Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Parteien / Wahlanalysen - Andenregion Zurück in die Zukunft?

Bolivien ringt um das Erbe der Regierung Morales

Information

Autor

Jonas Wolff,

Eine Unterstützerin des ehemaligen Präsidenten Evo Morales und der MAS-Partei schwenkt die Wiphala-Flagge.
Eine Unterstützerin des ehemaligen Präsidenten Evo Morales und der MAS-Partei schwenkt die Wiphala-Flagge., picture alliance/AP Photo | Natacha Pisarenko

Bereits zweimal wurden die bolivianischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen coronabedingt verschoben, am 18. Oktober 2020 sollen sie nun aber definitiv stattfinden. So betont es jedenfalls das bolivianische Wahlgericht Tribunal Supremo Electoral (TSE), und so hat es das Parlament zuletzt erneut bekräftigt. Damit würden die Neuwahlen fast exakt ein Jahr nach dem annullierten Urnengang vom 20. Oktober 2019 stattfinden, der dem langjährigen Präsidenten Evo Morales die Wiederwahl bescheren sollte, schließlich aber in seinem vorzeitigen Rücktritt mündete.

Der vorliegende Text stützt sich auf: Wolff, Jonas: The Turbulent End of an Era in Bolivia: Contested Elections, the Ouster of Evo Morales, and the Beginning of a Transition Towards an Uncertain Future, in: Revista de Ciencia Política, 40: 2, i.E., Vorabdruck unter https://bit.ly/2AymFjf. Dort finden sich auch weitere Quellen- und Literaturhinweise.

Der Politikwissenschaftler Jonas Wolff arbeitet am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main, wolff@hsfk.de

Nach wochenlangen, mitunter gewaltsamen Auseinandersetzungen und im Angesicht schwerer Wahlbetrugsvorwürfe war Morales am 10. November 2019 von seinem Amt zurückgetreten – ein erzwungener Rücktritt, der nicht nur von ihm und seinen Unterstützer*innen als Putsch gewertet wird und der in der Tat zumindest putschähnliche Züge aufweist. An die Stelle des gewählten Präsidenten der Partei Movimiento al Socialismo (MAS) trat die bis dato unbekannte, konservative Politikerin Jeanine Áñez. In einem wiederum umstrittenen Verfahren – die MAS-Partei, die immerhin eine Zweidrittelmehrheit stellt, war nicht anwesend – wurde die Senatorin der oppositionellen Regionalpartei Demócratas im Parlament zur Übergangspräsidentin ernannt. Anstatt die Lage zu beruhigen, heizten der Rücktritt von Morales und die Ernennung von Áñez die Konflikte allerdings weiter an. Nun waren es die MAS-Anhänger*innen, die auf die Straße gingen. Und nun rückten Polizei und Militär, die sich unter Morales noch geweigert hatten, zur «Pazifizierung» der Situation aus. Gewaltsame Zusammenstöße waren die Folge, darunter zwei schwere Vorfälle in Sacaba (Cochabamba) und Senkata (El Alto), bei denen mindestens 18 Zivilist*innen zu Tode kamen und die von einer Mission der Interamerikanischen Menschenrechtskommission als «Massaker» eingestuft wurden.[1] Letztlich gelang jedoch eine friedliche Einigung zwischen der Übergangsregierung und der MAS-Mehrheitsfraktion im Parlament, der den Weg für eine Neubesetzung des Wahlgerichts und die Ausrufung von Neuwahlen freimachte. Aufgrund der Corona-Pandemie wurden die zunächst für Anfang Mai 2020 vorgesehenen Wahlen dann allerdings zunächst auf den 6. September und zuletzt auf den 18. Oktober verschoben – was bei der MAS und ihren Anhänger*innen massive Proteste ausgelöst hat.

Die Rechten schwächen sich gegenseitig

Bei Amtsübernahme hatte Áñez noch betont, die Aufgabe ihrer Regierung bestehe im engen Sinne darin, den Übergangsprozess zu Neuwahlen zu organisieren. Letztlich aber war von Beginn an klar, dass es der Interimspräsidentin und den sie stützenden Kräften sehr viel weitgehender darum ging (und geht), eine möglichst umfassende politische Kehrtwende einzuleiten. Symbolträchtig brachte Áñez die Bibel zurück in den Präsidentschaftspalast und warnte – mit eindeutig rassistischen Untertönen – vor der Rückkehr der «Wilden» an die Macht. Damit verbunden ist eine Strategie der politisch-juristischen Verfolgung von (ehemaligen) MAS-Repräsentant*innen und Unterstützer*innen, die mitunter offen repressive Züge trägt. Außenpolitisch brach die Regierung die Beziehungen zu Kuba und Venezuela ab und schwenkte auf einen pro-US-amerikanischen Kurs ein – in deutlichem Kontrast zur Regierung Morales, die den US-Botschafter, die US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA sowie die Behörde der Vereinigten Staaten für Entwicklungszusammenarbeit USAID des Landes verwiesen hatte. Wirtschaftspolitisch steht die Regierung den alten Wirtschaftseliten Boliviens nahe – vor allem jenen in der Tieflandregion um Santa Cruz – und setzt auf eine Rückkehr zum neoliberalen Entwicklungsmodell, von dem sich die MAS-Regierung mit ihrem staatszentrierten und sozial inklusiven («neo-desarrollistischen») Entwicklungskurs spürbar entfernt hatte. Seit Monaten stehen allerdings Versuche der Eindämmung der Corona-Pandemie und der Umgang mit ihren sozialen und wirtschaftlichen Folgen im Vordergrund des Regierungshandelns. Die Bilanz ist bisher reichlich bescheiden und hat, durch eine Reihe von Korruptionsskandalen verstärkt, die Unterstützung der Regierung Áñez auch im Anti-MAS-Lager erschüttert.

Mit ihrem Versprechen, eine bloße Interimspräsidentin zu sein, brach Áñez spätestens, als sie Anfang 2020 erklärte, bei den Neuwahlen zu kandidieren. Damit stieß sie insbesondere Luis Fernando Camacho und Carlos Mesa vor den Kopf. Camacho war als Chef des Bürgerkomitees von Santa Cruz (Comité Pro Santa Cruz) und radikaler MAS-Gegner während der Nachwahlproteste Ende 2019 zu Prominenz gelangt. Als religiös-konservativer und wirtschaftsliberaler Präsidentschaftskandidat mit Verankerung in den Wirtschaftseliten des bolivianischen Tieflandes repräsentiert er ein ähnliches Wähler*innen-Spektrum wie Áñez – die im Unterschied zu ihm aber die Macht, die Ressourcen und die Sichtbarkeit einer Präsidentin nutzen kann, um für sich Wahlkampf zu machen. Mesa präsentiert sich, wie bereits im Wahlkampf 2019, als moderat-sozialliberaler Kandidat, der programmatisch zwischen der popular-sozialistischen MAS und den konservativ-neoliberalen Kräften um Áñez und Camacho steht. Im Unterschied zum Wahlkampf 2019 sind seine politischen Alliierten zwar zu Áñez übergelaufen: Samuel Doria Medina von der Partei Unidad Nacional (UN) kandidiert als ihr Vizepräsidentschaftskandidat, und auch die Partei Solidaridad y Libertad (Sol.bo) um den Bürgermeister von La Paz, Luis Revilla, unterstützt die Interimspräsidentin. Er profitiert derzeit allerdings davon, dass sich die Zustimmungsraten zur Übergangspräsidentin seit einigen Monaten im Sinkflug befinden.

Von dieser Fragmentierung des Anti-MAS-Lagers profitiert vor allem die MAS. Nach dem so abrupten wie überraschenden Ende ihrer Regierungszeit ist es der Partei erstaunlich gut und schnell gelungen, sich für die anstehenden Wahlen neu aufzustellen. Die Entscheidung für den langjährigen Wirtschaftsminister Luis Arce und den ehemaligen Außenminister David Choquehuanca als Kandidatenpaar, die Ex-Präsident Morales als aus dem Exil operierender Wahlkampfchef der MAS durchgesetzt hatte, war alles andere als unumstritten. Schnell aber versammelten sich die Partei und ihre Basisorganisationen hinter Arce und Choquehuanca. Arce gilt gemeinhin als Architekt der pragmatischen, makroökonomisch erfolgreichen Wirtschaftspolitik der Regierung Morales und verspricht insofern vor allem eines: die Fortsetzung einer Politik, die makroökonomische Stabilität und sozioökonomische Inklusion verbindet. Mit Arce, einem international ausgebildeten Ökonomen, der selbst der städtischen Mittelschicht entstammt, will die MAS zudem verlorene Unterstützung in den Großstädten und der nicht-indigenen Bevölkerung Boliviens zurückgewinnen. Choquehuanca hingegen symbolisiert eine gewisse Rückkehr zu dem stärker indigen geprägten Diskurs der frühen MAS-Regierungszeit. Als indigener Intellektueller und langjähriger Aymara-Aktivist ist Choquehuanca insbesondere in der indigenen Bevölkerung des bolivianischen Hochlandes gut vernetzt und angesehen.

Die jüngste Umfrage von Anfang August sah Luis Arce – wenn man ungültige Stimmen und Unentschiedene herausrechnet – mit 33 Prozent haarscharf in Führung vor Mesa, der auf 32 Prozent kommt. Áñez könnte lediglich mit 17 Prozent rechnen, Luis Fernando Camacho gar mit bloßen 9 Prozent.[2] Damit wäre eine Stichwahl zwischen Arce und Mesa nötig, die Letzterer mit ziemlicher Sicherheit für sich entscheiden würde. Für die MAS kommt es mithin darauf an, in erster Runde zu gewinnen. Dafür braucht Arce erstens über 40 Prozent – das ist derzeit unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Zweitens benötigt er zehn Prozentpunkte Abstand zu dem Zweitplatzierten – das ist nur solange denkbar, wie sich Mesa, Áñez und Camacho gegenseitig Stimmen klauen. Dies hängt einerseits davon ab, ob es doch noch zu Absprachen oder gar Allianzen unter den Anti-MAS-Kandidat*innen kommt. Andererseits könnte ein sich konsolidierender Vorsprung von Mesa vor Áñez in den Umfragen dazu führen, dass Áñez- und Camacho-Unterstützer*innen aus taktischen Erwägungen für Mesa stimmen – bei den Wahlen 2019 konnte Mesa genau von einem solchen taktischen Verhalten der Anti-MAS-Wähler*innen profitieren.

Ein kurzer Rückblick auf die Krise vom Oktober und November 2019

Schon bevor die Bolivianer*innen am 20. Oktober 2019 zu den Urnen gingen, lag das Gespenst eines Wahlbetrugs in der Luft. Nach einer Reihe von Rücktritten und umstrittenen Entscheidungen hatte der Wahlgerichtshof TSE stark an Glaubwürdigkeit verloren. Und Oppositionskandidaten, darunter Carlos Mesa, hatten im Vorfeld der Wahlen gewarnt, MAS-Regierung und TSE bereiteten einen Wahlbetrug vor. Was allerdings nach den Wahlen geschah, hatte so sicherlich niemand erwartet.

Am Wahlabend brach der TSE den Prozess der vorläufigen, digitalen Stimmenübermittlung (Transmisión de Resultados Electorales Preliminares – TREP) ab, als 84 Prozent der Stimmen ausgezählt waren. Morales lag zu diesem Zeitpunkt mit 45,7 Prozent knapp acht Prozentpunkte vor dem Oppositionskandidaten Carlos Mesa (37,8 Prozent). Ein Wahlsieg in erster Runde verlangte allerdings mehr: entweder mehr als 50 Prozent oder über 40 Prozent bei mindestens zehn Prozentpunkten Abstand zum Zweitplatzierten. Auf just knapp über zehn Prozentpunkte Vorsprung war der Stimmenanteil von Morales angestiegen, als der TREP am nächsten Abend wieder aufgenommen wurden. In unmittelbarer Reaktion rief Mesa zur Mobilisierung gegen den «skandalösen Betrug» auf, während die OAS-Wahlbeobachtungsmission ihre «tiefe Sorge und Verwunderung» angesichts des «drastischen und schwer zu rechtfertigenden» Trendwechsels erklärte. Auf den Straßen eskalierten indes die Proteste gegen den angeblichen Wahlbetrug, es kam zu ersten gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Anhänger*innen und Gegner*innen der MAS, und in einigen Departamentos gingen die Gebäude der Wahlgerichtsbarkeit in Flammen auf.

Am 25. Oktober verkündete der TSE das offizielle Wahlergebnis: Mit 47,08 Prozent lag Evo Morales 10,57 Prozentpunkte vor Carlos Mesa (36,51 Prozent) – gerade genug, um eine Stichwahl zu vermeiden. Mittlerweile hatte der Präsident in eine Überprüfung der Wahlergebnisse durch die OAS eingewilligt, aber dies genügte nicht, um die Proteste zu beruhigen. Zugleich revoltierten immer mehr Polizeieinheiten, bevor sich die Polizei schließlich offen auf die Seite der MAS-Gegner*innen stellte. In Folge eskalierte die Gewalt – zum einen zwischen Demonstrant*innen unterschiedlicher Lager, zum anderen gegenüber Repräsentant*innen der MAS, ihren Wohnsitzen und Angehörigen. Am 10. November schließlich veröffentlichte die OAS das vorläufige Ergebnis ihres Audits und empfahl, die Wahl zu annullieren und zu wiederholen, das verfassungsmäßige Mandat von Präsident Morales aber zu respektieren. Morales willigte zunächst in Neuwahlen ein, sah schließlich aber keine andere Möglichkeit, als gemeinsam mit Vizepräsident García Linera den Rücktritt zu verkünden. Zuvor hatte u. a. der Oberbefehlshaber der bolivianischen Streitkräfte Morales öffentlich den Rücktritt nahegelegt. Einen Tag später verließen Morales und García Linera das Land, um in Mexiko um politisches Asyl zu bitten.

Chronik der wichtigsten Ereignisse rund um die Präsidentschaftswahlen 2019 in Bolivien CC BY 3.0, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Kontroversen: Wahlbetrug? Putsch?

Zwei Fragen bestimmen bis heute die Kontroverse um das vorzeitige Ende der Regierung Morales: Gab es Wahlbetrug? Gab es einen Putsch? Während in der polarisierten Debatte – in Bolivien wie international – die meisten Beobachter*innen eindeutige Antworten auf beide Fragen haben, ergibt der genauere Blick mehr Grau als Schwarz oder Weiß.

In der Frage des Wahlbetrugs stehen sich insbesondere der Audit-Bericht der OAS und die Analysen des US-amerikanischen Center for Economic and Policy Research (CEPR) gegenüber.[3] Während die OAS die Vorwürfe weitgehend bestätigt sieht, weisen die Berichte des CEPR diese in nicht minder deutlicher Form zurück. Eine vergleichende Analyse der diversen vorliegenden Studien (siehe grauer Kasten oben), die ich hier nur knapp zusammenfassen kann, ergibt folgendes Bild:

Erstens war der Wahlprozess durch eine Reihe ernster Probleme beeinträchtigt, die Einfallstore für Wahlbetrug boten. Dies betrifft sowohl die IT-Infrastruktur als auch den Schutz der physischen Wahlunterlagen vor Manipulationsversuchen. Einige Studien identifizieren zweitens Beweise für Irregularitäten, etwa in Gestalt modifizierter oder falsch addierter Wahlprotokolle. Inwieweit es hier um intentionale Fälschungen geht, lässt sich dabei aber nicht immer sagen. Zudem lässt sich anhand der vorliegenden Beispiele nicht abschätzen, wie umfangreich solche möglichen Manipulationen waren. Den Kern der Beweisführung bildet vor diesem Hintergrund drittens der Versuch, per statistischer Analyse zu klären, ob es nach der Aussetzung des TREP und/oder bei den letzten fünf Prozent der auszuzählenden Stimmen zu unerklärlichen Zusatzgewinnen für die MAS kam. Hier sind die Ergebnisse höchst umstritten, je nach Rechenmodell und spezifischer Methodik beträgt das potenzielle Ausmaß des Wahlbetrugs zwischen 0 und 2,7 Prozentpunkten.

In der Summe ist es durchaus plausibel, dass Manipulationen von entscheidender Bedeutung für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen waren – schließlich machten lediglich rund 35.000 Stimmen (0,57 Prozent) den Unterschied zwischen direktem Wahlsieg oder Stichwahl. Für einen massiven Wahlbetrug liefern die vorliegenden Analysen hingegen eindeutig keine Belege.

Mit Blick auf den erzwungenen Rücktritt von Evo Morales sprach die Führung der MAS von einem zivil-polizeilichen Putsch («un golpe cívico/policial»). Für zahlreiche internationale Beobachter*innen handelte es sich hingegen um einen Militärputsch, insofern die Entscheidung der Militärführung, den gewählten Präsidenten zum Rücktritt aufzufordern, diesem letztlich keine Alternative als Rücktritt ließ. Diejenigen, die den Übergang von Morales zu Áñez für im Kern demokratisch halten, betonen dagegen erstens, von einem Putsch könne keine Rede sein, da Morales – sei es durch den Wahlbetrug, sei es bereits durch seine umstrittene Kandidatur – jegliche demokratische Legitimation verloren habe. Dieses Argument steht quer zu gängigen Begriffsverwendungen, insofern auch der illegale und offene Sturz einer Regierung durch das Militär oder andere Machtgruppen innerhalb des Staates üblicherweise als Putsch gilt – unabhängig davon, ob die Regierung selbst demokratisch legitimiert war oder nicht. Deutlich gewichtiger ist das Gegenargument, dass nach dem Rücktritt von Morales, seinem Vizepräsidenten, der Präsident*innen beider Parlamentskammern sowie des ersten Vizepräsidenten des Senats das Amt des Staatschefs mit Jeanine Áñez verfassungsgemäß an die zweite Vizepräsidentin des Senats gegangen sei – ein Prozedere, das zwar unter Abwesenheit der Mehrheitsfraktion der MAS durchgeführt, aber vom Verfassungsgericht abgesegnet wurde. Insofern das Parlament in Folge nicht aufgelöst wurde, sondern Interimsregierung und MAS-Fraktion sich auf einen geordneten Weg zu Neuwahlen einigten, kann in der Tat nicht von einem offenen Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung die Rede sein.

Hinzu kommt, wie Fernando Molina betont hat, dass die einseitige Rede von einem Putsch ausblendet, dass die zentrale Ursache des Sturzes von Evo Morales weder das Verhalten der Polizei noch das des Militärs war, sondern die breite Mobilisierung der Bevölkerung, die sich an den umstrittenen Wahlen und der Frage des Wahlbetrugs entzündete. Zudem hatte nicht bloß die Armeeführung, sondern z. B. auch der MAS-nahe Chef des bolivianischen Gewerkschaftsverbands COB Morales den Rücktritt nahegelegt.[4]

In der Summe weist der Sturz von Evo Morales eindeutig putschähnliche Züge auf, ist aber zugleich durch den Begriff des Putsches nur unzureichend charakterisiert.

Perspektiven nach den Neuwahlen

Wenn die aktuellen Umfragen einigermaßen richtigliegen und die Wahlen am 18. Oktober tatsächlich stattfinden, dürften der MAS-Kandidat Luis Arce und Ex-Präsident Carlos Mesa in die Stichwahl um die Präsidentschaft einziehen. Der neue Präsident hieße dann voraussichtlich Carlos Mesa. Während allerdings Mesa im neuen Parlament sicherlich nicht über eine eigene Mehrheit verfügen wird, kann die MAS-Partei mit einer starken Fraktion rechnen, vermutlich gar mit der größten.

Angesichts der politischen Polarisierung, der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der noch sehr wachen Erinnerungen an die Krise vom Oktober und November 2019 bergen die Wahlen ein hohes Konfliktrisiko. Eine erste entscheidende Frage ist, ob die Wahlergebnisse so eindeutig ausfallen, dass es den unterlegenen Kräften schwerfällt, den Wahlprozess offen in Frage zu stellen. Mit Blick auf das Verhalten der Verlierer*innen ist zudem zweitens wichtig, wie sich der Wahlsiegende positioniert. So könnte ein möglicher Wahlsieger Mesa einerseits bewusst entpolarisierend darauf zielen, die jeweiligen moderaten Kräfte des MAS- und des Mitte-Rechts-Lagers einzubinden. Er könnte andererseits aber auch – sei es, um die Stichwahl zu gewinnen und/oder um sich entsprechende Unterstützung im Parlament zu sichern – auf die Bildung einer klaren Anti-MAS-Front setzen. Dies würde die Polarisierung weiter anheizen. Dies gilt auch und vermutlich noch deutlicher für den Fall eines (sich nicht abzeichnenden) Wahlsieges von Arce oder Áñez.

Mit Blick auf die Politik einer zukünftigen Regierung Mesa, Arce oder Áñez lässt sich unter den Bedingungen von Corona-Pandemie und Wirtschaftskrise nur begrenzt etwas sagen. Wirtschafts- und sozialpolitisch signalisiert der Präsidentschaftskandidat Mesa im Kern Kontinuität zur Regierung Morales, betont allerdings eine größere Rücksicht gegenüber ökologischen Belangen und indigenen Kollektivrechten. Rhetorisch bekennt sich allerdings auch die MAS zum Respekt vor Umwelt (madre tierra) und Indigenenrechten. In der Praxis dürfte es sowohl für eine Regierung Mesa als auch für eine Regierung Arce im Wesentlichen um muddling through gehen: um pragmatische Stabilisierung bei größtmöglicher Aufrechterhaltung des Status Quo. Dabei würde das von Mesa proklamierte Ziel einer «post-extraktivistischen» Transformation vermutlich – wie bereits unter Morales – im Bereich der Symbolpolitik verbleiben. In einer Regierung Mesa dürften allerdings wirtschaftsnahe und/oder wirtschaftsliberale Kräfte über größeren Einfluss verfügen als unter einem Präsidenten Arce. Dies gilt umso mehr für eine Siegerin Áñez, die ihren Unterstützer*innen unter den Wirtschaftseliten zumindest perspektivisch deutlichere Zugeständnisse schuldig wäre – und jedenfalls programmatisch ihre Agenda der Abwicklung des staatszentrierten Entwicklungsmodells der MAS-Regierung weiter verfolgen würde (Prioritätenverschiebung von öffentlichen zu privaten Investitionen, Abwicklung bzw. Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Förderung von internationalen Investitionen und Freihandelsbeziehungen). Sozialpolitisch dürfte sich selbst eine offen rechte Regierung davor hüten, die Leuchtturmprojekte der Regierung Morales (Sozialprogramme, Universalrente) abzuwickeln. Mit Blick auf die sozioökonomischen Erfolge der MAS-Jahre (deutliche Armutsreduktion und gradueller Rückgang der sozioökonomischen Ungleichheit), die durch die im Zuge der Corona-Pandemie massiv verschärfte Wirtschaftskrise ohnehin offen gefährdet sind, würde eine Rückkehr zu neoliberalen Rezepten aber sicherlich nichts Gutes bedeuten.

Eine zentrale Frage schließlich betrifft eine der vielleicht bedeutsamsten Errungenschaften des «proceso de cambio», die von den indigenen und sozialen Bewegungen Boliviens über Jahrzehnte erkämpft wurde: die politische Inkorporation der indigen geprägten Mehrheitsbevölkerung. Hierfür stehen insbesondere die Verfassung von 2009, die Bolivien als plurinationalen Staat mit vielfältigen demokratischen Partizipationsmöglichkeiten und umfassenden sozioökononomischen und indigenen (Kollektiv-)Rechten anerkennt, sowie die faktische Präsenz sozioökonomisch unterprivilegierter und/oder ethnisch diskriminierter Bevölkerungsgruppen in allen staatlichen Institutionen und auf allen Ebenen des Staatsapparats. Wie die zahlreichen Konflikte der Morales-Regierung mit indigenen Gruppen, die sich gegen ihren extraktivistischen Kurs wandten, gezeigt haben, ist die MAS alles andere als eine unproblematische Sachwalterin indigener Rechte. Gleichzeitig macht das knappe Jahr seit dem Ende der MAS-Regierung aber deutlich, wie schnell und massiv offen rassistische Diskurse und Praktiken wieder aufleben können.


[1] Siehe hierzu ausführlich: International Human Rights Clinic/University Network for Human Rights, «They Shot Us Like Animals»: Black November & Bolivia’s Interim Government.

[2] Encuesta: Arce y Mesa empatan con el 23% y Añez obtiene 12%, in: Página Siete, 18. August 2020.

[4] Molina, Fernando: Bolivia: ¿Golpe o (Contra)Revolución?, in: Nueva Sociedad, November 2019.