Der Radikalenbeschluss wird 50

Eines der Tabuthemen der alten Bundesrepublik ist bis heute nur unzureichend aufgearbeitet. Noch immer warten die Betroffenen auf Rehabilitierung oder die Bitte um Entschuldigung. Für dieses Themen-Special beleuchten sieben Zeithistoriker*innen den historischen Kontext, Hintergründe und Bewältigungsstrategien im Umgang mit dem Radikalenbeschluss.

Betroffene des Radikalenerlasses, französische Résistance und deutsche Naziopfer demonstrierten gemeinsam gegen die Folgen des Radikalenbeschlusses – den Berufsverboten – am 13.3.1976 in Straßburg, dem Sitz des Europaparlamentes.  IMAGO / Klaus Rose

Von Dominik Rigoll

Was oft als Radikalenerlass bezeichnet wird, war nicht wirklich ein Erlass, sondern ein Beschluss, den Bundeskanzler Willy Brandt und die Regierungschefs der Länder am 28. Januar 1972 in Bonn fassten. Am Vortag hatten die Innenminister getagt und vorgeschlagen, dass die Öffentlichkeit an den Inhalt der Beamtengesetze des Bundes und der Länder erinnert werden sollte, denen zufolge «in das Beamtenverhältnis nur berufen werden» dürfe, «wer die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt.» Ebendies taten Brandt und die anderen Regierungschefs dann auch. Außerdem proklamierten sie, dass ein «Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt», nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt werde und dass die Mitgliedschaft in einer Organisation, «die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt», im Regelfall ebenfalls zur Ablehnung führe. Offen blieb dabei, welche Aktivitäten und Organisationen als «verfassungsfeindlich» anzusehen waren und wie man die «rechts- und linksradikalen Personen» identifizieren sollte, gegen deren Beschäftigung sich der Beschluss wandte. Allerdings wurde schnell klar, dass der Verfassungsschutz das entscheidende Wort mitzureden hatte.

Dominik Rigoll ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) und Mitglied des Gesprächskreis Geschichte der RLS.

Einschüchterung ist gewollt

Eine der wichtigsten Folgen des Beschlusses war die Einführung der Regelanfrage bei den Ämtern für Verfassungsschutz – also die Überprüfung aller Bewerberinnen und Bewerber für den Staatsdienst mithilfe der Datenbanken des Inlandsgeheimdienstes. Eine solche hatte es bislang nur für sicherheitsrelevante Bereiche gegeben, etwa für Personen, die mit Geheimakten zu tun hatten. Nun legte die Innenministerkonferenz ohne öffentliche Debatte fest, dass bei allen Bewerbungen zu prüfen sei, ob «verwertbare Erkenntnisse» über eine sich bewerbende Person vorlagen. Durch die Regelanfrage wurde der gesamte öffentliche Dienst zum sicherheitsrelevanten Bereich erklärt.

Dies war im internationalen Vergleich einmalig und auch in der Geschichte der Bundesrepublik war es etwas Neues. Zwar hatte es 1950 den Adenauererlass gegeben, der vor allem Mitgliedern der KPD und ihrer Vorfeldorganisationen den Zugang zum Staatsdienst versperren sollte. Aber eine Regelanfrage führte bislang nur Hamburg durch. Nicht zufällig zählte die SPD-regierte Hansestadt zu den treibenden Kräften hinter dem Radikalenbeschluss, wie Alexandra Jaeger zeigt.

Insgesamt wurden 3,5 Millionen Regelanfragen an die Ämter für Verfassungsschutz gestellt; rund 35.000-mal leitete der Geheimdienst «Erkenntnisse» an die einstellenden Behörden weiter. Betroffen waren zunächst vor allem Mitglieder der DKP und ihrer Vorfeldorganisationen, die politisch und finanziell von der SED abhingen. Mit der Zeit gerieten aber auch immer mehr Personen aus dem Umfeld neulinker Parteien und Organisationen ins Visier der Verfassungsschützer. Insgesamt wurden zwischen 1.000 und 2.000 Personen rechtskräftig am Zugang zum Staatsdienst gehindert oder – was in den 1980ern öfters vorkam – aus dem öffentlichen Dienstverhältnis entlassen.

Wenn bisweilen von 10.000 oder 11.000 Berufsverbotsfällen die Rede ist, ist das einerseits übertrieben, denn nicht wenige derjenigen, die zunächst einen Ablehnungsbescheid bekamen, schafften es mit der Zeit durch viel Beharrlichkeit und Protest doch noch in den öffentlichen Dienst. Vom Radikalenbeschluss konnten Presonen ganz verschieden betroffen sein – wie bei Jan-Henrik Friedrichs nachzulesen ist – und so ist es andererseits nachvollziehbar auch solche zu den Betroffenen zu zählen, die «nur» einige Monate oder Jahre als «Verfassungsfeinde» galten und dann schließlich doch in den Staatsdienst kamen; oder die «nur» eine oder mehrere jener politischen «Anhörungen» über sich ergehen lassen mussten, über die sogar der bekannte «Extremismus»-Forscher Eckhard Jesse schreibt, dass sie «in gewisser Weise inquisitorischer Natur» waren.

Noch größer wird die Zahl der materiell und auch emotional Betroffenen, wenn man die vielen politischen «Kollateralschäden» in den Blick nimmt, die der Radikalenbeschluss verursachte: Die gewerkschaftlichen Unvereinbarkeitsbeschlüsse zum Beispiel, die mehrfachen Suspendierungen von Peter Brückner oder auch das Einreiseverbot gegen den trotzkistischen Ökonomen Ernest Mandel. Es spricht sogar einiges dafür, dass der Beschluss einer der Gründe dafür ist, mit denen auch in der DDR Repression gegen Dissidenten verschärft werden konnte. Die Frage, wie Berufsverbote in Ost und West zusammenhingen, stellt sich Thomas Klein.

Jedenfalls muss man sich vergegenwärtigen, dass der Effekt der Einschüchterung gewollt war. Der Leiter des Hamburger Verfassungsschutzes, Hans Josef Horchem (SPD), schrieb 1971 in einem internen Bericht zur Vorbereitung des Radikalenbeschlusses: Die «politische Wirksamkeit von Abwehrmaßnahmen» sei nicht «an der perfektionistischen Erfassung sämtlicher Anhänger radikaler Organisationen» zu messen, «sondern an der Signalwirkung, die ein entschlossener Kurs der politischen Führungsinstanzen auf alle diejenigen hat, die schon mit der Mentalreservation umgehen, nach ihrer Einstellung in den öffentlichen Dienst dem kommunistischen Weg zu folgen.»

Zum Vergleich: Als 1967 rund 1.200 NPD-Mitglieder im Staatsapparat gezählt wurden – etwa gleich viele, wie es dort fünf Jahre später DKP-Mitglieder gegeben haben soll –, blieben die Innenminister und Regierungschefs untätig. Auch für extreme Parteien gelte das so genannte Parteienprivileg, d.h. die Parteien und ihre Mitglieder seien vor politischer Diskriminierung geschützt, solange die Partei nicht verboten wurde.  

Eine wie auch immer geartete Bedrohung von rechts spielte bei den internen Planungen auf der Ebene der Innenressorts zu keinem Zeitpunkt eine Rolle, obwohl sich der Radikalenbeschluss ja angeblich zuerst gegen «rechtsradikale Personen» richtete, von denen es laut Verfassungsschutzbericht noch 1971 mehr im öffentlichen Dienst gab als radikale Linke (über Deutungen und Hintergründe des Radikalenbeschlusses). Die Folge war, dass es in den 1970er und 1980er Jahren immer wieder Berichte über Nationalist:innen gab, die nicht nur im Staatsdienst waren, sondern auch verantwortungsvolle Positionen innehatten – etwa in Justiz- und Schulbehörden, bei Polizei und Bundeswehr. Es gab zwar Versuche, organisierte Rechte wegen mangelnder Verfassungstreue abzulehnen, aber diese Versuche scheiterten in aller Regel vor Gericht.

Protest gegen «Berufsverbote»

Die anhaltende Ungleichbehandlung von Linken und Rechten im öffentlichen Dienst ist einer der Gründe dafür, warum der Radikalenbeschluss mit der Zeit immer mehr auch jenseits der Betroffenen und der linken Flügel der sozialliberalen Koalition in die Kritik geriet. Willy Brandt gab 1976 sogar zu, dass es sich um einen «Fehler» gehandelt habe und zählte zu jenen Sozialdemokraten, die auf eine «Liberalisierung» der Radikalenpolitik eintraten. Tatsächlich stellten die Regierungen mit SPD-Beteiligung die obligatorische Regelanfrage beim Verfassungsschutz 1979 ein.

Eine weitere Erklärung lautet, dass 1978/79 erstmals Umfragen gemacht wurden, die zeigten, dass die SPD bei einer Beibehaltung der Praxis bei Wahlen mehr Stimmen verlieren als erhalten würde. Und dass nicht nur Willy Brandt, sondern auch andere wichtige SPD-Politiker wie Hans Koschnick und Hans Ulrich Klose inzwischen der Ansicht waren, dass ihre Radikalenpolitik die Demokratie eher beschädigte als beschützte. Durch die teilweise Einstellung der Regelanfrage kam es nur noch dann zu einem Ablehnungsverfahren, wenn die Behörden auf anderem Wege – während der Vorbereitungszeit etwa – von «verfassungsfeindlichen Aktivitäten» der Bewerber:innen erfuhren. Die Regierung Kohl und unionsregierte Länder übernahmen diese «stille Lösung» de facto, ohne jemals offiziell vom Radikalenbeschluss abzurücken. Als letztes Bundesland schaffte zum 31. Dezember 1991 Bayern die Regelanfrage ab.

Wie der Gesinnungswandel der SPD und das halbherzige Festhalten der Union an der Regelanfrage zu erklären? Vieles spricht dafür, dass der kommunistisch dominierte Protest einen wichtigen Impuls für beides gab. So bezog sich Brandt bei seinem «Fehler»-Eingeständnis explizit auf die Kritik Alfred Grossers, der seine Informationen über die inquisitorische Praxis der westdeutschen Behörden wiederum aus den Broschüren der vielen Protestkomitees bezog, die ab 1972 wie Pilze aus dem Boden schossen. Auch François Mitterrand war auf einem Parteitag von einem westdeutschen Kommunisten, Peter Gingold, direkt mit den Folgen des Radikalenbeschlusses konfrontiert worden, so dass er sich gezwungen sah, öffentlich gegen die Politik der SPD Stellung zu beziehen. Äußerst plausibel ist auch, dass die Proteste – an denen sowohl auf Bundesebene als auch in den Ländern und Kommunen durchaus Persönlichkeiten vom linken Flügel der SPD/FDP wie Wolfgang Roth und Helga Schuchardt teilnahmen – dazu beitrugen, dass sich die Umfragen zum Thema hin zu einer liberaleren Haltung gegenüber der Linken entwickelten. Auch dürften Proteste eine Ursache dafür sein, dass nicht mehr als 2.000 Ablehnungen und Entlassungen rechtskräftig wurden. Es ist kaum vorstellbar, dass die Zahlen ohne die Arbeit vieler lokaler Protestgruppen so niedrig ausgefallen wären.

Offiziell für ungültig erklärt wurde der Beschluss vom 28. Januar 1972 nie. Aber nach der Vereinigung beider deutscher Staaten wurden Menschen nur noch vereinzelt mit Verweis auf die «Treuepflicht» nicht zum Staatsdienst zugelassen. Eine Regelanfrage findet nur noch in sicherheitsrelevanten Bereichen statt – wie in anderen Demokratien. In bestimmten Positionen wird darüber hinaus auf Stasi-Tätigkeit überprüft.

Unter dem Eindruck rechter Gewalt in Ost und West zog man in den neunziger Jahren eine Wiederbelebung der Beschlüsse von 1950 und 1972 in Erwägung. Seitdem werden hin und wieder politische Maßnahmen gegen Rechte vermeldet, die allerdings nicht selten von den Gerichten kassiert wurden. Selbst die beiden baden-württembergischen Polizeibeamten, von denen die Öffentlichkeit erst im Zuge der NSU-Ermittlungen erfuhr, dass sie zwei Jahre lang dem deutschen Ku-Klux-Klan angehört hatten, wurden von ihren Vorgesetzten nicht entlassen, als diese Mitgliedschaft 2004 intern aufflog.

Ganz anders erging es dem Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkóczy, der im selben Jahr von der damaligen baden-württembergischen Kultusministerin Annette Schavan (CDU) nicht zum Schuldienst zugelassen wurde: Csaszkóczys Mitgliedschaft in der vom Landesamt für Verfassungsschutz als «verfassungsfeindlich» eingestuften Antifaschistischen Initiative Heidelberg begründe «Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird». Diese Zweifel reichten für eine Ablehnung aus. Dass Csaszkóczy in seiner Vorbereitungszeit gute Leistungen erbracht hatte, sei für die Entscheidungsfindung ebenso unerheblich wie der Umstand, dass die dem Verfassungsschutz vorliegenden Erkenntnisse nichts Strafbares enthielten, sondern lediglich Hinweise auf die Organisation von Anti-NPD- und Pro-Asyl- Demonstrationen sowie Stadtführungen über Heidelberg im Dritten Reich. Nachdem die erste Instanz der Argumentation des Kultusministeriums gefolgt war, bekam der Realschullehrer in der zweiten Instanz Recht: Die einstellende Behörde habe es versäumt, die Verfassungsfeindlichkeit der Initiative mit Csaszkóczys sonstigem Verhalten als Bürger und Lehrer abzuwägen – eine Argumentation, die in den 1970er Jahren von den Anwälten der Betroffenen meist umsonst eingefordert worden war. Dass das Stuttgarter Kultusministerium daraufhin, anders als in den siebziger Jahren üblich, auf eine Ausschöpfung des Instanzenweges verzichtete und Csaszkóczy einstellte, veranschaulicht den Umdenkprozess, den Behörden und Gerichte seit 1972 durchlaufen hatten. Auf der anderen Seite zeigen die Ablehnung, die erstinstanzliche Entscheidung und das drei Jahre währende Verfahren gegen den auf Arbeitslosenhilfe angewiesenen Junglehrer, wie wirkmächtig die in der «alten» BRD etablierten Ordnungspraktiken auch im neuen Jahrtausend sind. Dazu zählt dann auch die gegenwärtig nachlassende Tolerierung rechter Netzwerke in den Behörden der inneren und äußeren Sicherheit.

Getroffen ist die Demokratie

Gezielt wurde mit dem Radikalenbeschluss auf Kommunist:innen – getroffen wurde vor allem die Demokratie. Angefangen bei dem Geburtsfehler, dass die Republik hier den ganzen Staatsdienst gleichsam zum Sicherheitsbereich erklärte, anstatt – wie andere westliche Länder nach 1968 – auf die Möglichkeiten des Disziplinarrechts zu vertrauen.

Zweitens wurde zwar stets behauptet, der Beschluss richte sich auch gegen die organisierte Rechte; faktisch fehlte für ein glaubwürdiges Vorgehen gegen rechts jedoch der politische Wille und das Problembewusstsein aufseiten der Behörden.

Hinzu kam drittens, dass ausgerechnet die jungen Linken, die in den Staatsdienst wollten, eine im Vergleich zu anderen sehr gute Vorstellung davon hatten, wie reibungslos die personelle Restauration ehemaliger NS-Funktionseliten nach 1949 verlaufen war – gerade in den Institutionen der inneren und äußeren Sicherheit. Wie viele Studien der letzten Jahre zeigen, haben diese institutionell integrierten Rechten die Bonner Demokratie auf vielfache Weise nationalistischer, rassistischer, antisemitischer und negationistischer gemacht, ohne dass ein Beschluss dagegen gefasst worden wäre – im Gegenteil: Dieser «kurze Marsch durch die Institutionen» (Jean Améry) der Nazibeamten wurde durch die Beamtengesetzte, auf die sich der Radikalenbeschluss bezog, befördert in der Hoffnung, so die Loyalität der früheren Nazis zu gewinnen.

Die jungen Linken dagegen, die in den 1970er und 1980er Jahren abgelehnt oder entlassen wurden, zählten viertens – auch dies wird in der historischen Rückschau immer deutlicher – in der Regel zu jenen Westdeutschen, die die Demokratisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik wenn nicht vorangetrieben, so zumindest nicht behindert haben. Denn im politischen Alltag arbeiteten diese Menschen nicht etwa an der Errichtung einer kommunistischen Diktatur, sondern an der Sozialisierung der Schlüsselindustrien, Demokratisierung der Hochschulen, Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, Verbilligung des öffentlichen Nahverkehrs oder ähnlichem. Dies erklärt auch, warum die übergroße Mehrheit der vom Radikalenbeschluss betroffenen Linken nach einer gewissen Zeit doch in den öffentlichen Dienst gelangten – und warum diejenigen, denen dies nicht gelang, heute oft verbittert über das Unrecht sind, das ihnen angetan wurde. Wieder andere wurden durch die Radikalenpolitik vollkommen von der liberalen Demokratie entfremdet, mitunter radikalisiert.

Damit war diese Radikalenpolitik fünftens Wasser auf die Mühlen militanter Gruppen wie der RAF, die sich gegen die «linken Schleimscheißer» gegründet hatte, die als «Erzieher und Lehrer» in den Institutionen angekommen waren, aber auch der SED, die ebenfalls auf «Treuepflichten» pochte. Sechstens machte der Beschluss eine nach dem Mauerbau begonnene Liberalisierung des Politischen teilweise rückgängig und verhinderte so, dass die Bonner Demokratie kommunistische Parteien ebenso als legitime Akteure anerkannte, wie das andere Demokratien in Westeuropa taten: Sicherheitsüberprüfungen und Disziplinarverfahren gegen Linke gab es auch dort – verhaltensunabhängige Ausschlüsse nicht. Während der Kommunist Eric Hobsbawm seit 1971 an den Universtäten von London und Stanford seine Standardwerke zum Nationalismus und Imperialismus verfassen konnte, wurden westdeutsche KP-Mitglieder daran gehindert, in Grundschulen zu unterrichten. Ernest Mandel – wie Hobsbawm ein Überlebender der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden – wurde 1972 ein Ruf an die FU Berlin verwehrt, wo er in den 1960ern Jahren noch gelehrt hatte.

Der Radikalenbeschluss steht also nicht nur für individuell erlittenes Unrecht und für eine eklatante Fehleinschätzung der politischen Lage durch die Innenbehörden, sondern er markiert auch das Stocken eines politischen Liberalisierungsprozesses, wie er in anderen «westlichen» Demokratien nach 1968 tendenziell weitergehen konnte. Es war eine Maßnahme, die die liberale Demokratie schützen sollte, sie aber beschädigte, indem sie die einen einschüchterte und die anderen radikalisierte. Eine Gesellschaft, die diesen Fehler nicht wie Willy Brandt einsieht, läuft Gefahr, dass sie ihn wiederholt.


Wenn nicht anders angegeben, basiert dieser Text auf Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013; ders., Liberalisierung und Illiberalisierung. Innere Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 2017, S. 41-64; ders.: Liberalisierung und Illiberalisierung. Innere Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 2017, S. 41–64; ders.: «Was täten Sie, wenn quer durch Paris eine Mauer wäre?» Der Radikalenbeschluss von 1972 und der Streit um die westdeutschen Berufsverbote. Deutsch-deutsch-französische Verflechtungen, in: Heiner Timmermann (Hg.), Historische Erinnerung im Wandel. Neuere Forschungen zur deutschen Zeitgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der DDR-Forschung, Berlin 2007, S. 603–623; ders., Erlass zur Beschäftigung von Radikalen im öffentlichen Dienst, 28. Januar 1972, in: 100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, Bayerische Staatsbibliothek, München 2012; Alexandra Jaeger, Auf der Suche nach «Verfassungsfeinden». Der Radikalenbeschluss in Hamburg 1971-1987, Göttingen 2019.