Westafrika hält den Atem an: Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Economic Community of West African States – ECOWAS) ist bereit, Niger militärisch anzugreifen, wenn die Putschregierung den gewählten Präsidenten Mohamad Bazoum nicht wiedereinsetzt. Erst ließ sie das erste Ultimatum ohne Konsequenzen verstreichen. Doch nachdem die Junta ein Treffen mit Vertreter*innen von ECOWAS, Afrikanischer Union (AU) und Vereinten Nationen (UNO) am 8. August kurzerhand absagte, verschärften die Staats- und Regierungschefs der ECOWAS am 10. August ihren Ton: Die Gemeinschaft werde «den Ausschuss der Armeechefs anweisen, die Bereitschaftstruppen der ECOWAS zu aktivieren und ihre Entsendung anzuordnen». Zwar fehlen der Öffentlichkeit noch Informationen zum genaueren Vorgehen, das wurde aber wohl bereits ausgearbeitet. Die Gemeinschaft appellierte an die AU, dem Vorhaben zuzustimmen, und bat um Unterstützung aller seiner Partner, inklusive der UNO. Der aktuelle Vorsitzende der ECOWAS, der im Frühjahr neu gewählte nigerianische Präsident Bola Tinubu, betonte, dass trotzdem alle Türen für eine friedliche Lösung offenblieben.
Franza Drechsel ist Referentin und Projektmanagerin für Westafrika.
Die Frage, wie eine wiedereingesetzte zivile Regierung gegen das Militär regieren sollte und wie stabil eine solche Regierung wäre, bleibt bislang unbeantwortet. Doch es war neben anderen Gründen Hilflosigkeit, weshalb die ECOWAS der Junta in Niger am 30. Juli androhte, zu allen Mitteln zu greifen, um die alte Regierung wieder ins Amt zu holen – und sei es durch eine militärische Intervention. Das ist ein Paradigmenwechsel gegenüber den jüngeren Coups in Mali (2020), Guinea (2021) und Burkina Faso (2022). Seitdem ist die Zusammenarbeit in der Region eingeschränkt, denn die drei Länder wurden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Bei den vergangenen Putschen fehlte der ECOWAS die Handhabe; sie musste sie trotz teilweise massiver Sanktionen de facto akzeptieren. Das starke Gebaren gegen den aktuellen Putsch ist damit auch als Sorge der verbleibenden Staats- und Regierungschefs der ECOWAS zu werten, dass auch sie durch einen Coup gestürzt werden könnten.
Nach der letzten Ankündigung scheint eine Militärinvasion von voraussichtlich nigerianischen, ivorischen, ghanaischen, beninischen und senegalesischen Soldaten im Namen der ECOWAS immer wahrscheinlicher. Diese würde einen regionalen Krieg zur Folge haben, denn die Militärregierungen in Burkina Faso und Mali hatten bereits nach dem ersten ECOWAS-Treffen der nigrischen Putschregierung ihre Unterstützung zugesichert: Ein Angriff auf den Niger verstünden sie als Kriegserklärung gegen ihren jeweils eigenen Staat: «[J]ede militärische Intervention gegen Niger würde […] die Einleitung von Selbstverteidigungsmaßnahmen zur Unterstützung der Streitkräfte und des Volkes von Niger nach sich ziehen.»
So nah befand sich Westafrika noch nie an einem Krieg zwischen Staaten. Allgemein gibt es auf dem afrikanischen Kontinent zwar viele innerstaatliche Konflikte, oft genug mit Einmischung von Nachbarstaaten. Aber die Anzahl an Kampfhandlungen zwischen Staaten ist äußerst gering. Umso stärker ist das Zeichen der ECOWAS zu werten. Dass die Lage ernst ist, zeigen auch mehrere offene Briefe und Appelle sowohl an die ECOWAS als auch an die Junta in Niger, doch bitte alle diplomatischen Wege auszuschöpfen. Die Folgen eines solchen Krieges in Westafrika wären katastrophal.
Ausgerechnet Westafrika
Wie bei allen afrikanischen Staaten wurden auch in Westafrika künstliche Grenzen gezogen, Gesellschaften damit auf unterschiedliche Kolonial- und später Nationalstaaten aufgeteilt. Doch in Westafrika gibt es stärker als in anderen Teilen des Kontinents ein regionales Gemeinschaftsgefühl. Viele Staaten gehören zur Region Sahel, die von Nomadentum geprägt ist, das nach wie vor keine staatlichen Grenzen kennt. Zudem gehört Migration besonders in Westafrika zum Alltag. Man verlässt sein Land, um andernorts Erfahrungen und Geld zu sammeln und kommt – saisonal oder nach einiger Zeit – wieder in sein Land zurück oder bleibt anderswo. So lebten beispielsweise 2014 mindestens 3,5 Millionen Burkinabè in der benachbarten Elfenbeinküste, wobei über 60 Prozent davon dort geboren waren. Auch wenn das nicht immer reibungslos verläuft, entstand dadurch auch eine Verbundenheit.
Es wundert insofern nicht, dass in Nigeria ein Großteil der Bevölkerung gegen einen militärischen Eingriff in Niger ist und Präsident Tinubu von dem Vorhaben abbringen will: Vor allem Nigerias Norden ist eng mit Niger verbunden, da sich beide Länder eine Grenze von 1.500 km teilen und enge soziale und wirtschaftliche Beziehungen bestehen. Die mittels Sanktionen vollzogene Grenzschließung vom 30. Juli hat entsprechend schon jetzt nicht nur gravierende Auswirkungen auf den Niger, sondern ebenso auf Nigeria. So moniert Dengiyefa Angalapu, Forscher am Zentrum für Demokratie und Entwicklung im nigerianischen Abuja: «Man analysiert das alles, als gäbe es nur eine Seite, als würde all das nur Niger betreffen. Man fragt sich nicht, welche Auswirkungen das auf Nigeria hat!» Ein zwischenstaatlicher Krieg hätte nicht zuletzt Konsequenzen für die rund 200.000 nigerianischen Geflüchteten in Niger, die im Norden Nigerias Sicherheit vor der islamistischen Gruppe Boko Haram suchen.
Krieg gegen die eigene Bevölkerung
Wenn die Staaten Westafrikas militärische Mittel gegeneinander richten, statt mit vereinten Kräften Lösungen für den islamistischen Terrorismus zu suchen, gewinnen vermutlich die islamistischen Gruppen. Das liegt weniger daran, dass militärische Mittel gegen den islamistischen Terrorismus eingeschränkt würden (denn egal ob mit der Unterstützung der Wagner-Söldner, UN-Truppen oder französischer Spezialkräfte – dem islamistischen Terrorismus ist mit Waffengewalt nicht beizukommen). Vielmehr wird es an Kapazitäten mangeln, um nicht-militärische Wege einzuschlagen.
Dazu kommt aber ein viel wichtigerer Punkt: Zu den Herausforderungen der Länder der Region zählen neben einem Mangel an Sicherheit bereits jetzt Armut, Unterernährung und zunehmende Naturkatastrophen angesichts fortschreitender Erderwärmung. Nicht nur die Gewalt selbst verschärft die Situation durch Zerstörung fruchtbaren Bodens und Vertreibung, sondern auch, dass finanzielle Mittel (ob eigene oder aus dem Ausland eingeworbene) für Waffen gebunden werden. Je mehr Geld in eine Militäroperation gesteckt wird, desto weniger bleibt, um die Wirtschaft aufzubauen, die Landwirtschaft zu stärken, Armut abzufedern und Maßnahmen zu ergreifen, die die Staaten gegen Unwetter, Dürre und Versalzung von Böden schützen.
Als Folge ist davon auszugehen, dass Spannungen innerhalb der Länder zunehmen. Die gibt es bereits zu Hauf; der islamistische Terrorismus ist nur ein Ausdruck davon. Er instrumentalisiert schon jetzt Konflikte zwischen viehzüchtenden Nomad*innen und sesshaften Bäuer*innen. Je mehr Vertreibung stattfindet, desto mehr Konflikte um Land und Wasser wird es in den Regionen geben, wo sich die Menschen ansiedeln. Vor Ähnlichem warnt auch Aly Tandian, Soziologe an der Universität Gaston Berger in Saint Louis, Senegal, in einem offenen Brief an die ECOWAS: «Im Fall einer militärischen Intervention in den Niger wird die Migration im Sahel zunehmen, die Landwirtschaft und Viehzucht werden endgültig aufgegeben, Unsicherheit und Unterernährung, die den Alltag der Bevölkerung bestimmen, werden weiter verstärkt.» Dadurch wiederum werden nicht zuletzt islamistische Kräfte erstarken, zum Beispiel indem sie Kämpfer gegen Geld rekrutieren.
Um es drastischer auszudrücken: Entschieden die Staats- und Regierungschefs der ECOWAS, militärisch in den Niger einzugreifen, würden sie vor allem einen Krieg gegen die Bevölkerung der involvierten Länder führen. Durch die ausgeprägte Migration hieße das auch, die eigene Bevölkerung in Niger anzugreifen.
Geopolitik in Westafrika
RLS-Partner Moussa Tchangari ordnet die westafrikanischen Coups der letzten Jahre geopolitisch ein: «[E]inige Machthaber in der Sahelzone, sowohl militärische als auch zivile, [scheinen] zu glauben, dass sie von den Spannungen und Rivalitäten zwischen dem Westen und den aufstrebenden Mächten (Russland, China) profitieren können. Die Tatsachen zeigen, dass sie selbst es sind, die versuchen, die gesamte Region in ein Feld der Konfrontation zwischen diesen rivalisierenden Mächten zu verwandeln.»
Zwar ist es zu begrüßen, dass westafrikanische Staaten sich angesichts der Weltlage besser aussuchen können, mit wem sie kooperieren, und so weniger auf kolonial gewachsene, ungleiche Beziehungen angewiesen sind. Leider beendet das aber nicht die ausbeuterischen Verhältnisse der Zusammenarbeit. Stattdessen befördert das Kräftemessen Russlands, Chinas, der USA und der EU aktuell eine Spaltung in der Region, wenn neue Elitefraktionen an die Macht kommen und sich statt einem westlichen nun einem «östlichen» Imperialismus unterordnen.
So kooperieren die Regierungen in Mali und Burkina Faso mit russischen Wagner-Söldnern im Kampf gegen islamistischen Terrorismus; Berichten zufolge gibt es bereits Gespräche zwischen der Junta in Niger und der Gruppe. Inwiefern der Westen die verbleibenden ECOWAS-Staaten in ihrem Angriff auf Niger zur Seite steht, um seinen «stabilen Partner» in Sachen Migrationsabwehr, Uranlieferungen (Frankreich) und Anti-Terror-Strategie wiederherzustellen, ist noch unklar. Sowohl Frankreich als auch die USA erklärten noch einmal, die ECOWAS zu unterstützen. Dass Frankreich seine Haltung auch militärisch demonstriert, ist möglich, aber eher unwahrscheinlich. Bereits 1.500 Soldat*innen sind vor Ort. Die USA halten sich dahingehend demonstrativ zurück, obwohl auch sie 1.100 Soldat*innen in Niger stationiert haben. Die Frage wird eher sein, wie viel finanzielle Unterstützung der Westen für die ECOWAS-Invasion aufbringt. Damit steht noch nicht fest, inwiefern ein solcher Krieg sich auf die gesamte geopolitische Weltlage (Stichwort Dritter Weltkrieg) auswirken würde. Dass hunderttausende Menschen aus Westafrika außerhalb der Region Zuflucht vor dem Krieg suchen werden, ist dagegen offensichtlich. Wer diese aufnimmt, bleibt wieder einmal offen.
Der Text kann nur die Entwicklungen bis zum 10.08.2023 berücksichtigen.