Die Berliner Migrationsforscherin und Mieten-Aktivistin Ulrike Hamann zu den politischen Lernprozessen in der Willkommensbewegung und warum sich die Linke diesen Initiativen mit Demut nähern sollte.
Unter dem Titel «Die Erweiterung des Terrains. Migrationspolitik als Transformationsprojekt. Eine Baustellenbesichtigung» befragt unser Autor Günter Piening zehn ausgewiesene Expert*innen im Bereich der Migrations- und Rassismusforschung zu Perspektiven (post-)migrantischer Interventionen. Die einzelnen Gespräche thematisieren das europäische Grenzregime, globale Bürgerrechte, die Rolle des Wohlfahrtstaates in den Klassenauseinandersetzungen, die Solidarität in betrieblichen Kämpfen, die Geschlechterfrage in postkolonialen Verhältnissen, die Kämpfe der Geflüchteten um Teilhabe und die Stärke (post-)migrantischer Lebenswelten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Migration als ein Vermögen begreifen, die soziale Frage in einem demokratisierenden Sinn zu beantworten. Unser Dossier «Migration» setzt damit der gesellschaftlichen Polarisierung, die gegenwärtig vor allem um die Frage von Einwanderung, Teilhabe und Bürgerrechte kreist, eine linke Position jenseits national-sozialer Kurzschlüsse entgegen.
Bis Ende Juni 2017 veröffentlichen wir jeden Montag eines der insgesamt zehn Expertengespräche.
Günter Piening: Sie haben in Ihrer Forschung das Entstehen und den Charakter der Willkommensinitiativen mit Schwerpunkt Berlin, Brandenburg und Sachsen untersucht1. Handelt es sich dabei, ein wenig schlicht gesprochen, eher um eine karitative oder um eine politische Bewegung?
Ulrike Hamann: Es gibt seit langer Zeit Solidarität mit Geflüchteten. Früher, in den Neunzigern, haben die Initiativen die Auseinandersetzung mit dem Grenzregime aus einer starken politischen Motivation geführt. Aber es gab auch immer lokale, eher karitativ arbeitende Gruppen. Wie schnell 2015 die vielen neuen Initiativen entstanden und handlungsfähig wurden, war aber für viele überraschend.
Man muss jedoch, wenn man ihren Charakter einschätzen will, die Ebenen, auf denen sie wirken, unterscheiden. Das sind die gesellschaftliche, die kommunale und die persönliche Ebene.
Die neuen Initiativen repräsentieren nach wie vor ein breites Spektrum. Aber der Anteil der mehr aus den bürgerlichen Schichten kommenden, vorher nicht politisch engagierten Menschen ist deutlich gestiegen. In einer repräsentativen Studie2 wurde festgestellt, dass sich 15,6 Prozent der Gesamtbevölkerung mit Hochschulabschluss engagieren, hingegen nur 5,6 Prozent mit einem Volks- oder Hauptschulabschluss. Man kann diese Zahlen damit erklären, dass höher Gebildete womöglich ein stärker ausgeprägtes Verständnis von gesellschaftlicher Teilhabe haben, aber es stellt sich gleichwohl die Frage, inwieweit die Strukturen offen sind für Menschen ohne Hochschulabschluss und wie sie stärker in das Engagement eingebunden werden können. Der Anteil von Engagierten mit Migrationshintergrund von 24 Prozent liegt über dem gesellschaftlichen Durchschnitt und zeigt, dass sich die Migrationserfahrung auf die Bereitschaft zur Solidarität positiv auswirkt.
Insgesamt hat sich jede*r zehnte Bundesbürger*in auf die eine oder andere Weise engagiert, das ist eine beachtliche Zahl. Dabei hat nicht nur die Berichterstattung über Krieg und Flucht und das Sterben im Mittelmeer viele aktiviert, sondern auch das Bedürfnis, Gesellschaft gestalten zu wollen (97 Prozent). Dazu kam, gerade in ostdeutschen Kommunen, der Wunsch, den rechten Parolen und der Anti-Einwanderungsstimmung etwas entgegenzusetzen – etwa 90 Prozent der Engagierten sehen in ihrer Tätigkeit eine Stellungnahme gegen Rassismus. Die Praxis der Willkommensbündnisse hat bis Ende 2015 den Diskurs um Einwanderung und Flucht stark verändert und beinahe ein Selbstverständnis der offenen solidarischen Gesellschaft etabliert. Auch als der Medienhype nachließ und nach den Kölner Ereignissen zu Silvester 2015 die Stimmung endgültig kippte, ließ das Engagement kaum nach. Die Initiativen haben sich davon nicht beeinflussen lassen. Ungeachtet des anhaltenden Engagements konnten die Initiativen allerdings dem Diskurswechsel «nach Köln» nichts entgegensetzen und haben ihre Arbeit im gesellschaftlich unsichtbaren Bereich fortgesetzt. Ihre Stärke der guten lokalen Verankerung ist gesamtgesellschaftlich gesehen gleichzeitig ihre Schwäche, weil sie über eine lokale Hegemonie nicht hinaus kommen.
Politisch sind die Initiativen nicht in einem festen Raster zu verorten. Sie sind zu einem hohen Grad selbst organisiert. Alle zeichnen sich durch ein sehr pragmatisches Gespür für ihre Arbeit aus. Die Initiativen betrachten sich nicht im klassisch linken Sinne, als «autonom» – als unabhängig vom Staat –, sondern sind sehr daran interessiert, mit staatlichen Stellen zusammenzuarbeiten.
Welche Vorstellungen von Einwanderung, von heterogener Gesellschaft, prägt diese Gruppen? Sind es mehr Assimilierungsbilder oder - wenn man so will - postmigrantische?
Die Bewegung ist selbst sehr heterogen, abhängig von den lokalen Gegebenheiten. Heterogenität wird positiv aufgenommen, man geht mit einer großen Neugier in die Begegnung mit Geflüchteten und anderen Engagierten. Das wird immer wieder betont – 94 Prozent haben Interesse an anderen Kulturen und wollen mehr über die Welt erfahren und 92 Prozent betonen, dass ihnen die offene Gesellschaft und der soziale Zusammenhalt wichtig sind. Gerade die Engagierten, die keine oder wenig Erfahrung mit Migration hatten – etwa in ostdeutschen Kommunen –, sind unheimlich neugierig und erleben einen neuen Umgang mit Differenz, wodurch sie lernen auch eigene Defizite zu erkennen. So berichteten in unserer bundesweiten Befragung von Koordinator*innen der ehrenamtlich Engagierten diese von einer starken Nachfrage von Weiterbildungsangeboten für interkulturelle Bildung.
In der Mittler*innen-Position
Nichtsdestotrotz sehen sich viele Engagierte in einer Mittler*innen-Position, in der sie sich die Aufgabe zuschreiben, die für die deutsche Gesellschaft nach ihrer Ansicht relevanten Werte zu vermitteln. Dabei wird beispielsweise viel über Geschlechtervorstellungen von Geflüchteten nachgedacht und häufig eine Differenz unterstellt. Dementsprechend sind dann auch Überraschungsmomente groß, wenn die vorherrschenden Vorurteile durch Geflüchtete nicht bestätigt werden.
Es gibt also beides. Es gibt die Haltung «Wir müssen 'unsere' Werte weitergeben, die diese Gesellschaft ausmachen» und gleichzeitig werden die eigenen Werte hinterfragt, interessiert man sich dafür, wie andere mit Situationen umgehen. Es ist im besten Sinne ein äußerst dynamisches Feld der Verhandlung von Differenz, das, so würde ich es vorsichtig optimistisch ausdrücken, Teil der postmigrantischen Gesellschaft ist, solange es offen für den Irrtum bleibt und nicht versucht, eine dominante Wir-Erzählung zu erzeugen.
Der Eindruck eines die Initiativen prägenden Paternalismus ist also falsch?
Natürlich gibt es das. Wie soll es auch anders sein, denn alle Engagierten sind Teil dieser Gesellschaft, die geprägt ist von Kolonialismus und Rassismus. Aber der Umgang mit Geflüchteten bringt Irritationen, zwingt zur Reflexion der eigenen Standards. Viele Unterstützer*innen kommen aus einem eher bildungsbürgerlichem Milieu und erfahren – womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben – was strukturelle Diskriminierung heißt, und was Menschen, die nicht so gut gestellt sind wie sie selbst, in den Institutionen erleben. Das heißt noch nicht, dass eine Kritik an strukturellem Rassismus artikuliert wird, aber die Ansätze sind da. Eine Begleiterscheinung des Paternalismus ist ja auch eine Erwartung von Dankbarkeit von den Geflüchteten gegenüber den «Helfenden». Interessanterweise ist diese Erwartungshaltung unter den unter 30jährigen viel stärker verbreitet (64 Prozent), als unter den über 60jährigen (39 Prozent), denen man kulturell vielleicht noch eher einen Hang zum Paternalismus unterstellen würde.
Wird der Begriff der «Integration» kritisch reflektiert?
Integration – klar, den Begriff gebrauchen alle, weil er Teil des Diskurses über Migration und Flucht ist. Aber die Vorstellung, was sich dahinter verbirgt, verändert sich. Es entsteht eine Idee davon, dass sich die Gesellschaft ändern muss und dass sie selbst als Subjekte Teil dieser Veränderung sind. Es gibt nicht immer eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff an sich, aber es gibt eine veränderte Vorstellung davon, was «Ankommen» heißen kann, und wer welche Aufgaben übernehmen muss. Integration wird also nicht als Einbahnstraße und auch nicht mehr als einseitiger Imperativ wahrgenommen.
Solche positiven Einschätzungen über die Lernprozesse in der Willkommenskultur gerade auch in Ostdeutschland höre ich immer wieder. Aber wo finde ich dies im öffentlichen Diskurs? Der läuft doch genau in die gegenteilige Richtung ...
Diese Diskursverschiebung hin zu einer negativ geprägten Diskussion über Einwanderung haben diese Initiativen wenig entgegen gesetzt. Das hat auch uns überrascht, dass es kaum Öffentlichkeitsarbeit gab, kein Bedürfnis sich öffentlich zu äußern. Ich habe danach in den Interviews gefragt. Fehlende Zeit, fehlende Ressourcen werden als Ursachen angegeben. Viele gehen in der Eins-zu-Eins-Betreuung auf und erfahren das persönlich als sehr positiv. Es scheint die Kraft oder das Interesse zu fehlen, diese Erfahrung nach außen zu tragen.
Wenig Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit
Gerade in Ostdeutschland sehen viele Aktive ihre Arbeit als direkte und konkrete Antwort auf AfD und Pegida. Eine Ehrenamtliche in Dresden drückte das in etwa so aus: ‚Ich wohne an dem Platz, an dem sich Pegida jeden Montag versammelt. Die Ohnmacht, ihnen dabei zusehen zu müssen und nicht genug Gegendemonstranten mobilisieren zu können, hat mich im wahrsten Sinne des Wortes krank gemacht. Um diese Ohnmacht zu überwinden, habe ich begonnen, mich für Geflüchtete zu engagieren. Ich wollte nicht nur gegen etwas sein, sondern auch für etwas aktiv werden’. Die Engagierten, die wir in Dresden interviewt haben, organisieren Begegnungsräume, lernen Geflüchtete kennen und fangen an, das als wohltuend zu empfinden. Das heißt, es passiert wenig Auseinandersetzung im öffentlichen Raum, sondern es geschieht auf eine bestimmte Weise ein Rückzug in selbstgeschaffene halbprivate Wohlfühl-Räume. Das ist unter den lokalen Gegebenheiten nachvollziehbar, aber im gesamtgesellschaftlichen Rahmen erschreckend, wenn Solidarität und Unterstützung nicht mehr in der Öffentlichkeit sichtbar werden können, aus Angst vor rechter Hegemonie. Auch Geflüchtete haben uns in Dresden berichtet, dass sie den öffentlichen Raum in der Innenstadt an Montagen, also wenn Pegida sich trifft, meiden. Ich finde das ist ein inakzeptabler Zustand, dass der öffentliche Raum so stark von rechts besetzt ist, dass er aus Angst vor Gewalt nicht von allen genutzt werden kann.
In vielen Analysen wird die Willkommensbewegung als neue soziale Bewegung mit großem Transformationspotenzial gehypt. Ist das gerechtfertigt?
Ich würde das noch nicht als soziale Bewegung bezeichnen. Mit solchen Projektionen muss man vorsichtig umgehen. Soziale Bewegungen formulieren Forderungen nach politischer und sozialer Teilhabe. In diesem Sinne gibt es unter den vielfältigen regionalen Initiativen keine Verständigung. Es gibt gewisse Vernetzungsversuche, aber letztlich wirken die Initiativen vor Ort. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Sie nehmen eine bestimmte Funktion wahr und verhindern teilweise ein Kippen der Stimmung vor Ort. Viele Aktive wollen gar nicht darüber hinaus gehen, es sind eben überwiegend Bürger*innen, die Gutes tun wollen, das ist noch keine politische Bewegung.
Wachsendes Bewusstsein über Diskrimierung
Allerdings gibt es in einigen Bereichen ein wachsendes Bewusstsein für drei gesellschaftliche Fragen. Das ist zum einen die soziale Frage, wo zumindest eine Sensibilität gerade auch unter den besser Gebildeten dafür entsteht, welcher strukturellen Diskriminierung man im deutschen Sozialsystem ausgesetzt ist, wenn man auf Transferleistungen angewiesen ist. Diese Sensibilität kann weiter gefördert werden, denn gleichwohl scheint mir das Interesse für sozial Abgehängte, die nicht geflüchtet sind – ob mit oder ohne Migrationserfahrung – in den Initiativen relativ gering zu sein. Zum zweiten gibt es eine deutliche Haltung für die offene Gesellschaft, in der sicherlich noch immer Paternalismus und Rassismus zu finden ist, wo allerdings auch gleichermaßen Auseinandersetzungen und Lernprozesse stattfinden. Zum dritten gibt es durch die Begegnung der Engagierten mit Menschen mit Fluchterfahrung eine Auseinandersetzung mit dem Grenzregime und der Asylpolitik. Dadurch entsteht keine eindeutige Forderung nach offenen Grenzen für alle, aber ein Wissen um die Gewalt und Gefährlichkeit des aktuellen Grenzregimes. Eine Bildungsarbeit, die die Initiativen dort abholt, wo sie stehen und gemeinsam mit Geflüchteten die Erfahrungen auf den Fluchtrouten systematisch analysiert und daraus Forderungen entwickelt, kann ganz konkrete politische Solidarisierungen erreichen.
Die Bewegung, die sich entlang der Fluchtrouten und der Grenzen organisiert hat, ist sicher politischer. Aber auch die vor Ort ehrenamtlich Engagierten haben ihre Auseinandersetzung mit dem Grenzregime. Sie hören die Geschichten, die Geflüchtete mitbringen, sie fiebern mit, wenn Familienmitglieder noch auf der Fluchtroute sind, sie wehren sich gegen Abschiebungen. Diese Art politische Bildung im Kleinen, selbstständig, nicht organisiert, passiert durch die Geflüchteten selbst.
Können solche politischen Lernprozesse von außen gefördert werden?
Neben praktischen Fragen, die mit Ressourcen zusammenhängen, braucht es Räume, in denen die verschiedenen Erfahrungen der Engagierten und Geflüchteten reflektiert werden. Hier wären unter anderem die politischen Stiftungen gefordert.
Dabei ist aber wesentlich, wie sich Stiftungen, Parteien und außerparlamentarische Linke ins Verhältnis zu so einer Bewegung setzen. Häufig steht am Anfang die Frage: «Wie kann man diese Menschen politisieren?» Das kenne ich aus der mietenpolitischen Bewegung: «Nachbarn politisieren!» In diesem Ansatz schwingt eine gewisse Arroganz mit, wenn das Gegenüber nicht als politisches Subjekt erkannt wird, das eigene Erfahrungen hat und aus einem Alltagsbewusstsein eine Analyse der Verhältnisse entwickelt hat, das seine Erfahrung mit Politik, Verwaltung, Ausgrenzung und Inklusion gemacht hat. Es stellt sich hier eher die Frage, welche gemeinsame Sprache entwickelt wird, um Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und soziale Widersprüche zu benennen und zu kritisieren.
Denn auch wenn den meisten Initiativen ein Bewusstsein für ihren eigenen politischen Impact fehlt: Im Lokalen setzen sie sich stark damit auseinander, was passiert, wenn die Rechten stärker werden, wenn rechte Argumente plötzlich die Kommune spalten. Das Politische ist damit diesen Initiativen inhärent. Sie haben Gegenstrategien entwickelt in einer direkten Konfrontation mit rassistischen Argumenten. Von diesen konkreten Erfahrungen über politische Auseinandersetzung unter großem Druck können auch Linke viel lernen, wenn wir uns dazu ins Verhältnis setzen ohne zu belehren.
Ein wichtiger Aspekt in einem solchen Lernprozess wäre für mich das in Beziehung setzen, bzw. die Verknüpfung mit den anderen Auseinandersetzungen – nicht nur der Migration, z.B. um Wohnung oder für Bürgerrechte für Alle. Welche Ansätze sehen Sie hier?
Das ist eine große Lücke. Die meisten Menschen in diesen Initiativen haben relativ wenig Bezug zu den Kämpfen der Geflüchteten wie auch zu anderen sozialen Kämpfen. Man sieht das selbst in Berlin. Die mietenpolitische Bewegung z.B. hat sich geöffnet für die Fragen der Geflüchteten und – teilweise gemeinsam mit Geflüchteten – die Wohnraumversorgung für Geflüchtete mit in ihre Forderungen und politischen Praktiken aufgenommen. Die Willkommensinitiativen sind da außen vor geblieben, selbst jene, die sich mit der Wohnraumversorgung von Geflüchteten beschäftigen. Die Möglichkeit, die dramatische Unterversorgung mit Wohnraum für Transferleistungsempfänger*innen insgesamt zu thematisieren, wurde nur selten genutzt.
Grenzen des Engagements
Dabei sind die Felder, in denen sich die Initiativen bewegen, identisch. Etwa die Folgen des Abbaus des Sozialstaats und die Auseinandersetzung damit, dass Initiativen größtenteils Arbeit machen, die eigentlich Aufgabe des Staates sind, oder auch die Auseinandersetzung mit Genderrollen in der Carearbeit. Solche Verknüpfungen kommen nicht von selbst, die müssen initiiert werden.
Aber wir müssen auch fragen: Mit welchem Recht verlangen wir dieses Mehr…? Nehmen wir «Moabit hilft», die Initiative, die nach dem vollkommenen Versagen staatlicher Institutionen in Berlin die Aufnahme von Geflüchteten organisiert hat. Sie müssen sich nicht um die allgemeine Wohnungspolitik kümmern, und sie können es auch nicht, weil sie mit der alltäglichen Arbeit zu 150 Prozent ausgelastet sind.
Zusammenfassend: Hat die Willkommensbewegung eine starke transformatorische Kraft?
Das wird sich zeigen, das können wir vielleicht in fünf Jahren beantworten. Für mich gehört das, was derzeit lokal passiert, zur Etablierung der postmigrantischen Gesellschaft – die Auseinandersetzung mit Heterogenität im Alltäglichen, die Auseinandersetzung mit Rassismus und mit eigenen Positionierungen. Es gibt ein erhöhtes Potential an Erfahrung, was die Gesellschaft von morgen sein wird.
Das sind Fragen an die Menschen, die politisch gestalten wollen. Wie können die Erfahrungen systematisiert werden, gemeinsame Forderungen entstehen? Wenn man so will: Das transformatorische Potential liegt in diesen Alltagserfahrungen in ganz neuen, bisher von Konflikten der postmigrantischen Gesellschaft ziemlich unberührt gebliebenen Teilen der Gesellschaft. Da werden Alltagserfahrungen und Wissen akkumuliert, die Grundlage für eine erhebliche Qualifizierung eines transformatorischen Projekts sein können.
Dabei geht es auch um die Anerkennung ihrer Arbeit und der Bedeutung für die Demokratisierung dieser Gesellschaft. Voraussetzung für diesen Austausch ist es jedoch, den Initiativen mit Offenheit und einer gewissen Neugier zu begegnen. Man muss sie da abholen, wo sie gerade stehen. Was man nicht verlangen kann, ist, dass sie sich zu allen anderen sozialen Kämpfen ins Verhältnis setzen. Das führt nicht weit.
(Das Interview fand statt am 11.1.2017)
Anmerkungen
1) Ulrike Hamann, Serhat Karakayalı, Mira Wallis, Leif Jannis Höfle: Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen. Qualitative Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Berlin 2016
2) Die Daten sind entnommen den beiden Untersuchungen:
- Petra Angela Ahrens (2017): Skepsis und Zuversicht. Wie blickt Deutschland auf Flüchtlinge? Sozialwissenschaftliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland.
- Karakayali, Serhat/ Kleist, Olaf J. (2016): Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit (EFA) in Deutschland 2. Forschungsbericht. Ergebnisse einer explorativen Umfrage vom November/Dezember 2015. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin.
Dr. Ulrike Hamann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrbereich Diversity and Social Conflict des Instituts für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität und Mitglied des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte und Gegenwart des Rassismus, Flucht/Migration und die Wohnungsfrage. Sie ist aktiv in der Berliner Mieteninitiative «Kotti & Co».