In der Bundesrepublik finden wie in vielen Staaten zahlreiche Protestaktionen gegen die israelischen Angriffe auf den Gaza-Streifen statt. Seit dem mörderischen Überfall der Hamas am 7. Oktober mit über 1200 toten Israelis hat ein Krieg begonnen, in dem bereits über 35.000 Menschen in Gaza gestorben sind, darunter über 14.000 Kinder. Die UNO spricht von dem für Häuser und Infrastruktur zerstörerischsten Krieg seit 1945 in einem kleinen Areal. Die Debatte um den Krieg ist entsprechend aufgeheizt, Antisemitismus und auch antipalästinensische Ressentiments sind auf dem Vormarsch.
In Deutschland werden viele Versammlungen verboten oder streng reglementiert, Konferenzen verhindert und Parolen verboten. Doch worum geht es in dieser Verbotspraxis? Wie neu und wie haltbar sind die dahinterstehenden Praxen des Staates und seiner Gesetze, Gerichte und Polizei? Darüber haben wir mit Peer Stolle gesprochen, Vorsitzender des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV). Das Gespräch führte Henning Obens, Bereichsleiter Politische Kommunikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Henning Obens: Direkt nach dem 7. Oktober kam es zu verstörenden Freudenkundgebungen und im Anschluss zu erheblichen Einschränkungen des Demonstrationsrechts. Danach folgte eine Vielzahl an Kontroversen um Grundrechte im Kontext des Krieges. Wie steht es um das Versammlungsrecht in Deutschland?
Peer Stolle: Versammlungsverbote sind grundsätzlich ein großes Problem. Die Versammlungsfreiheit ist ja vorwiegend ein Grundrecht von Minderheiten, um sich Gehör zu verschaffen; es ist das politische Grundrecht neben der Meinungsfreiheit, ein Mittel der Herrschaftskritik. Es gibt die Möglichkeit, sich kollektiv zu politischen Fragestellungen zu äußern, die eigene Meinung kund zu tun, auch kontrovers und provokativ. Deswegen ist es ein enormes Demokratieproblem, wenn dieses Grundrecht beschnitten wird oder vielleicht sogar ganz abgesprochen wird – vor allem wenn es von marginalisierten Gruppen ausgeübt wird.
Vollständige Verbote sind in der Regel unverhältnismäßig.
Vollständige Demonstrationsverbote hatten wir vor allem im letzten Jahr und unmittelbar nach dem 7. Oktober, als es in Berlin umfängliche Verbote von Versammlungen aus der propalästinensischen Szene gab. Das hat sich geändert. Die Versammlungsbehörde greift jetzt eher zu beschränkenden Auflagen für die Demonstrationen, als zu vollständigen Verboten. Vollständige Verbote sind in der Regel auch vollkommen unverhältnismäßig. In das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit kann nur eingegriffen werden, wenn es zu einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit kommen würde. Unter öffentlicher Sicherheit versteht man die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung und der subjektiven Rechtsgüter des Einzelnen, wie Leib, Leben und Freiheit. Nur wenn gerade so eine Gefahr droht, darf auch der Staat einschreiten. Dabei muss der Staat, um die «Gefahr» abzuwenden, zu dem mildesten Mittel greifen, das ihm zur Verfügung steht. Wenn dafür Auflagen ausreichen, oder die Gefahr nicht von der Versammlung im Ganzen ausgeht, sondern ein Vorgehen gegen einzelne Personen ausreicht, ist ein Verbot der Versammlng unverhältnismäßig. Ein Verbot einer ganzen Versammlung ist – wie es Jurist*innen sagen – die ultima ratio, also das letzte Mittel, wenn es ansonsten nicht möglich ist, beispielsweise durch Auflagen, durch polizeiliches Vorgehen, die prognostizierte Gefahr zu verhindern.
Bei Äußerungen auf Versammlungen, und darum geht es ja hier vorwiegend, ist der Maßstab das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit kann in diesem Zusammenhang nur eingeschränkt werden, wenn ansonsten strafbare Äußerungen, wie zum Beispiel Volksverhetzung, Billigung von Straftaten, Aufruf zu Straftaten, Beleidigungen et cetera zu befürchten sind. Solchen Gefahren kann grundsätzlich durch Auflagen entgegengetreten werden, etwa indem bestimmte Parolen, die als strafbar angesehen werden, untersagt werden. Vor diesem Hintergrund sind vollständige und umfassende Versammlungsverbote unverhältnismäßig.
Die Parole «From the River to the Sea – Palestine will be free» ist vom Innenministerium verboten worden. Wie wird das Verbot einer so vielseitig interpretierbaren Parole begründet?
Die Begründungen haben variiert. Diese Parole ist ja eine sehr alte Parole. Ich glaube, die gibt es seit 60 Jahren. Die wurde und wird von unterschiedlichen Organisationen und auch in unterschiedlichen Kontexten benutzt und kann daher mehrere Bedeutungen haben, etwa: «gleiche Rechte für alle in diesem geografischen Raum», die «Gründung eines Palästinenserstaates» oder eines «gemeinsamen Staates für Juden und Palästinenser». Sie wurde allerdings auch nach dem 7. Oktober in diesem Zusammenhang als Rechtfertigung des Massakers der Hamas verwendet und und damit als Billigung von Straftaten gewertet. Grundsätzlich ist es allerdings so, dass nach dem Bundesverfassungsgericht bei mehrdeutigen Meinungsäußerungen immer die Interpretation durch die Behörden zugrunde zu legen ist, die der Meinungsfreiheit am meisten Ausdruck und Gewicht verleiht. Deswegen: in Zweifelsfällen dürfte diese Parole zulässig sein.
Jetzt haben wir aber das besondere Problem, dass das Bundesinnenministerium diesen Slogan als Kennzeichen eines verbotenen Vereins, nämlich der Hamas, eingestuft hat. Erschwerend kommt hinzu, dass das Bundesinnenministerium (BMI) nicht die gesamte Parole als Kennzeichen der Hamas ansieht, sondern bereits den ersten Teil «from the river to the sea…». Damit können auch sämtliche Abwandlungen der Parole, wie zum Beispiel «…we demand equality» als Kennzeichen der Hamas gewertet werden und damit potentiell strafbar sein. Damit hat das BMI bewusst nicht nur eine Erweiterung des Strafbaren geschaffen, sondern zugleich auch eine Unbestimmtheit mitgeliefert. Die Staatsanwaltschaften und Gerichte werden somit nicht nur zu klären haben, ob die Einstufung als Kennzeichen der Hamas richtig ist, sondern auch, ob und wenn ja welche Varianten dieser Parole als Kennzeichen der Hamas anzusehen sind. Bis das höchstrichterlich geklärt ist – und das kann dauern, derzeit sind die Entscheidungen sehr uneinheitlich – besteht für die Polizei die Möglichkeit, gegen das Rufen der Parole vorzugehen. Im Zusammenhang mit Versammlungen kann das Anlass geben für ein Eingreifen der Polizei, das aus unserer Erfahrung oft zu noch mehr Verletzungen von Demonstrant*innen führt und weitere Verfahren, beispielsweise wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte, nach sich ziehen kann.
Das sieht schon sehr nach Doppelstandard aus, die Formulierung «zwischen der See und dem Jordan wird es nur israelische Souveränität geben» ist auch im Programm der Likud-Partei von 1977 zu finden. Wann ist dazu mit einem Urteil zu rechnen?
Das ist schwer zu prognostizieren, wann das höchstrichterlich geklärt ist. Bisher gibt es nur sogenannte Eil-Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zu dieser Frage, und die fallen bundesweit sehr unterschiedlich aus. Strafgerichtliche Entscheidungen sind bisher die Ausnahme.
Zu der Frage «Doppelstandard»: Sollte die Parole «From the river to the sea...» höchstrichterlich als strafbares Kennzeichen einer verbotenen Vereinigung eingestuft werden, müsste auch die Verwendung durch Likud-Anhänger*innen als Straftat gewertet werden, da es dann nicht mehr auf die Position der Benutzerin ankäme. Da aber ein Kennzeichen ein Alleinstellungsmerkmal eines Vereins sein muss, das diesen von anderen Vereinen unterscheiden lässt, diese Parole diese Voraussetzungen aber nicht erfüllt, düfte die Einordnung als Kennzeichen der Hamas eigentlich keinen Bestand haben.
Die Einschränkungen betreffen nicht nur Versammlungen unter offenem Himmel. In Berlin sollte der sogenannte «Palästina Kongress» stattfinden. Der Kongress wurde sehr kurzfristig von der Polizei abgebrochen, die Versammlung aufgelöst. Was war hier die Argumentation der Sicherheitsbehörden?
Also nach allem, was ich bisher von der Vorbereitung dieses Kongresses weiß, handelt es sich eindeutig um einen Fall von Versammlungs-Verhinderungsstrategie. Die Organisator*innen haben sich gegenüber den Behörden sehr kooperativ verhalten, früh den Kontakt auch mit der Polizei gesucht. Auch die Reden, die gehalten werden sollten, sind vorab zur Prüfung vorgelegt worden. Weder von den Organisator*innen, noch von den Behörden wurde berichtet, dass es Beanstandungen im Vorfeld gegeben hätte.
Erst als der Kongress beginnen sollte, hat die Polizei sämtliche Register gezogen. Von Ansprachen gegenüber dem Vermieter, über Brandschutzüberprüfungen bis hin zur Begrenzung der Teilnehmer*innenzahl wurde kurzfristig die Durchführung praktisch beschränkt. Während des ersten Redebeitrages wurde dieser zunächst unterbrochen und dann die Weiterführung des Kongresses, der auf drei Tage angesetzt war, untersagt. Der gesamte Einsatz war offensichtlich darauf angelegt, dass der Kongress nicht durchgeführt werden kann. Die Maßnahmen wurden aber erst so kurzfristig ergriffen, dass Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht nicht mehr eingeholt werden konnte.
Unabhängig davon, wie man zu den Inhalten und der Zielrichtung des Kongresses steht, ist dies ein sehr schwerwiegender Eingriff in die Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Aus rechtsstaatlicher Sicht hätten entweder – soweit die Gefahr von strafbaren Äußerungen begründet gewesen wäre – im Vorfeld bestimmte Teile des Kongresses beanstandet werden können. Oder solche Äußerungen werden unterbunden, während sie getätigt werden. Beides ist aber nicht passiert. Offensichtlich war die Entscheidung, den Kongress zu untersagen, eher eine politisch motivierte Entscheidung, denn eine rechtliche.
Das stellt eine besondere Form der Versammlungs-Verhinderungsstrategie dar.
Es gab es auch weitere Maßnahmen wie Betätigungsverbote oder Einreiseverbote, unter anderem gegenüber Yanis Varoufakis, dem ehemaligen Finanzminister von Griechenland. Wie bewerten Sie das aus juristischer Perspektive?
Hier ist auch beeindruckend, dass lange gar nicht klar war, was eigentlich passiert, also welche behördlichen Maßnahmen gegen welchen Redner ergriffen worden sind. Bekannt wurde später, dass es im Vorfeld eine Fahndungs-Ausschreibung von Herrn Varoufakis gab mit der Maßgabe, dass, sollte er einreisen wollen, ihm diese verwehrt und ein Betätigungsverbot erteilt wird. Dazu kam es nie, weil er gar nicht zu dem Zeitpunkt einreisen wollte. Es gibt aber keine rechtliche Möglichkeit, gegen eine*n EU-Bürger*in ein politisches Betätigungsverbot zu verhängen. Es gibt lediglich Einreiseverbote; diese sind nur zulässig bei einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Das wird zu Recht sehr eng auslegt. Innerhalb der EU herrscht das Recht auf Freizügigkeit; diese kann nur eingeschränkt werden, wenn schwerwiegende Straftaten drohen oder in der Vergangenheit begangen worden sind. Im Fall von Varoufakis ist vollkommen unklar, welche Strafaten von ihm erwartet worden sind, womit seitens der deutschen Behörden gerechnet wurde. Die Tatsache, dass es sich bei ihm auch um einen Spitzenkandidaten für die anstehende EU-Wahl handelt, macht diese Maßnahmen besonders problematisch. Varoufakis geht gerichtlich dagegen vor. Das Einreiseverbot für einen weiteren Redner, Ghassan Abu Sittah wurde vom Verwaltungsgericht Potsdam bereits gekippt.
Es gibt auch eine Vielzahl von administrativen Maßnahmen, mit denen der Druck auf sogenannte «propalästinensische Stimmen» erhöht wird. Hier in Berlin wurde einem Träger der sozialen Arbeit gekündigt wegen Äußerungen der Geschäftsführerin auf Instagram.
Also das, was im Zusammenhang mit den beiden Jugendfreizeittreffs des Frieda Frauen*zentrums passiert ist, auf die Sie anspielen, finde ich sehr gefährlich und vollkommen unverhältnismäßig. Das sind Arten von Maßnahmen, mit denen wir rechnen müssen, wenn der Rechtsruck zunimmt und mehr AfD-Leute politische Macht erlangen: dass unter fadenscheinigen Vorwänden bestimmte Einrichtungen geschlossen werden, und zwar sofort, ohne Übergangsfrist. Diese Einrichtungen sind dann erstmal dicht. Zwar können die Betreiber*innen dagegen klagen. Aber ob dann nach einer positiven Gerichtsentscheidung wieder die gleiche Arbeit stattfinden werden kann, ist unklar. Die Wahrscheinlichkeit, dass bereits die Grundlage der geschaffenen Arbeit zerstört ist, ist hoch. Gerade bei Sozialarbeit und Jugendarbeit wissen wir, wie wichtig es ist, Vertrauen aufzubauen, Kontinuität zu gewährleisten. Wenn dann eine Einrichtung einfach so geschlossen wird – in diesem Fall eine wichtige Einrichtung, die im Bereich queerfeministischer Arbeit für migrantisierte Mädchen und jugendliche Frauen Angebote macht: Der angerichtete Schaden kann kaum wieder behoben werden. Und hier ging es lediglich um eine Äußerung, die eine Geschäftsführerin außerhalb ihrer Vereinsarbeit gepostet hat. Man kann das kritisieren und auch diese Äußerung falsch finden. Aber darum geht es nicht. Es gibt keine Hinweise darauf, wie sich das auf ihre Arbeit ausgewirkt hat. Eine anderes Sache wäre es, wenn es tatsächlich an der fachlichen Arbeit mit den Kindern Kritik gegeben hätte. Das hat nicht stattgefunden. Zumindest hätte man der Vereinsführung eine Frist gewähren müssen, etwa bis Ende des Jahres, um etwaige Änderungen in der Arbeit vorzunehmen. Aber einfach von heute auf morgen eine soziale Einrichtung zu schließen und diese Arbeit zu zerstören, ist vollkommen unverhältnismäßig. Ich habe nicht den Eindruck, dass es hier darum geht, Antisemitismus in der Jugendarbeit zu bekämpfen, sondern dass es nur ein vorgeschobener Grund war, um ganz andere Ziele zu erreichen.
Antisemitismus wird zum Problem der Anderen.
Realität ist auch, dass viele jüdische und auch israelische Menschen hier in Berlin leben, die Angst haben vor der Zunahme von Antisemitismus in verschiedenen Ausprägungen. Es gab antisemitische Graffitis, körperliche Angriffe, Brandanschläge auf Synagogen und Steinwürfe auf ein jüdisches Krankenhaus. Wie ist dem beizukommen?
Seit dem 7. Oktober haben wir eine starke Zunahme von Antisemitismus in seinen vielen verschiedenen Facetten. Ich denke, dass es wichtig ist, eine viel stärkere Auseinandersetzung innerhalb der Gesellschaft und auch innerhalb der Behörden zu führen. Was ist Antisemitismus? Wo fängt er an? Welche Erscheinungsformen hat er? Wie kann man darauf reagieren und wie kann die Präventionsarbeit aussehen? In Deutschland benötigen jüdische Einrichtungen – seien es Synagogen, Gemeindeorte, Restaurants, Schulen oder Kitas – polizeilichen Schutz. Das ist leider notwendig.
Die derzeitigen Diskussionen in der Öffentlichkeit sind meines Erachtens aber eher kontraproduktiv. Was wir gerade erleben, mutet oft an wie eine Externalisierung des weiterhin sehr bedrohlichen und virulenten Antisemitismus von Rechts und aus der bürgerlichen Mitte. Antisemitismus wird zum Problem der anderen, der Migrant*innen, es wird als importiertes Problem beschrieben. Es gibt natürlich antisemitische Vorfälle, Angriffe und Äußerungen in der palästinensischen Solidaritätsbewegung, die auch benannt und kritisiert werden müssen, keine Frage. So wie die Diskussion aber geführt wird, lenkt sie ab von dem veritablen und immer noch sehr lebendigen Antisemitismus in der bürgerlichen Mitte, der damit vollkommen aus dem Fokus gerät. Das ist gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte nicht nur absurd, sondern auch gefährlich.
Die Staatsräson kann keine Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe geben.
Die Regierung macht deutlich, dass die Verteidigung Israels der Staatsräson unterliegt. Inwieweit konfligiert das mit den verfassungsmäßig verbrieften Rechten der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit?
In Grundrechte kann man nur eingreifen aufgrund von Gesetzen und nicht aufgrund von Selbstverpflichtungen. Die Staatsräson kann keine Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe geben. Es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Staatsräson benutzt wird, um sich von rechtlichen Bindungen zu lösen, wie beispielsweise bei dem Verbot des «Palästina-Kongresses»; also um Maßnahmen durchzusetzen, die eigentlich rechtlich nicht haltbar sind. Mit einem rechtsstaatlichen Vorgehen oder mit der verfassungsrechtlichen Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hat das wenig zu tun.
Ein anderes Beispiel lieferte die Bundesbildungsministerin Frau Stark-Watzinger, die sich «bestürzt» über einen Offenen Brief von Hochschullehrer*innen gezeigt hatte. Die Lehrenden haben sich kritisch zur Räumung des von Student*innen am 7. Mai 2024 besetzen Campus der Freien Universität Berlin geäußert. Die Unterzeichnenden stünden gar nicht auf dem Boden des Grundgesetzes, so die Bildungministerin. Das ist brandgefährlich. Natürlich können die Unterzeichnenden Artikel 5, die Meinungsfreiheit, und die Wissenschaftsfreiheit als Grundrechte für sich in Anspruch nehmen. So einen Offenen Brief zu schreiben, ist natürlich durch die Meinungsfreiheit gedeckt und dadurch, dass es im Uni-Kontext stattfindet, auch von der Wissenschaftsfreiheit. Das ist ein ganz zentraler Teil des Grundgesetzes. Frau Stark-Watzinger schließt mit einer solchen Äußerung Menschen mit abweichender Meinung aus einem demokratischen Diskurs aus, sie markiert sie als Verfassungsfeinde und liefert sie der Hetze des Boulevards aus. Das ist vollkommen inakzeptabel für eine Regierungsvertreterin.
Haben wir es mit einer neuen Qualität an Repression zu tun oder ist das eine Praxis, die in Deutschland schon häufiger stattfand?
Versammlungs-Verhinderungsstrategien sind tatsächlich nichts Neues. Maßnahmen, die wir jetzt erleben, kennen wir auch aus der Vergangenheit im Zusammenhang mit Gipfelprotesten, von den Blockupy-Protesten oder auch im Zusammenhang mit Demonstrationen von Kurd*innen. Dass die Polizei Versammlungen verhindert, dass Fakten geschaffen werden und Rechtschutz verunmöglicht wird, kennen wir beispielsweise von den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg. Auch exzessive Polizeigewalt ist nichts Neues.
Wie kommt man dazu, das Leid der jeweils anderen auch anzuerkennen und als Grundlage einer gemeinsamen politischen Praxis zu machen?
Das Besondere hier ist der zugespitzte öffentliche Diskurs, der wenig Zwischentöne zulässt. Wir haben nicht nur in den Reaktionen auf das geräumte Protestcamp und den Offenen Brief der Hochschullehrenden gesehen, wohin dieser polarisierende Diskurs führt. Insbesondere wenn von staatlichen Behörden und Regierungsvertreter*innen keine Differenzierung mehr erfolgt, hat dies weitreichende Folgen. Diese diskursive Repression beispielsweise der BILD-Zeitung, aber auch vieler anderer Medien, trifft Menschen ohne deutschen Pass noch in einem viel stärkeren Maße. Wenn alle, die auf Demonstrationen gehen, die die Situation in Gaza thematisieren, undifferenziert als «Antisemiten» und «Israelhasser» stigmatisiert werden, kann das von den Auswirkungen her weit über rein polizeiliche Beschränkungen bei Versammlungen hinausgehen. Gerade für die postmigrantische Gesellschaft führt dies zu einer starken Einschüchterung und Verunsicherung. Unterhält man sich mit Leuten aus dem Wissenschaftsbereich oder dem Kulturbereich, merkt man deutlich die bestehende Unsicherheit. Was darf man eigentlich noch sagen, wie darf man sich äußern? Was bedeutet das eigentlich für meinen Aufenthalt, was bedeutet das für meinen Job, für meine Anstellung, wenn ich in diesem Kontext gesehen werde, mich in diesem Kontext äußere? Gerade in Berlin mit einer sehr großen palästinenischen Community, aber auch einer sehr diversen internationalen Szene sind Räume des Austausches und des Diskurses sehr wichtig. Dem Oyoun, das ein solcher postmigrantischer kultureller Ort in Berlin ist und das sich sehr klar nach dem 7. Oktober 2023 zu dem Massaker der Hamas verhalten hat, wurden die Zuwendungen gestrichen, weil sie Veranstaltungen mit der «Jüdischen Stimme für gerechten Frieden im Nahen Osten» durchgeführt haben. Man kann diese Veranstaltung kritisieren, man kann deren Positionen auch falsch finden. Wenn diese Orte aber geschlossen werden, ist eine Verständigung, ein Austausch, auch auf einer kritischem Ebene nicht mehr möglich.
Und das wirkt natürlich auch auf ähnliche Projekte und Kulturbetriebe. Darin sehe ich das Hauptproblem in der derzeitigen Situation. In Deutschland und vor allem in Berlin ist ein großer Teil der Gesellschaft migrantisiert und international; mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen und Hintergründen. Die können nicht einfach mit einem Verweis auf eine angebliche deutsche Staatsräson abgetan werden. Die Verengung oder Schließung von Räumen des Austausches und der Verständigung ist eine große Gefahr für die postmigrantische Gesellschaft. Das bedeutet nicht, Rassismus oder Antisemitismus zu akzeptieren oder dafür Verständnis aufzubringen. Es bedeutet aber, Leid und Erfahrungen von Menschen anzuerkennen auf der Grundlage eines universalistischen Humanismus. Wie kommt man dazu, auch das Leid der jeweils anderen auch anzuerkennen und zur Grundlage einer gemeinsamen politischen Praxis zu machen? Ich habe das Gefühl, diese Räume werden gerade massiv zugemacht.
Ich habe den Eindruck, in Berlin mit einer großen palästinensischen Gemeinde und großen internationalen Communities ist die Debatte zugespitzt. Hier prallt Staatsräson auf postmigrantische Realität. Es scheint mir, die Reihen werden eher geschlossen, statt Debatten und Kontroversen miteinander zu führen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, und ich glaube, wir brauchen gerade in diesem Konflikt eine gemeinsame Verständigung in der Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir uns auf einen universalistischen Humanismus besinnen, der Menschenrechte für Alle respektiert, nicht nur für eine bestimmte Gruppe. Und der das Leid, die Verfolgung und die Verletzungen, die bestimmten Gruppen zugeführt werden, auch ernst nimmt und in die Debatten mit einbezieht.
Das schließt mit ein, dass wir sehen, was der 7. Oktober für Israelis und für Jüd*innen weltweit bedeutet, wie sich dieser Angriff auf die Selbstvergewisserung, das Sicherheitsgefühl und die persönliche Zukunft auswirkt. Wir müssen die zunehmenden antisemitischen Angriffe benennen und uns ihnen entschieden entgegenstellen.
Ein universalistischer Humanismus bezieht auch die Situation in Gaza ein. Diese unvorstellbare Situation, denen die dortigen Bewohner*innen ausgeliefert sind, die massiven Zerstörungen seitens der israelischen Armee, die Hungersnot, die eklatant hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung: All das hat Auswirkungen auf die Menschen hier, die ihr Leid und ihre Trauer und auch ihre Wut zum Ausdruck bringen wollen. Wir sehen auch eine Zunahme des Rassismus gegenüber migrantisierten Personen hier in Deutschland und eine Zunahme staatlicher Repression. Das passiert gerade alles gleichzeitig.
Wir können nicht sagen, wir nehmen das eine oder nur das andere wahr. Wir müssen alle Facetten und Ungerechtigkeiten sehen und benennen. Möglichkeiten zu haben, sich in unserer Gesellschaft auszutauschen, finde ich gerade extrem wichtig. Dafür müssen wir Räume schaffen und erhalten. Ich glaube, hier haben wir noch einen langen Weg vor uns.