hauptstraße umfahren zu können. Immer seltener geht dieses Kalkül auf – und nicht nur hier, sondern überall in den Seitenstraßen stehen die Autoschlangen zur Rush-Hour.
Wachstumsraten von sechs Prozent lassen Sall reklamieren, dass er Senegal wirtschaftlich entwickelt habe. Doch das Wachstum kommt nicht unten an. Im Gegenteil – viele spüren derzeit vor allem die Preissteigerungen lebenswichtiger Güter und der Mieten, die zur Vertreibung der angestammten Bewohner*innen führen. Armut ist zwar in anderen afrikanischen Ländern sichtbarer als in Senegals Metropole Dakar; Slums wie Kibera oder Mukuru in Kenias Hauptstadt Nairobi existieren hier nicht. Dennoch leben auch hier ganze Familien in Verschlägen aus Holz und Wellblech. Dort sind sie in der Regenzeit ungeschützt und stehen oft in den eigenen Wohnräumen mit den Füßen im Wasser. Solcherart Wellblech-Häuser sind von der Straße aus meist nicht sichtbar, denn sie befinden sich in den Hinterhöfen.
Wie es der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung geht, lässt sich anhand von Momentaufnahmen beschreiben. Ein Beispiel: Im Senegal gehört es zur Kultur, sich gut zu kleiden. Entsprechend sieht man der jungen Frau im schicken Kleid mit modisch gestyltem Perückenhaar unterwegs zur Arbeit nicht an, dass sie mit einem Dutzend anderen Mitgliedern der Großfamilie auf 20 Quadratmetern in einem der Vororte lebt. Ihr Arbeitsweg ist nicht wirklich weit, dennoch verbringt sie oft mehr als eine Stunde pro Wegstrecke im sogenannten Car Rapide, dem bunt bemalten Kleinbus, der zum kulturellen Erbe Dakars gehört. Auch der steckt zur Rush-Hour im Stau, denn er nutzt aus Kostengründen nicht die Mautstraße. Die Frau kann sich einen anderen Arbeitsweg indes nicht leisten, da sie in einem modernen Call-Center arbeitet, wo sie für den europäischen Markt arbeitet, aber dennoch nur einen geringen Lohn erhält.
Vor einigen Monaten half ich einer mit meiner Frau verwandten Familie beim Umzug in einen Vorort Dakars. Der Mann arbeitet als Wächter für eine Sicherheitsfirma, die Frau als Köchin in einem Kindergarten. Zusammen verdienen sie etwa 300 Euro im Monat. Im Sicherheitsdienst arbeiten Wächter in Zwölf-Stunden-Schichten. Um pünktlich zu erscheinen, muss der Familienvater um halb fünf aus dem Haus, da sich der Stau schon früh morgens aufbaut. Für den Rückweg braucht er wegen der Hauptverkehrszeit oft mehr als drei Stunden. Die Familie zog aus dem innerhalb Dakars liegenden Viertel Ouakam in ein rund 30 Kilometer vor der Stadt gelegenes Dorf. Dort hatten sie sich auf einem kleinen Grundstück ein Häuschen errichtet. Noch hat es keine Fenster und keinen Strom – dafür reicht es erst, wenn wieder etwas Geld übrig ist. Der Boden ist aus Lehm und wird, nachdem Fenster eingesetzt wurden, irgendwann gekachelt werden. Immer mehr Menschen können sich die rasant steigenden Mieten in Dakar nicht leisten und ziehen in weit außerhalb liegende Vororte. Arm sein heißt hier für viele, keine Zeit zu haben – außer für die Lohnarbeit und den langen Transport im Car Rapide.
Doch auch die Wohlhabenden stehen stundenlang im Stau. Sie ziehen ebenfalls stadtauswärts, weil sie sich nur dort Grundbesitz leisten können. Neu ist der TER, der moderne Vorortzug, der vom altehrwürdigen Bahnhof in der Innenstadt bis nach Diamniadio führt, den neuen Verwaltungs- und Industriestandort 35 Kilometer außerhalb von Dakar. Die Vereinten Nationen haben hier jüngst ihr neues Gebäude eingeweiht, Industrie ist bereits vorhanden, Ministerien sollen folgen. Bald wird der Regionalzug auch den Flughafen anfahren. Zudem wird eine Schnellbuslinie in die nördlichen Vororte Dakars gebaut, wo ein Großteil der Bevölkerung der Stadt lebt.
Maut-Autobahn, TER und Schnellbus – diese Projekte bringen zwar eine gewisse Entlastung der Verkehrssituation, aber es mangelt dennoch an einem umfassenden Konzept für den öffentlichen Nahverkehr der Viermillionenstadt. Denn es fehlt ein gutes Angebot für die «Normal-gering-verdiener*innen» – «normal», denn sie sind die Mehrheit der Bevölkerung, deren Einkommenshöhe jedoch gering ist. Eine Fahrt im TER kostet etwa zehn Mal so viel wie im Car Rapide, im Schnellbus wird sie laut offiziellen Ankündigungen etwa das Dreifache kosten, und auch die Maut ist für viele (zu) teuer. Unterm Strich bleiben es Prestigeprojekte mit begrenzter Wirkung.
Die Armut nimmt zu
Ohne staatlich gesteuerte Umverteilung bleibt das angepriesene Wirtschaftswachstum für die Masse der Bevölkerung ohne Bedeutung. Eine solche ist aber nicht in Sicht. Zudem ist die soziale Infrastruktur, vor allem auf dem Land, unverändert dürftig. Dies betrifft unter anderem Schulen und die Gesundheitsversorgung. In einem Dorf mit 150 Kindern gibt es zwei Lehrkräfte. Die Schule geht bis zur sechsten Klasse, dann ist Schluss. Vielen Familien fehlt aber das Geld für Unterrichtsmaterialien, und so verlassen manche Kinder, vor allem Mädchen, schon früher die Schule. Immer noch sterben zu viele Menschen an heilbaren Krankheiten, weil ärztliche Versorgung und Krankenhäuser nicht existieren oder es an Ausstattung mangelt. Oft fehlt auch das Geld für die Behandlung, und nur ein kleiner Teil der Bevölkerung ist krankenversichert.
Im Gegenteil dazu spürt ein großer Teil der Senegales*innen die wirtschaftlichen Veränderungen vor allem durch das Verschwinden ihrer Einkommensquellen. So ersetzen beispielsweise Fischmehlfabriken die handwerkliche Weiterverarbeitung des Fisches, im Senegal eine Frauendomäne. Zudem sind neue Häfen dort geplant, wo Frauen bislang der Fischverarbeitung nachgehen.
Im November veranstaltete die Rosa-Luxemburg-Stiftung in St. Louis, der historischen Hauptstadt und Fischerregion im Norden des Landes, eine Klimaschule. Wir lernten, dass die Installationen für die in diesem Jahr beginnende Gasförderung vor der Küste bereits jetzt die Erträge der dortigen Fischereigemeinschaften drastisch verringern. Dagegen leisten diese erbitterten Widerstand. Auch in den Städten setzen sich die Unternehmen durch: Die französische Supermarktkette Auchan führt einen Preiskampf mit dem Lebensmittelhandel der traditionellen Märkte – und gewinnt ihn. Wo sich in Dakar früher der lokal betriebene, sogenannte «Malische Markt» befand, stehen heute das Musée des Civilisations Noires (das «Museum der Schwarzen Zivilisationen») und das Nationaltheater – zwei weitere Prestigeprojekte, die Sall von seinem Vorgänger, Abdoulaye Wade, übernommen hat.
Hinzu kommen die Auswirkungen des Klimawandels. Sie treffen die Fischereigemeinschaften durch das sich beschleunigende Artensterben, aber auch durch Sturmfluten, die ihre Häuser wegspülen. Da der Regen nicht mehr zuverlässig fällt, treffen sie auch die Landwirtschaft. Dennoch tut die Regierung Sall nichts; die Betroffenen werden weder kompensiert, noch gibt es Versuche, andere Einkommensquellen für sie zu finden.
Und nicht zuletzt sind in Macky Salls Regierungszeit die Auslandsschulden Senegals kontinuierlich gewachsen, besonders in den letzten sechs Jahren. Inzwischen droht dem Land eine Verschuldungskrise. Die wirtschaftspolitische Bilanz der Amtszeit Salls ist also ausgesprochen dürftig.
Demokratie als Farce
Zwei der Nachbarländer Senegals, Guinea und Mali, werden aktuell vom Militär regiert; dasselbe gilt für die westafrikanischen Länder Burkina Faso und Niger. Senegal hingegen gilt als stabil. Aber demokratisch – wie es der Westen oft proklamiert – ist das Land unter Macky Sall nicht. Oppositionelle Journalist*innen sitzen in den Gefängnissen neben Jugendlichen, deren einziges Vergehen die Teilnahme an einer Demonstration vor sechs Monaten war. Ebenfalls inhaftiert sind mehrere Personen, die ihre Kandidatur für das Amt des Präsidenten erklärt haben, vor allem der oppositionelle Ousmane Sonko, der für die Wahl im Februar 2024 nicht zugelassen wurde. Demonstrationen der Opposition wurde, besonders in den vergangenen drei Jahren, mit stets steigender staatlicher Gewalt begegnet.
Schon im Vorfeld der Präsidentschaftswahl von 2019 gelang es Sall, die einzigen beiden ernst zu nehmenden Konkurrenten um das Präsidentenamt durch gerichtliche Verurteilungen an der Kandidatur zu hindern. Diesmal ebnet der Präsident seinem Dauphin Amadou Ba den Weg, in dem er dessen Konkurrenten ausschaltet oder behindert. Neben Sonko wurde mit Karim Wade ein anderer aussichtsreicher Kandidat nicht zugelassen, weil er seine französische Staatsangehörigkeit angeblich nicht rechtzeitig abgelegt hatte (als Kandidat*in darf man im Senegal nur die senegalesische Staatsangehörigkeit besitzen).
Zu Macky Salls Aktivitäten gegen Opposition und Protest gehören auch Kollektivbestrafungen. So ist die Universität Cheikh Anta Diop seit Juni 2023 geschlossen. Ihre Studierenden gehören zu jenen, die auf der Straße ihre demokratischen Rechte einfordern. Die Schließung der Hochschule bedeutet, dass 40.000 Studierende, die sonst in den Wohnheimen der Uni leben, aktuell nicht in Dakar sind. Das ist das erwünschte Ergebnis, da sie so nicht länger Stimmung gegen die Regierung machen können. Insgesamt werden mehr als 90.000 Studierende an der Fortsetzung ihres Studiums gehindert.
Eine andere Kollektivbestrafung ist, dass seit den Protesten vom Juni 2023 die Fährverbindung zwischen Ziguinchor und Dakar eingestellt ist. Ziguinchor ist die wichtigste Stadt der Region Casamance. Ihr Bürgermeister ist ebenjener Ousmane Sonko, der Präsident Sall mit großem Rückhalt in der senegalesischen Bevölkerung herausfordert. Dort waren die Proteste im Sommer besonders heftig. Das Fehlen der Fährverbindung verteuert den Transport von Produkten aus Dakar nach Ziguinchor und damit die dortigen Lebenshaltungskosten, was wiederum die ohnehin bestehende Ablehnung der Zentralregierung fördert.
Wachsende Fluchtbewegung
Im Rahmen unserer Klimaschule im November traf ich Fadel Wade, Klimaaktivist aus Bargny nahe Dakar, wo die Widersprüche Senegals offen zutage treten: Ein aufgrund von Widerstand abgeschaltetes Kohlekraftwerk steht dort, wo vorher Frauen Fisch verarbeiteten, Fischer finden wegen des geplanten neuen Hafens immer weniger Fische vor, der Staub der nahegelegenen Zementfabrik legt sich über die Ernte auf den Feldern – das sind nur einige der Herausforderungen. Als wir uns trafen, trauerte Fadel um Familienmitglieder, die beim Versuch, mit einem der Fischerboote die Kanarischen Inseln zu erreichen, ertrunken sind. Bargny sei leer geworden, sagte er. Die Jugend sei weg; viele wollten das Land verlassen.
Doch der Ausreisewelle entgegnet die senegalesische Regierung mit zunehmender Kontrolle der Meere. Hubschrauber werden eingesetzt, um die Boote zu lokalisieren und zurückzuweisen. Im Zweifel schießen Polizist*innen sogar auf Menschen, die Boote besteigen. Wie auf allen Fluchtwegen gilt auch hier: Wo die Kontrollen und Patrouillen verschärft werden, wachsen das Risiko und die Kosten. Inzwischen werden neue Routen durch die Sahara gesucht, abseits der Verkehrsachsen und mit kaum Wasserstellen. Boote wagen sich in gefährlichere Gewässer. Der Tod reist im Boot und in der Wüste stets mit – das ist auch das Ergebnis der Flüchtlingsabwehr der Europäischen Union. Dass dies kaum abschreckend wirkt, beweist, wie hoch die Frustration und Verzweiflung der Jugend angesichts ihrer fehlenden Zukunftsperspektiven im Senegal ist.
Aktuell ist die Zahl derer, die das Land verlassen, so groß wie nie zuvor. Es sind Menschen, die keine Hoffnung haben, dass der Präsidentenwechsel ihre Lage im Land verbessert – weder wirtschaftlich noch politisch.
Macky Sall hinterlässt ein Land, das sich vordergründig ordentlich präsentiert. Wer indes genauer hinsieht, erkennt, wie die soziale Lage für die Mehrheit der Bevölkerung aussieht – und warum so viele Menschen Senegal verlassen wollen. Sie haben bereits gewählt, mit den Füßen und in den Booten, und viele haben dies mit dem Tod oder traumatisierenden Erlebnissen bezahlt. Eine Erfolgsbilanz ist das nicht. Das Land geht schweren Zeiten entgegen.