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Mehr zur «Gesellschaft der Vielen»

«Esso-Häuser erhalten». Performance und Aktion des Megafonchors, 13.05.2013 Hamburg St. Pauli
«Esso-Häuser erhalten». Performance und Aktion des Megafonchors, 13.05.2013 Hamburg St. Pauli, CC BY-NC 2.0, Foto: Rasande Tyskar, via Flickr

Migrierende und Geflüchtete sind keine gesellschaftlichen Ausnahmeerscheinungen. Vielmehr prägen Migration und Einwanderung seit jeher Gesellschaften auf der ganzen Welt, auch in Europa und Deutschland. Migration verändert das Kulturelle, Soziale, Politische und Ökonomische und fordert jede Vorstellung einer homogenen Gesellschaft heraus. Diese transformativen Prozesse sind für kritische und fortschrittliche Strömungen stets sinnstiftend, weil sie Gesellschaften im demokratischen Sinne pluralisieren.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung bekennt sich zum (Menschen-)Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit, zu einer Gesellschaft der Vielen und damit zu einer Einwanderungskultur, die von vielen Einflüssen geprägt ist und sich in ständiger Veränderung befindet. Dabei setzt sie sich für die Forderung nach einem Recht auf Rechte ein. Dieses Recht verbindet Menschen auf den globalen Migrationsrouten mit den Gesellschaften in den Herkunfts-, Transit- und Ankunftsländern. Und es verbindet die hier Neuangekommenen in ihren Kämpfen um faire Arbeit, angemessenes Wohnen, gute Bildung und Gesundheit sowie um Würde mit all denen, die in dieser Gesellschaft ebenfalls marginalisiert werden.

Das Dossier «Gesellschaft der Vielen» versteht sich auch als Plattform für akademische und politische Debatten in Deutschland, Europa und der Welt zu den Themen rund um Einwanderung, Flucht, Antirassismus, Solidarität und migrantische Kämpfe.

Die (post-)migrantische Bildungspolitik in der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Für eine Gesellschaft der Vielen

Migration ist eine Normalität, die durch ungleiche Reichtumsverteilung, Neo-Kolonisierung und rassifizierende Grenzregime zu einem Feld der politischen Auseinandersetzung geworden ist, auf dem sich die Frage nach einer gerechten Welt maßgeblich entscheiden wird. Die Akteure der Migration – vor Krieg, Hunger und Hoffnungslosigkeit Fliehende, Arbeitsuchende, Studierende, Neugierige, Verliebte oder Abenteuerlustige – eint ihre strukturelle und potentielle Entrechtung und potentielle Infragestellung ihrer Existenz. Dagegen wehren sich Migrant*innen seit Jahrhunderten, in dem sie Rechte, Würde und ein gutes Leben einfordern. Durch ihre bloße Existenz fordern sie einen Platz in dieser Welt ein und rufen zu einem solidarischen Miteinander auf. Dadurch stellen sie den national-sozialen Konnex von Staatsbürgerschaft und Bürgerrechten in Frage und drängen zu einer gemeinsamen Anstrengung für globale Gerechtigkeit. Unabhängig von der politischen Überzeugung der einzelnen Migrant*innen bedeuten diese Dynamiken der Migration eine demokratisierende Transformation in allen Ländern, die seit Jahrhunderten von globaler Ausbeutung profitieren und deren Gesellschaften auf der rassifizierten Hierarchisierung ihrer Bevölkerungen aufbauen.

In ihrer Agency zur Überwindung der zahlreichen Grenzen, für gerechte Löhne, für angemessenes Wohnen, für gleiche Bildungschancen und für kulturelle Vielfalt hat Migration demokratisierende und diversifizierende Effekte auf Gesellschaft per se. In ihren Kämpfen bilden sich Momente einer Gesellschaft der Vielen aus, die zentral ist für das Gelingen einer solidarischen Gesellschaft. Linke Politik kommt daher nicht umhin, ihre Praktiken und Theorien aus einer (post-)migrantischen und transnationalen Perspektive zu entwickeln, wenn ihr Projekt einer gesellschaftlichen Transformation gelingen will. Wohn- und Mietenkämpfe, Proteste im Pflege- und Care-Bereich, Arbeitskämpfe in der Logistik, Kampf gegen Militarisierung, Nationalismus, White Supremacy und Autoritarismus sowie für Klimagerechtigkeit finden ihren Anfang bei denen, die von Ausbeutung, Extraktivismus, Umweltzerstörung, Gewalt und Diskriminierung betroffen sind und sich mit ihrem ganzen Leben dagegen wehren. In der Migration verschränken sich Klassenkampf, Mietenbewegung, Kämpfe um Reproduktionsarbeit, für Frieden und Klimagerechtigkeit auf eine intersektionale Weise.

Die politisch verfasste Linke in diesem Land ist zurzeit nicht der bevorzugte Ort von Migrant*innen. Das liegt nicht an einem linken Defizit in migrantischen Communities, sondern an einem Defizit migrantisch situierten Wissens, migrantischer Praktiken und post-migrantischer Perspektiven in der Linken. Weil sich die Linke gegenüber migrantischen Lebensrealitäten versperrt und sie in ihren Strategien häufig übersieht, verwundert es kaum, wenn neoliberale Diversitätsangebote, die zwar Anerkennung versprechen, jedoch vom grundlegenden Transformationscharakter der Migration nichts wissen wollen, großen Zulauf bekommen.

Die Linke ist nicht zufällig zögerlich, in der vorherrschenden Migrationspolitik den Kristallisationspunkt kapitalistischer Unterwerfung zu begreifen und dafür entschieden eine (post-)migrantische Perspektive einzunehmen, denn zu stark ist bei vielen Menschen in der Bevölkerung der Glauben an das national überformte soziale Versprechen, aus der Entrechtung der Einen Vorteile für die eigene Klassenposition zu erlangen. Dabei betrifft Rassismus nicht nur Migrant*innen, sondern ist Motor zur Durchsetzung allgemeiner gesellschaftlicher Spaltung und autoritärer (Kriegs-) Regime, die am Ende des Tages alle trifft. Die Entrechtung und das Aussetzen demokratischer Grundstandards, etwa die Frage der menschlichen Würde, das Recht politischer Partizipation, das Recht auf Freizügigkeit oder auf Bildungsgerechtigkeit, werden durch Racial Profiling, Polizei- und rechte Gewalt, struktureller Verweigerung des Wahlrechts, Militarisierung der Grenzregime und Durchsetzung des Lagersystems sowie dem Aufrechterhalten schulischer Segregation und extremer ökonomischer Ausbeutung an Migrant*innen durchexerziert. Damit werden auf dem Feld der Migration der Abbau der Demokratie und die Verarmung und Verrohung immer breiterer Schichten der Bevölkerung vorbereitet und eingeübt.

Migration antwortet in ihrem Kern auf die soziale Frage, weil Migration Klassenkampf bedeutet. In ihrer strukturellen Exklusion kämpfen die Subjekte der Migration unmittelbar gegen Entrechtung. Die bloße Existenz migrantischer Subjekte unter der Bedingung ihrer strukturellen Exklusion fordert eine gleichberechtigte Anwesenheit in dieser Welt ein und stellt somit die grundsätzlichen Verhältnisse kapitalistischer Mechanismen von Hierarchisierung und Ausbeutung in Frage – unabhängig von ihrer politischen Überzeugung. Migration stellt in Deutschland seit 1945 eine der machtvollsten Bewegungen der Demokratisierung und Liberalisierung des Landes dar, in der sich vielfältige Kämpfe miteinander beständig verbunden haben.

Gegen offenen Straßenterror üben sich die Subjekte der Migration in Selbstverteidigung und Selbstbehauptung. Ihr Wissen um rassistische Strukturen – wie etwa bei der Mordserie des NSU oder in Hanau – ist grundlegend. Die Entwicklung antirassistischer Theorie und Praxis verdanken wir diesem situierten Wissen, ebenso die zahlreichen Kämpfe um Erinnerung und Aufklärung rechter Anschläge.

Gegen Segregation im Bildungssektor versuchen migrantische Eltern ihren Kindern gerechte Bildungschancen zu ermöglichen. Sie stehen damit ein für eine bildungspolitische Inklusion aller in dieser Gesellschaft. Die Öffnung der höheren Bildungseinrichtungen für sogennante bildungsferne Schichten in den Bildungsreformen der 1970er Jahren wäre ohne die migrantische Unterschichtung des Arbeitsmarktes undenkbar gewesen.

Gegen Kaputtsanierung, Immobilienspekulation und Gentrifizierung organisieren sich migrantische Mieter*innen seit über 50 Jahren in diesem Land. Die Mietstreikbewegung und die ersten Hausbesetzungen durch sog. Gastarbeiterfamilien sowie die Instandsetzung der innerstädtischen Wohnviertel von den 1960er bis 1990er Jahren sowie aktuell die basisdemokratischen Mietenkämpfe wie bei Kotti & Co haben Wohnen erst zu einem wichtigen Thema linker Bewegung und Wohnpolitik gemacht. DWE wäre ohne diese migrantischen Erfahrungen und Interventionen nicht in der Form realisiert worden.

In der Pflege- und Sorgearbeit sowie der Reinigung sind es immer wieder vor allem migrantische Frauen, die die Frage von Reproduktionsarbeit auf die Tagesordnung setzen und – wie bei dem Streik bei den Töchterunternehmen von Vivantes Ende 2021 – zu handfesten und erfolgreichen Arbeitskämpfen führen.

Migrantische Streiks und Arbeitskämpfe gegen den – auf dem Rücken von Arbeitsmigrant*innen erkauften – Tariffrieden werden seit Jahrzehnten erbittert geführt. Dafür müssen wir nicht erst in die Phase der wilden Streiks Anfang der 1970er schauen wie bei den Ford-Werken oder bei Pierburg-Neuss und den Hella-Werken, die damals die Leichtlohngruppen zur gesonderten Ausbeutung von Arbeiterinnen abschaffen konnten, sondern können die aktuellen Auseinandersetzungen in der Fleischindustrie, etwa bei Tönnies, in der Sicherheitsbranche etwa an Flughäfen, in der Logistik wie bei Amazon oder Gorillaz oder bei den Erntehelfer*innen betrachten, die seit einigen Jahren und auch ganz aktuell in ihren Betrieben teilweise massive Arbeitskämpfe durchführen.

In ihrem eigenmächtigen Überschreiten von Grenzen stellen Migrant*innen millionenfach den Konnex von Staatsangehörigkeit und zivilen Rechten in Frage und stellen damit die Frage nach globaler gesellschaftlicher Solidarität. Die solidarischen Städte als Labore künftiger gerechter Lebensformen sind aus den Bewegungen der Migration geboren.

Die migrationspolitische Bildungspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung stärkt diese Bandbreite migrantischer Kämpfe. Dafür stehen wir in enger Zusammenarbeit, laufenden Kooperationen und Vertrauensverhältnissen mit Streikenden, organisierten Refugees, mit Migrationsforscher:innen, mit Verbänden und Selbstorganisationen, mit Dachverbänden und zahllosen Gedenk- und aktivistischen Initiativen, mit Angehörigen von Opfern rassistischer Gewalt und mit migrantischen Intellektuellen und Kunstschaffenden. Dabei ist klar: Es geht nicht primär darum, was wir als politische Bildner*innen den migrantischen Communities und Strukturen zu sagen haben, sondern dass Stiftungen von dem migrantisch situierten Wissen jede Menge lernen können. In diesem Ausgangspunkt sehen wir eine Bewusstseinsänderung der Gesellschaft in diesem Land. In der Haltung, das Wissen derer anzuerkennen, die von Rassismus Betroffen sind, arbeiten wir aktiv an der Stärkung einer post-migrantischen Gesellschaft der Vielen, die Migrant:innen nicht erneut marginalisiert, neoliberal diversifiziert oder als defizitär begreift. Wir treten vielmehr in einen fragenden Dialog zueinander, aus dem alle Seiten lernend und gestärkt hervorgehen können. 

Migration und seine Subjekte sind also kein Zusatz- oder Spezialthema, sie sind weder Opfer noch unmündig, sie haben weder was mit Diversität und Integration noch mit kultureller Bereicherung zu tun, sondern in ihnen stellt und beantwortet sich die globale soziale Frage. Die Hinwendung zu den Kämpfen der Migration stellt keine Gefahr für linke Politik dar, sondern stärkt linke Politik, weil es linke Politik ist.

Der internationale Arbeitszusammenhang «Globale Bewegungsfreiheit und internationale Grenzregime» beschäftigt sich mit dem Wandel der europäischen Migrations- und Grenzpolitik seit dem langen Sommer der Migration 2015. Ein Schwerpunkt liegt auf der Begleitung und Analyse der Prozesse und Folgen der Vorverlagerung der EU-Außengrenzen bis nach Afrika und in den Nahen Osten. Ein weiterer Schwerpunkt sind transnationale Praktiken und Politiken der Solidarität mit Migrant*innen und Geflüchteten in Europa wie sie sich in den wachsenden Bewegungen für solidarische Städte zeigen. Dazu befindet sich der Solidarische Salon auf Wanderschaft und tourt bundesweit, um Akteur*innen der solidarischen Städte zu vernetzen und zusammen zu bringen. Materialien wie der Atlas der Migration, Kooperationsprojekte wie Moving Cities oder Publikationen wie Solidarity Cities in Europe und viele weitere geben Einblick in unsere Arbeit.

Der Arbeitszusammenhang «Gesellschaft der Vielen» erarbeitet Texte, Materialien und Webprojekte und führt zahlreiche Veranstaltungen, Konferenzen, Gesprächskreise und Vernetzungstreffen durch.

Ein weiterer Schwerpunkt beschäftigt sich mit der grundsätzlichen Frage nach der Bedeutung von Migration für eine demokratische Erneuerung von Gesellschaft. In dem Online- und Publikationsprojekt «Die Erweiterung des Terrains. Migrationspolitik als Transformationsprojekt. Eine Baustellenbesichtigung» wurden zehn ausgewiesene Expert*innen im Bereich der Migrations- und Rassismusforschung zu Perspektiven (post-)migrantischer Interventionen befragt.

Unter dem Titel «Migration und Metropolen» versammeln sich Texte zu solidarischen Städten, widerständigen Praktiken und (post)migrantischen Realitäten, die unsere Stadtpolitik zu einem Labor linker Migrationspolitik entwickelt haben.

Das Buchprojekt «Erinnern stören» bringt migrantische und jüdische Perspektiven auf die Zeit des Mauerfalls und des deutschen Vereinigungsprozesses von den 1980ern bis heute zusammen. Weitere Arbeiten werden in dem gleichnamigen Webarchiv gesammelt.

Der Young Migrants Blog bietet für junge Menschen mit Migrationsbiographien oder Rassismuserfahrungen eine Plattform, um sich über Alltagsthemen auszudrücken. Sei es in Form von Standpunkten, Gedichten, Erlebnisberichten, Videos, Zeichnungen oder mit Musik versammelt der Blog die Stimmen der Vielen ein und verstärkt sie. Es feiert 2022 mit einer großen Veranstaltung und Ausstellung sein 5jähriges Bestehen

Daneben haut euch der ManyPod die Kämpfe der Migration um die Ohren. Der Gesprächs-Podcast unterhält sich regelmäßig mit interessanten Akteur*innen und Gruppen aus Bewegung, Wissenschaft, Kultur und Politik.

Mit Haymat-Ost findet am 14. bis 15. Oktober 2022 in Leipzig eine Konferenz für Migration und migrantische Kämpfe statt. Seit Jahren erheben migrantische, nicht-weiße Akteur*innen im Osten ihre Stimme, erzählen über ihr Leben in der DDR und in den neuen Bundesländern, vernetzen und organisieren sich gegen Rassismus und für ihre Rechte und machen unmissverständlich klar: «Der Osten bleibt migrantisch!»

Die Onlineplattform L!NX hat sich gegründet und vermittelt niedrigschwellig und spielerisch die bildungspolitischen Inhalte der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Migration ist dabei ein großer Schwerpunkt.

Gemeinsam ist all den Projekten die Ausweitung demokratischer Rechte und Anerkennung für eine solidarische (post)migrantische Gesellschaft der Vielen.

Dossier Gesellschaft der Vielen

Kontakt

Rolle Persondetails
Referent für MigrationDr. Massimo Perinelli
E-Mail: massimo.perinelli@rosalux.org
Telefon: +49 30 44310471
Raum: 5.06
Referentin für Migration Efsun Kızılay
E-Mail: efsun.kizilay@rosalux.org